Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Der erste Versuch.

Wenige Schritte hatten Gregor und Marianne auf der Veranda zurückgelegt, als Slowfield ihnen aus der Haustür entgegentrat und sie mit ernst verbindlichem Wesen aufforderte, sich in die Halle zu begeben, wo ein einfaches Mahl angerichtet sei. Da Gregor die gebotene Gastfreundschaft stolz ablehnte, fuhr er mit einem argwöhnischen Seitenblick auf Marianne fort: »Ich rechnete auf mehr Gäste, nach den Andeutungen, die mir durch Ihr Schreiben zugingen. Aber wie Sie sich verändert haben; ich könnte Ihnen hundertmal begegnet sein, ohne Sie wiederzuerkennen,«

Gregor zuckte die Achseln und erwiderte kalt: »Ich hätte Sie hundertmal erkennen mögen, ohne Sie nur einmal zu beachten,« und Bestürzung in Slowfields Zügen entdeckend, fügte er gleichmütig hinzu: »Verlieren wir indessen keine Zeit mit Reden, zumal diese am wenigsten unsere wahren Gesinnungen offenbaren. Gäste dürften übrigens vielleicht mehr erscheinen, als Ihnen willkommen sind, wenn nicht eine schleunige Einigung zwischen Miß Sarah Melville und uns bewirkt wird,« und Marianne höflich führend, trat er durch die Haustür, wo er sofort die Richtung nach Miß Sarahs Gemächern einschlug.

Slowfield, von Wut und den bösesten Ahnungen erfüllt, folgte ihnen auf dem Fuße nach. Die Tür zu Miß Sarahs Wohnzimmer stand offen. Als Gregor und Marianne über die Schwelle schritten, fiel ihr erster Blick auf Miß Sarah, die sich von ihrem Sitz neben dem Fenster erhoben hatte und ihnen eine kurze Strecke entgegen gegangen war. Sie prangte in einem gewählten seidenen Anzuge, der, obschon verblichen, von entschwundenem Glanz zeugte. Dem verblichenen Glanz entsprach ihre hochmütige Haltung; herbe Entschlossenheit prägte sich auf ihren scharfen Zügen aus.

»Ich kann niemand willkommen heißen,« sprach sie mit ihrem eigentümlich metallenen Organ auf die ehrerbietige Verneigung Gregors und Mariannes, und vergeblich harrte sie darauf, daß diese ihr die Hände entgegenstrecken würden, »nein, niemand, denn ich befinde mich selber hier nur als Gast meines verstorbenen Bruders. Im übrigen freue ich mich, Marianne, dich nach deiner langen Verborgenheit einmal wiederzusehen. Ich vergaß nie, daß du wenigstens eine Zeitlang eine echte Melville repräsentiertest.«

»Mein Name ist Stocton,« antwortete Marianne entschlossen, und einer einladenden Handbewegung ihrer Tante Folge gebend, nahm sie auf dem nächsten Stuhle Platz, welchem Beispiel Gregor ohne Säumen folgte, »ich bin stolz auf diesen Namen, und vergaß ich das je in heilloser Verblendung, so habe ich bitter dafür leiden müssen, es ebenso bitter bereut.«

»Wenn die Gerüchte, die bis in meine Einsamkeit drangen, nicht logen, so bist du wieder mit deinem Gatten vereint?« fragte Miß Sarah in tödlicher Spannung, und im Ton wie in ihren Zügen offenbarte sich ein Ausdruck, der es Marianne erleichterte, die bestehenden verwandtschaftlichen Beziehungen zu vergessen.

»Gott sei Dank,« hieß es mit bebenden Lippen zurück, »und meine einzige Lebensaufgabe ist jetzt nur noch, durch treue Pflege das zu sühnen, was ich vermessen an Charles und dadurch an unseren Kindern verbrach.«

Miß Sarahs Wangen röteten sich matt, indem sie scheinbar teilnahmlos erklärte: »So, so! Nun, das sind christliche Grundsätze.« Und zu Slowfield gewendet, der entsetzt seinen Sinnen nicht zu trauen schien: »Bitte, nehmen Sie Platz. Nach den mir gewordenen Mitteilungen glaube ich voraussetzen zu dürfen, daß die Herrschaften irgendwelche diese Plantage betreffende Fragen in Beratung zu ziehen wünschen, da möchte ich Ihres Beistandes nicht entbehren.«

Nunmehr erst ergriff Gregor das Wort, und Slowfields Erwiderung zuvorkommend, wendete er sich an Miß Sarah: »Nicht Beratung, verehrte Tante, es ist vielmehr meine Absicht, eine zwischen Ihnen und Slowfield als des verstorbenen Kolonel Bevollmächtigten einerseits, und Marianne und Gilbert als dessen Erben andererseits schwebende Angelegenheit zu einem endgültigen Abschluß zu bringen. Kann dies mit wenigen Worten geschehen, so ist es für alle Beteiligte um so erfreulicher. Wir würden dadurch viel Zeit und Mühe sparen; außerdem aber geriete ich in die Lage, hinter uns liegende peinliche Ereignisse nicht unberührt zu lassen, zum Beispiel die Ränke eines gewissen Doktor Hawkins« – und er warf Slowfield einen eisigen, ihn bis ins Mark hinein erkältenden Blick zu – »ist aber erst eine Einigung über den fraglichen Punkt erfolgt, so dürfte es an Ihnen sein, Mr. Slowfield, Rechenschaft über die Verwaltung von Geldern abzulegen, über die zugunsten der Erben des Kolonel Melville zu verfügen Sie ein gewisses Recht besaßen.«

»Zu jeder Stunde bin ich bereit,« antwortete Slowfield lebhaft, als hätte er die unheimliche Erwähnung Hawkins' nicht verstanden gehabt. »Die ganze Angelegenheit liegt übrigens ziemlich einfach. Die Summen, die ich auf Umwegen von einem Bankhause in der Havanna bezog, sind gebucht und für jede ist von den Empfängern eine Quittung ausgestellt und durch mich in gleicher Weise dem Bankhause übermittelt worden.«

»Übereilen wir uns nicht,« versetzte Gregor, »zunächst handelt es sich darum, die Höhe des von dem Kolonel in der Havanna niedergelegten Vermögens kennen zu lernen, dann aber den Namen der Firma selbst, um mit ihr in unmittelbaren Verkehr zu treten.«

»Ich bedaure, nicht in der Lage zu sein, Ihrem Wunsche genügen zu können,« erwiderte. Slowfield, nunmehr wieder im Vollbesitz seiner ränkevollen Überlegung, »weshalb der Kolonel so geheimnisvoll mit dieser Angelegenheit verfuhr, ahne ich nicht; dagegen steht außer Zweifel, daß die Zahlungen durch die betreffende Behörde in der Havanna als Mittelsperson geleistet wurden, ich daher auch an diese die Quittungen einzusenden hatte.«

»Ganz recht,« gab Gregor zu, »der Kolonel hatte seine triftigen Gründe, bei Ausbruch des Sezessionskrieges über manche seiner Anordnungen Geheimnis walten zu lassen. Es lag indessen unzweifelhaft nicht in seiner Absicht, dieses Geheimnis eine bestimmte Frist überdauern zu lassen. Unstreitig wäre uns schon vor Jahren ein sicherer Anhaltspunkt zu einem bestimmten Vorgehen geboten worden, hätte der Tod ihn nicht verfrüht auf dem Schlachtfelde ereilt. Unsere Aufgabe ist es daher, zunächst Klarheit in die Sachlage zu bringen. Ist die erfüllt, so ordnet das weitere sich von selbst. Ihnen beiden ist nicht fremd, daß Gilbert und Marianne im Besitz gleichlautender Schriftstücke sind, welche sich zuverlässig auf die Vermögensverhältnisse des verstorbenen Kolonels beziehen. Dieselben sind in Chiffreschrift abgefaßt und gewinnen daher erst dann Wert, nachdem der Schlüssel zu derselben aufgefunden worden. Und mehr noch: es läßt sich voraussetzen, daß auch dann erst das rätselhafte Verfahren des Kolonels zusammen mit seinem letzten Willen verständlichen Ausdruck erhält.«

»Die Gründe, die meinen Bruder in seinem Tun bestimmten, sind nicht schwer zu erraten,« erklärte Miß Sarah hochfahrend, und sie suchte in Slowfields Augen nach einem Zeichen der Billigung, »soviel ich weiß, ging er davon aus, nur denjenigen seiner Nachkommen das gerettete Vermögen zugänglich zu machen, die mit vollem Patriotismus zu seinen Grundsätzen sich bekannten, also dir, Marianne, und deinem Bruder Gilbert, der, wie du gewiß lange vor mir wußtest, gerettet worden ist. Zugleich wünschte er dadurch der Möglichkeit vorzubeugen, daß im Falle eures Todes der überlebende Gatte oder die überlebende Gattin als gesetzliche Erben das Geld flüssig machten und zugunsten der nördlichen Gewalthaber verwendeten.«

Slowfield neigte sein Haupt billigend, und Gregor, der so lange aufmerksam gelauscht hatte, begann ohne Verzug: »Diese Erklärung mag viel Wahres enthalten, fällt aber jetzt noch nicht ins Gewicht. In erster Reihe steht unsere Aufgabe, die Lösung der rätselhaften Schriftstücke anzustreben, und das geschieht verhältnismäßig leicht, wenn Sie, verehrte Tante, mir den Schlüssel anvertrauen.«

»Ich?« fragte Miß Sarah mit erkünsteltem Erstaunen.

»Ich wiederhole: Sie allein,« bestätigte Gregor geschäftsmäßig. »Mir ist nämlich nicht fremd, daß' zu derselben Zeit, zu der die beiden Schriftstücke an die Geschwister abgeschickt wurden, der Schlüssel in Ihre Verwahrung überging, wahrscheinlich mit dem Auftrage, unter bestimmten Bedingungen und an einem bestimmten Termin Marianne wie Gilbert die Lösung zu ermöglichen.«

Bei diesen Worten breitete sich über Miß Sarahs Antlitz ein eigentümlicher Ausdruck boshafter Schadenfreude aus, und Gregor mit wahren Basiliskenblicken anschauend, entgegnete sie: »Wohlan denn, ich besitze in der Tat den Schlüssel, bin aber nicht willens, aus den Händen zu geben, was mir einst unter ernsten Bedingungen anvertraut wurde.« Sie lachte gehässig und fügte hinzu: »Was würdest du antworten, wenn ich dich aufforderte, mir eins der beiden Schriftstücke auszuliefern?«

»Ich würde erklären, sie seien Eigentum Mariannes und Gilberts und ihnen nicht zugefertigt, um sie an andere abzutreten. Der Schlüssel gehört dagegen zu ihnen, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn er Ihnen nicht unter der Bedingung anvertraut worden, ihn für die berechtigten Erben stets in Bereitschaft zu halten.«

»Ja, Tante Sarah,« glaubte Marianne nunmehr Gregor zu Hilfe kommen zu dürfen, »ich bitte dich um den Schlüssel. Er ist ein mir gebührendes, oder vielmehr meinen Kindern rechtlich gebührendes Gut, denn ich selbst befinde mich in der Lage, die jedes Haschen nach Geld und Geldeswert ausschließt.«

»Du übersiehst nur eins,« erwiderte Miß Sarah spöttisch, »nämlich, daß dein Vater zu Mr. Slowfield und mir höheres Vertrauen besaß, als zu seinen Kindern, die mehr oder minder unter dem Einfluß ihrer aus feindlichen Landesteilen stammenden Ehepartner standen.«

»Es ruft fast den Eindruck hervor, verehrte Tante, als hätten Sie die letzten fünfzehn Jahre verträumt,« bemerkte Gregor streng, »Sie könnten sonst unmöglich auf verschollene Zeiten sich berufen.«

Wie eine gereizte Schlange fuhr Miß Sarah empor, und gleichsam zischend entwand sich ihren schmalen Lippen: »Vergiß nicht, wem du gegenüberstehst, daß ich ein Recht besitze, zum wenigsten hier in meiner Wohnung ehrerbietiges Benehmen zu verlangen.«

»Ein Gebot, gegen das ich nie verstoßen werde,« versetzte Gregor gelassen, »das darf mich indessen nicht hindern, den Zweck, der uns zusammenführte, unbeirrt im Auge zu behalten. Und so erlaube ich mir, abermals höflich zu fragen, ob Sie mir oder Marianne den bewußten Schlüssel anvertrauen wollen oder nicht?«

»Nun und nimmermehr,« erklärte Miß Sarah entschieden, und wie ihre Worte dadurch bekräftigend, trommelte sie mit den hageren Fingern der rechten Hand auf das neben ihr stehende Nähtischchen.

»Gut,« sprach Gregor, »so mag das vorläufig ruhen. Vielleicht werden Sie anderen Sinnes, wenn Sie die Möglichkeit erwägen, daß in den rätselhaften Schriftstücken Bestimmungen enthalten, die Ihnen selbst einen freundlicheren Lebensabend zusprechen. So gestatten Sie vielleicht, daß jetzt, nachdem meine ernsten Andeutungen kein Verständnis gefunden, meine ehrlichen Bemühungen sich als fruchtlos erwiesen haben, diejenigen herbeizurufen, die bei den ferneren Verhandlungen wahrscheinlich mehr Einfluß auf Ihre Entschließungen ausüben.«

»Tue nach Belieben,« antwortete Miß Sarah, ihr Antlitz hochmütig abkehrend, »überschätze indessen nicht die Wirkung deiner theatralischen Vorbereitungen. Wir sind nicht im Zirkus, wo Flitterkram und Luftsprünge den Grad des Beifalls bestimmen.«

»Und dennoch wie im Zirkus,« wendete Gregor lächelnd ein, »denn auch dort bevorzugt man Schaustellungen, die gerade durch überraschende Wendungen wirken. Und an Überraschungen, die ich aus Achtung vor der Schwester meines Wohltäters lieber vermieden hätte, wird es heut nicht fehlen,« und sich höflich verneigend, schritt er aus dem Zimmer. –

Während Gregor sich nach dem Baldachin begab, wurden unter den Zurückbleibenden nur kurze, eintönige Bemerkungen gewechselt. Mariannes Versuche, durch freundliche Vorstellungen ihre Tante milder zu stimmen, schnitt diese dadurch ab, daß sie klanglos nach deren Kindern sich erkundigte. Infolgedessen vermochte Marianne, gleichsam eisig angeweht, ebenfalls nur ablehnend zu antworten. Slowfield beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Wohl trug er eine sorglose Miene zur Schau, allein in den Blicken, die er zuweilen verstohlen zu Marianne hinübersandte, verriet sich, daß er von deren zagender Aufrichtigkeit ebensoviel fürchtete, wie von Gregors rücksichtsloser Entschiedenheit. Gern hätte er zu einem Vergleich geraten, zu dem Gregor und Marianne unzweideutig hinneigten, gern hätte er Miß Sarah beschworen, die Gegensätze nicht bis auf den Gipfel gelangen zu lassen, allein wie auf der einen Seite Mariannes Anwesenheit seiner Zunge Fesseln anlegte, bezweifelte er auf der anderen nicht, daß alle seine Vorstellungen an Miß Sarahs starrem Willen scheitern würden. Sie war eben eine Melville, und von ihr wußte er, daß sie, obwohl in manchen Beziehungen sein Werkzeug, nie den Eingebungen des Eigennutzes folgte. Ihre Entscheidungen waren ausschließlich von unversöhnlichem Haß abhängig.

Schritte, die von der Veranda durch das offene Fenster hereintönten, waren Ursache, daß die Blicke der drei schweigsamen Gestalten sich mit beinah atemloser Spannung auf die Tür hefteten.

Stocton erschien zuerst. Ihm folgte Frank auf dem Fuße, und an diesen schlossen Gregor und der fremde Herr sich an. Slowfield hatte sich erhoben und verneigte sich leicht. Ähnlich grüßten die Eintretenden. Diesen entging nicht, daß er die Farbe wechselte und, wie sich vor Schwanken bewahrend, beide Hände auf die nächste Stuhllehne stützte. Obwohl auf Stoctons Erscheinen einigermaßen vorbereitet, verriet jeder Zug seines gelblich-fahlen Gesichtes tödliches Erschrecken. Wie gebannt hingen seine Augen an dem vernarbten Antlitz, das er so viele Jahre hindurch im Tode erstarrt wähnte. Nicht minder war Miß Sarah einem sie fast überwältigenden Entsetzen unterworfen, als sie den Pedlar wiedererkannte, denselben Mann, der schon einmal wie ein der Erde entstiegenes Gespenst mit unheimlichen Andeutungen vor sie hingetreten war.

Wenige Sekunden dauerte nach dem Eintreten der drei Herren das Schweigen; nur so lange, bis Gregor eine kurze Vorstellung folgen ließ, wodurch die allgemeine Aufmerksamkeit vorübergehend in Anspruch genommen wurde. Als er Stoctons Namen nannte, erschütterte flüchtiges Zittern Miß Sarahs Gestalt.

»Mr. Stuart, Prokurist des Bankhauses Romero in der Havanna,« hatte Gregor den fremden Herrn vorgestellt, und wie Miß Sarah auf Stocton, so starrte Slowfield auf jenen. Er hatte ihn weder jemals gesehen, noch seinen oder der von ihm vertretenen Firma Namen gehört, und doch rief es den Eindruck hervor, als hätte seine Erscheinung die Wirkung eines Gorgonenhauptes auf ihn ausgeübt. In den beiden Worten: »Havanna« und »Bankhaus« lag für ihn eine furchtbare Drohung, lag der Beweis, mit wie viel Geduld und Scharfsinn Gregor aus allen Richtungen Hilfsmittel herbeizuziehen verstanden hatte, um die an ihn und Miß Sarah gestellten Forderungen zu verschärfen. Weit fort wünschte er sich angesichts des heraufziehenden Ungewitters, weit fort von seinem erbarmungslosen Gegner wie von Miß Sarah, auf deren Beistand er nach dem ersten Blick nicht länger glaubte zählen zu dürfen. Weit fort, und doch mußte er ausharren, um nicht den letzten Hoffnungsschimmer, schließlich dennoch gerechtfertigt aus den auf ihn hereinbrechenden Anklagen hervorzugehen, dahinsinken zu sehen.

»Und hier, verehrte Tante,« nahm Gregor nach einer kurzen Pause das bedachtsam eingeleitete Verfahren wieder auf, »habe ich die Ehre, Ihnen Frank Stocton, den Sohn Mariannes, vorzustellen, in ihm zugleich des fern weilenden Gilbert Bevollmächtigten. Frank, du stehst hier vor der Schwester deines verstorbenen Großvaters.«

Frank, gespannt überwacht von seinen Eltern, die von seiner Erscheinung einen günstigen Eindruck auf Miß Sarah erwarteten, verneigte sich höflich. Miß Sarah dagegen, als hätte Gregors Stimme eine feindselig belebende Kraft in sich geborgen, richtete sich hastig empor, und wenn kurz zuvor wirklich mildere Regungen in ihr erwachten, so verriet sie jetzt durch Haltung wie durch Miene, daß auf irgendein Nachgeben oder Entgegenkommen von ihrer Seite nicht mehr zu hoffen sei. Mit einem frostigen Blick maß sie Franks schlanke Gestalt. Mochte seine Erscheinung freundlich bestechend wirken: für sie war er der Sohn Stoctons, des Verräters, des abtrünnigen Mitgliedes der Familie der Melvilles, der nunmehr auch noch Marianne, die einst so stolze Vorkämpferin ihrer eigenen Grundsätze, zu sich herübergezogen hatte.

»Recht hübsch,« bemerkte sie eintönig, »du dienst ebenfalls in der Armee, aus deren Reihen dein Großvater den Tod empfing? Doch darüber wirst du keinen klaren Begriff haben. Ob ich dir die Hand reiche, hängt davon ab, wie wir uns heut miteinander stellen.«

Frank, über das zu beobachtende Verfahren genau unterrichtet, antwortete ehrerbietig, jedoch fest: »Die Hand, die mir einmal verweigert wurde, und wäre es die der Schwester meines Großvaters, darf ich nie wieder suchen.«

Gregor wartete, bis alle Platz genommen hatten, und ohne durch das leiseste Merkmal Verdruß oder Empfindlichkeit zu verraten, hob er an: »Wir dürfen uns jetzt als vollzählig versammelt betrachten. Wer fehlt, besitzt hier seinen Vertreter. Leite ich gewissermaßen als Wortführer die Verhandlungen, so begründet sich das auf die ziemlich genaue Kenntnis der Sachlage, die mir anzueignen ich weder Mühe noch Zeit scheute. Unsere erste Aufgabe muß sein, einen Weg zur Einigung anzubahnen. Ist das gelungen, so wird das weitere, namentlich der gerichtlich zu vollziehende geschäftliche Teil, später sehr schnell erledigt.«

Da von keiner Seite Einwendungen erhoben wurden, fuhr er nach kurzer Pause fort: »Melvillehouse, der alte Stammsitz der Melvilles, käme also zunächst in Frage. Ihm einen bestimmten Herrn zu geben und dadurch dem fortschreitenden Verfall Einhalt zu tun, erreichen wir meines Erachtens auf einfachstem Wege, wenn einer der beiden Erben oder eins von deren Kindern den Besitz der Plantage antritt, und zwar unter der Bedingung, daß er in erster Reihe mit den Gläubigern sich abfindet und dann erst mit den Miterben sich auseinandersetzt.«

»Nach voller Befriedigung der Gläubiger dürften die Liegenschaften weit über ihren Wert bezahlt sein,« warf Slowfield im Tone der Überlegenheit ein.

»Um so besser,« versetzte Gregor sorglos, »dadurch wird die Auseinandersetzung der Erben überflüssig. Sie, Mr. Slowfield, sind am höchsten an den Forderungen beteiligt?«

»Am höchsten,« gab dieser zu, »um den Stammsitz der Melvilles nicht gänzlich für die Familie verloren gehen zu lassen, befriedigte ich pietätvoll zahlreiche kleinere Gläubiger.«

»In vollem Umfange ihrer Forderungen?«

»Natürlich unter Anrechnung des Risikos.«

»So? Hm. Also immer noch kein schlechtes Geschäft. Doch wie hoch beläuft sich die ganze Summe?«

»Auf etwa hundertundvierzigtausend Dollars.«

»Gut,« versetzte Gregor sorglos, und zum ersten Male zuckte es auf seinem Antlitz wie verhaltener Spott, »so werden Sie heute vollständig befriedigt und abgefunden werden und damit fernerhin der Mühe des Mitsprechens in dieser Angelegenheit überhoben sein.« Er zögerte einige Sekunden, sich werdend an dem Ausdruck ängstlichen Erstaunens, das sich in Slowfields Zügen ausprägte, und in seiner ernsten, beinahe düsteren Weise fuhr er fort: »Bevor eine endgültige Entscheidung über den Besitz der Plantage getroffen werden kann, ist es notwendig, den Umfang der flüssigen Mittel kennen zu lernen, die der Kolonel bei Ausbruch des Krieges im Auslande unterbrachte. Über deren Höhe sind wir im Unklaren, weil der Kolonel, gleichviel, ob in Vorahnung seines Todes, oder weil er bei den von den Südstaaten geforderten Opfern seiner eigenen Festigkeit nicht traute und in kriegerischer Begeisterung das letzte hinzugeben fürchtete, seine Verfügungen in einer nur ihm allein verständlichen Zahlenschrift niederlegte. Merkwürdigerweise waren auch die Herren des Bankhauses in der Havanna nicht fähig, die Schrift zu übersetzen, oder es wären nähere Aufschlüsse von ihnen zu erwarten gewesen. Dagegen war ihnen unzweideutig und in aller Form des Rechtes aufgegeben worden, nur dann das Vermögen auszuhändigen, wenn eins der beiden gleichlautenden rätselhaften Schriftstücke oder beide zusammen in Begleitung der Übersetzung, selbstverständlich auch des Schlüssels, ihnen vorgelegt werden würde. Dadurch hätten zugleich die Erben sich legitimiert. Des weiteren ist aus einzelnen Vorgängen zu entnehmen, daß das Bankhaus nicht behindert gewesen, bis zu dem erwähnten Zeitpunkt den Erben die Zinsen zugute kommen zu lassen. In kluger Voraussicht war die Behörde in der Havanna als Mittelsperson gewählt worden, und diese zahlt die fälligen Zinsen, soweit sie beansprucht wurden, zum Zweck der Verteilung an den von dem Kolonel bestätigten Bevollmächtigten.«

»Und pünktlich erfolgte die Verteilung, soweit Gilbert Melville und Miß Sarah Melville ihre Ansprüche geltend machten,« erklärte Slowfield. »Mrs. Marianne Stocton wies dagegen selbst in bedrängter Lage jede Unterstützung zurück.«

»Wollen Sie den Grund dafür angeben?« fragte Kapitän Stocton, nachdem er mit Marianne einen Blick des Einverständnisses gewechselt hatte.

»Ich wüßte keinen anderen, als daß es ihr widerstrebte, Geld anzunehmen, das sie als den Kaufpreis für die Trennung von ihrem Gatten betrachtete,« antwortete Slowfield besonnen.

»Unter welcher Form eröffneten Sie vor meiner Frau die Aussicht nicht allein auf die Zinsen, sondern auch auf den ihr gebührenden Teil des nur unter Beihilfe der Miß Sarah Melville zugänglichen Vermögens?« forschte der Kapitän weiter.

»In ehrenhafter Form,« räumte Slowfield mit großer Geistesgegenwart ein, »und ich dächte, es gereicht niemand zum Vorwurf, wenn er als unbescholtener Mann eine Witwe, und dafür galt Mrs. Stocton seit Jahren, um ihre Hand bittet.«

»Als unbescholtener Mann,« hob Stocton tief erregt an, als Marianne ihn durch einen Händedruck mahnte, nicht zu weit zu gehen. Er beschränkte sich daher auf die Bemerkung: »Sie sehen, wohin die Erfüllung Ihres damaligen Vorschlages geführt hätte,« und sich Gregor zukehrend, gab er diesem zu verstehen, daß damit der Zwischenfall vorläufig erledigt sei.

Gregor warf einen forschenden Blick auf Miß Sarah, die wie versteinert in hochmütiger Haltung verharrte, und begann »Aus allem bisher Gesagten ergibt sich, daß der Kolonel nach jeder Richtung hin mit äußerster Vorsicht zu Werke ging. Als wohldurchdachte Sicherheitsmaßregel bezeichne ich auch, daß er Marianne und Gilbert nur die Dokumente einhändigte, den Schlüssel dagegen seiner Schwester anvertraute, dieser zugleich anheimgebend, zu geeigneter Zeit in Gemeinschaft mit seinen Kindern die Entzifferung vorzunehmen –«

»Die Vorschriften meines Bruders lauten anders,« warf Miß Sarah mit ihrem metallenen Organ ein, »er trug mir auf, darüber zu wachen, daß kein Nördlicher die Hand nach dem Gelde ausstrecke. Dabei schwebte ihm unstreitig die mögliche Wiedervereinigung der Gatten vor. Was er aber dachte und empfand, ist mir heilig geblieben bis auf den heutigen Tag.«

»Die Enträtselung der Schriftstücke liefert vielleicht ein anderes Ergebnis,« meinte Gregor kaltblütig, »ich bitte daher noch einmal dringend um den Schlüssel.«

Zu einem feindseligen Lächeln spitzten Miß Sarahs Züge sich zu.

»Wenn ich mich wirklich zur Herausgabe des Schlüssels zu den Dokumenten verstände und dadurch die entsprechenden Mittel verfügbar würden, wer ist es, der dann Besitz von der Plantage ergriffe?« fragte sie schneidend.

»Ich verzichte im Namen Gilberts darauf,« erklärte Frank, »er ist nicht in der Lage, eine neue Last auf seine Schultern nehmen zu können.«

»So bliebe nur Marianne oder vielmehr Stocton,« fuhr Miß Sarah heftig auf.

»Stocton und Marianne,« bestätigte Gregor. Mißtönend lachte Miß Sarah.

»Stocton?« rief sie aus, und boshaft streifte ihr Blick die beiden Gatten, die traurig, wie die Zerrissenheit der Familie beklagend, auf sie hinsahen. »Stocton?« wiederholte sie beinahe gellend, »nein, nimmermehr soll dieser Name im Verein mit dem ehrwürdigen Stammsitz der Melvilles genannt werden!«

Sie sprang empor und trat in fliegender Hast vor ihre Kommode hin. Mit derselben Heftigkeit riß sie die oberste Schublade auf. Eine, Weile tastete und suchte sie in derselben dann hob sie einen unscheinbaren Papierstreifen empor, und eine Mänade hätte nicht gehässiger dareinschauen können, als sie, indem sie hohnlachend ausrief: »Ja, ich will mich gegen jede Versuchung schützen, mich stählen gegen lächerliche sentimentale Anwandlungen – da – hier ist der Schlüssel!« Und mit einer Schnelligkeit, daß man kaum den Bewegungen ihrer Hände zu folgen vermochte, zerriß sie das Papier in die kleinsten Teilchen. »Da – hier habt Ihr den Schlüssel,« fügte sie giftig hinzu, »nun deutet und übersetzt nach Belieben!« und davon schleuderte sie die winzigen Schnitzel, daß sie wie Schneeflocken umherwirbelten.

Mit einem Ausdruck wilden Triumphes begab sie sich auf ihren Platz zurück. Boshafte Schadenfreude leuchtete förmlich aus ihren Augen, indem sie die Blicke im Kreise schweifen ließ. Nur in dem bleichen Antlitz Slowfields entdeckte sie verhaltene Wut und bittere Enttäuschung. Die übrigen Anwesenden bewahrten dagegen ihre bisherige Ruhe.

»Beruhigen Sie sich,« kehrte Gregor sich zunächst Slowfield zu, und der aufmerksamste Beobachter wäre nicht imstande gewesen, auch nur einen Anflug von Spott im Tone seiner Stimme zu entdecken, »Sie verlieren durch die Vernichtung des Schlüssels nichts. Bis auf den letzten Zent sollen Ihre gerechten Ansprüche befriedigt werden, ohne daß Sie deshalb eine Einigung mit den anderen Gläubigern anzustreben brauchen.« Dann zu Miß Sarah: »Durch die Vernichtung des geheimnisvollen Alphabets haben Sie mich des einzigen Mittels beraubt, diejenige Schonung walten zu lassen, wie eine solche ursprünglich in meinem wie der übrigen Verwandten Plan lag.«

Er ließ eine kurze Pause eintreten, um seine Gegnerin, die nunmehr verstört dareinschaute, Zeit zu gönnen, die Bedeutung des eben Vernommenen zu prüfen, und mit tiefem, an Wehmut streifendem Ernst hob er wieder an: »Als Edith, die engelgleiche Gattin Gilberts und die Mutter seines kleinen Töchterchens, ihr Ende nahen fühlte oder vielmehr dasselbe ahnte, setzte sie mich nicht nur als Erben ihres Kindes ein, sondern auch als den Vollstrecker ihres letzten Willens. Zugleich übergab sie mir mancherlei Papiere und eine Anzahl Briefe, aus denen ich vieles erfuhr, was von Angesicht zu Angesicht mir anzuvertrauen der Tod sie hinderte. Von den beiden rätselhaften Schriftstücken, welche Marianne und Gilbert aus des Kolonels Händen empfingen, wußte sie ebensowenig, wie ich. Nur etwas befand sich in ihrem Besitz, was, wenn auch unverständlich, an dieselben erinnerte.

Kurz bevor sie auf Anstiften derjenigen, die sie hätten schützen sollen, als Landesverräterin verwiesen und verstoßen wurde, erhielt sie einen Brief von dem Kolonel. Die Handschrift nach flüchtigem Hinblick erkennend, öffnete sie denselben, ahnungslos, daß bei dessen Einhändigung ein in jenen Zeiten sich häufig wiederholender Irrtum begangen worden war, also nicht Mrs. Melville die Empfängerin sein sollte, sondern Miß Melville. Erst als sie den Inhalt zu lesen begann, entdeckte sie den Mißgriff, der um so verzeihlicher, weil durch ihren vorübergehenden Aufenthalt hier auf der Plantage die beiderseitigen Adressen bis auf zwei oder drei Buchstaben sich nicht voneinander unterschieden. Der Brief enthielt nur wenige Zeilen, so daß sie deren Inhalt gleichsam mit einem einzigen Blick in sich aufnahm. Da hieß es: ›Beiliegend das Angekündigte. Verwerte es zu seiner Zeit in der bewußten Weise zu Mariannes und Gilberts Bestem. In großer Eile.‹ Das war alles. Außerdem hatte er zwei Blätter beigefügt, die, gleichlautend, einen von dem Kolonel angefertigten Schlüssel zur Lösung einer Chiffreschrift enthielten.

Edith, wähnend, daß das eine Blatt ihrem Manne zugedacht sei, zugleich für dessen Sicherheit fürchtend, wenn es in andere Hände fallen sollte – und die Familienzwistigkeiten und Anfeindungen hatten ja bereits begonnen – entschloß sich nach längerem Schwanken, das vermeintliche Eigentum Gilberts in ihre eigene Obhut zu nehmen. Der Fehler, den sie damit beging, ist gewiß verzeihlich; heute aber, nach dem, was wir eben beobachteten, nenne ich ihn eine glückliche Fügung des Geschicks. Sorgfältig schloß sie den nur noch mit einem Blatt versehenen Brief wieder. Es gelang um so leichter, weil der Kolonel, wahrscheinlich durch kriegerische Ereignisse gedrängt und in Ermangelung eines besonderen Umschlages, die eine Hälfte des Bogens durch künstliches Falten als Umschlag benutzt hatte. Durch Erneuerung des Siegels wurde die Täuschung vollständig verheimlicht, und Sie, verehrte Tante Sarah, hatten ja keine Ursache, beim darauf folgenden Empfang sich viel mit der Außenseite des Briefes zu beschäftigen; und das Wort: ›Einliegendes‹ konnte sich ebensogut auf ein Blatt, wie auf ein volles Dutzend beziehen.

Bis zur letzten Minute hoffte ich, daß meine gerechte Forderung anerkannt werden würde. Es ist nicht geschehen, und ich muß zum letzten Hilfsmittel greifen.« Er zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und fuhr fort: »Hier ist die Übersetzung der beiden Dokumente, ohne Schwierigkeit angefertigt nach dem durch Edith geretteten Schlüssel. Deren Prüfung stelle ich nach Verlesung jedem anheim. Sie lautet übrigens, daß keiner vor derselben zurückzuschrecken braucht. Im Gegenteil: jedes Wort atmet Liebe und Versöhnung, treue Fürsorge für alle Hinterbliebenen.«

Er schlug das Papier auseinander, und da niemand Einwendungen erhob, las er vor:

»Der Krieg gewinnt an Umfang und Erbitterung. Er kann nur noch mit dem Untergange des einen Gegners enden. Unterliegt der Süden, so sind alle Opfer, die der einzelne seinem Vaterlande brachte, verloren. Ich sehe die Zeit kommen, in der meine Plantage so weit mit Schulden belastet sein wird, daß kein Stein der Gebäude, kein Halm auf den Feldern mehr mein Eigentum ist. Melvillehouse bildet mein eigenes Vermögen. Außerdem besitze ich an barem Gelde alles, was meine verstorbene Frau mir einbrachte, und das ist unantastbar. Stände ich allein, so würde ich auch das auf den Altar des Südbundes niederlegen. Aber ich besitze Kinder, von denen ich nicht weiß, ob sie den Krieg überleben, ob sie verkrüppelt oder siech aus ihm hervorgehen; und meine Tochter Marianne mit ihrem männlich starken Herzen ist ja denselben Gefahren ausgesetzt, wie Du, mein Sohn Gilbert. Ich will daher Euer mütterliches Vermögen für Euch retten. In edler patriotischer Begeisterung habt Ihr Euch von Eurem Liebsten getrennt. Ich billigte es, mußte es billigen, wenn auch nur, um die Schwachherzigen durch Euer Beispiel zu ermutigen. Ist der Krieg beendigt, ist eine Trennung des Südens von dem Norden erfolgt, so hindert Euch nichts mehr, mit den Eurigen Euch wieder zu vereinigen, und mein Segen gilt Euch allen in gleichem Maße.

»Lange habe ich gesonnen, auf welche Art das Vermögen Eurer Mutter unverkürzt erhalten werden könne. Bliebe es im Lande, so wäre es gefährdet. Ginge es vor Beendigung des Krieges in Euren Besitz über, so würdet Ihr es, ähnlich Eurem Vater, für patriotische Zwecke hingeben. Aber auch davor möchte ich Euch bewahren, daß durch Verschreibungen oder auf dem Wege der Erbschaft durch Eure nächsten Angehörigen das Geld den Feinden unserer Institutionen zufließt. Ich habe daher das ungeteilte Kapital selbst nach der Havanna hinübergetragen und einem hochachtbaren Bankhause zur Verwaltung übergeben. Dort steht es vollkommen sicher. Ich mag vielleicht zu ängstlich sein, aber zu meiner eigenen Beruhigung glaubte ich nichts verabsäumen zu dürfen, was nur irgend zur erhöhten Sicherheit Eures Erbes beitragen kann. Mit unendlicher Geduld und Mühe schrieb ich nach einem zuvor von mir selbst angefertigten Alphabet diesen meinen letzten Willen in Ziffern und zwar in zwei gleichlautenden Exemplaren nieder. Das eine gehört dir, meine Tochter, das andere erhältst du, mein Sohn Gilbert. Die beiden dazu gehörenden Schlüssel bleiben Euch indessen vorenthalten; denn auch Ihr seid schwache Menschen und mögt in Lagen geraten, in denen Ihr, den Eindrücken des Augenblicks unterworfen, Verfügungen trefft, die zu bereuen Ihr später Ursache findet. Meiner Schwester Sarah, Eurer treuen Tante, übergebe ich daher die beiden Schlüssel. Sie wird sie gewissenhaft hüten, bis sie den Zeitpunkt für gekommen erachtet, in dem sie unbesorgt das Erheben des Vermögens in Eure Gewalt legen darf.

»Das ganze Vermögen beläuft sich auf dreimalhundertundzwanzigtausend Dollars, angelegt zu einem mäßigen Zinsfuß in sicheren Papieren. Das Bankhaus heißt Romero & Comp. in der Havanna. Bis zur Erhebung des ganzen Kapitals ist das Bankhaus verpflichtet, die Zinsen, soweit sie erforderlich, Euch zufließen zu lassen, jedoch nicht unmittelbar, sondern durch die von ihr selbst gewählte Behörde, die die Zahlungen an den von mir zum Bevollmächtigten ernannten Mr. Slowfield zu leisten hat. Von ihm, meinem bewahrten Freunde, weiß ich, daß er gewissenhaft zwischen Euch und jener Behörde vermittelt. Den Namen des Bankhauses kennt er ebenfalls nicht. Durch dieses seltsam erscheinende Verfahren erreichte ich, daß keiner sich mit der genannten Firma in unmittelbaren Verkehr setzen und sie durch Forderungen zur unrechten Zeit belästigen kann. Ist die Stunde da und Ihr habt Kenntnis von Euren Dokumenten genommen, so begebt Euch nach der Havanna und legt den Herren Chefs eine genaue Übersetzung vor, und nachdem Ihr Euch als wirkliche Melvilles ausgewiesen habt, steht der Auszahlung des Geldes nichts mehr im Wege. Darauf bezügliche, gerichtlich beglaubigte Verfügungen habe ich ebenfalls bei Romero & Comp. niedergelegt.

»Über die Plantage treffe ich keine Entscheidung. Es würde mir selbst wie Hohn erscheinen gegenüber den auf ihr lastenden Schulden. Sind erst friedliche Zeiten eingekehrt und Ihr befindet Euch im Besitz des Geldes, so einigt Euch geschwisterlich um die Übernahme.

»Eure Tante Sarah, die so manches Jahr mich bei Euch vertrat, besitzt, wie Ihr wißt, kein Vermögen mehr. Ihr Letztes gab sie in edler Selbstverleugnung fürs Vaterland hin. Dafür sichere ich ihr bis ans Ende ihrer Tage eine Stätte in Melvillehouse zu und verpflichte Euch, zu gleichen Teilen die Summe von achthundert Dollars ihr jährlich auszuzahlen. Ihr werdet sie lieben und ehren, nie vergessen, daß ich sie zu einer Art Vorsehung für Euch erkor. Slowfield, mein treuer Freund und Berater, ist ermächtigt, von den jeweiligen Geldtransaktionen die üblichen Prozente für seine Mühewaltung zu erheben. Dadurch wird seine spätere Rechenschaftsablegung vereinfacht. Ich hoffe von Euch, daß Ihr auch in ihm den Freund Eures Vaters achtet und ehrt.

»Da ist noch jemand, der unter meinen Augen aufwuchs, Gregor Melville, der Sohn meines Vetters. In ihm liebte ich nicht allein seine verstorbenen Eltern, sondern auch seiner ungewöhnlichen Gewandtheit und Verwegenheit wegen war er mir ans Herz gewachsen. Vielleicht berücksichtigte ich zu wenig seinen leicht in Trotz ausartenden Stolz, oder er möchte mir einen größeren Einfluß auf sich eingeräumt haben. Ich fürchtete für ihn und meine Ahnungen haben mich nicht betrogen: anstatt in ein südstaatliches Regiment einzutreten, verschwand er eines Tages in nördlicher Richtung. Ich hörte nichts mehr von ihm. Kehrt er zurück, so geschieht es als ganzer Mann, oder nie. In ihm wohnen der Stolz und der Starrsinn eines Melville, die, wenn in richtige Bahnen gelenkt, zum Guten, sonst aber auch im ungehemmten Einherstürmen zum Bösen, zum Unglück führen können.

»Und nun, meine teuren Kinder, noch ein letztes Wort an Euch selbst. Sollten wir uns nicht wiedersehen, so erhebt aus meinem geheimnisvollen Verfahren keinen Vorwurf gegen mich. Jetzt, da Ihr meine letztwilligen Verfügungen kennt, und manches Jahr mag bis zu diesem Zeitpunkt verstrichen sein, werdet Ihr begreifen, wie treu und gewissenhaft ich für Euch sorgte, dachte und handelte. Ich aber werde vor dem Throne des allerhöchsten Weltenrichters für Euch eintreten. Und wenn alles zerstiebt, alles erlischt, was wir an freundlichen Hoffnungen auf ein ewiges Wiedersehen mit uns durchs Leben tragen: Eines kann nimmermehr vergehen, und das ist meine Liebe, die Erinnerung an die unsäglich schweren Opfer, die Ihr in edler Hingebung für die Unabhängigkeit des Vaterlandes darbrachtet. Zu Dir, Marianne, mag zurückkehren Dein Mann, der Vater Deiner Kinder, zu Dir, Gilbert, Deine zarte Frau und ihr unschuldiges Töchterchen in Deine Arme legen, nachdem beide ihr Abirren von den heiligsten Verpflichtungen einsehen lernten.

»Mögen Eure Kinder heranwachsen zur Freude und zum Stolz ihrer Eltern, zur Ehre ihres Großvaters und seines Namens. Noch einmal Lebewohl zu Euch allen!«


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