Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Siebzehntes Kapitel.

Die Flucht.

Nachdem Flora auf dem Waldwege verschwunden war, erschien es einige Minuten, als hätte Melville, der ihr so lange nachsah, einem Gefühl tiefer Erschöpfung nur unter äußerster Anstrengung Widerstand geleistet. Sobald er aber Kit Kottons Schritte vernahm, der zurückkehrte, um den Tisch abzudecken, richtete er sich empor, und ein Kind hätte nicht harmloser schauen können, als er, indem er jenen aufforderte, seine Arbeit aufzuschieben und sich zu ihm zu setzen.

Kit leistete Folge. Ein Blick in Melvilles mattgerötetes Antlitz überzeugte ihn, daß es keine finsteren Gedanken waren, was seinen Herrn bewegte. Er griff daher zu den alten Zeitungen, um aus denselben irgendeinen Kriegsbericht vorzulesen, von denen er wußte, daß er mit Vorliebe gehört würde.

»Heute nicht mehr,« erklärte Melville freundlich, »nein, heute nicht. Nach der Unterhaltung mit meinem Freunde Hawkins will ich von Schlachtenlärm und Blutvergießen nichts mehr wissen,« und zu Kits namenlosem Erstaunen fügte er hinzu: »Die Unionisten sind schließlich ebensogut Menschen wie die Sezessionisten, da soll man den Haß nicht bis zur Unversöhnlichkeit treiben. Es befremdet dich, solch mildes Urteil von mir zu vernehmen? Da hättest du nur den Doktor hören sollen, wie er auf mich einredete, mir vorwarf, mit offenen Augen in mein Elend zu rennen. Er bestand darauf, daß ich ein neues Leben zu beginnen habe, alles aus meinem Wege räumen müsse, was auch nur im entferntesten zu schmerzlichen Betrachtungen Veranlassung geben könne. Jeder Sorge soll ich mich entschlagen, in den Tag hinein leben wie ein Vogel, der sich um nichts kümmert, solange ihm die Freiheit bleibt, und da habe ich mich entschlossen, mein ganzes Wohl und Wehe deinen Händen anzuvertrauen. Ich werde dir daher meine Kasse übergeben. Damit wirtschaftest du, wie es dir angemessen erscheint, und wo du etwa in Zweifel, da wendest du dich an Flora. Also mit anderen Worten: ich will gänzlich unbehelligt bleiben, nur meinem Vergnügen leben, soweit dies überhaupt noch möglich.«

Hier ließ er eine Pause eintreten. Wahrend er nachdenklich vor sich niedersah, betrachtete Kit ihn mit wachsender Unruhe. Er wußte nicht, ob er die plötzliche Wandlung im Wesen seines Herrn freudig begrüßen oder, zumal nach Hawkins Mitteilungen, beklagen sollte. Und so erschrak er sichtlich, als Melville das Haupt wieder emporwarf und mit einem eigentümlich mutwilligen, sogar verschmitzten Lächeln geheimnisvoll anhob: »Noch eins, Kit; auch der Besorgnis, daß dieses oder jenes mir entwendet werden könnte, will ich überhoben sein, und das erreiche ich am einfachsten, indem ich dich zum alleinigen Wächter über meine wertvollste Habe einsetze. So werde ich vor allen Dingen das Mahagonikästchen deinen Händen anvertrauen, und das sollst du behüten wie dein eigen Leben. Verstecke es, vergrabe es, jedoch so, daß ich es zu jeder Stunde von dir zurückfordern mag; bis dahin aber will ich nichts mehr davon hören oder sehen. Zu lange schon quälte und marterte mich dessen Anblick. Es ist zum Erstaunen, daß wir nicht früher darauf verfielen. Sobald der Doktor dergleichen andeutete, leuchtete es freilich in meinem Geiste auf, und ebenso schnell faßte ich den Entschluß, die Hauptlast meines Daseins auf deine breiten Schultern zu wälzen. Die ganze Wahrheit gestand ich selbstverständlich dem Doktor nicht ein – was kümmert den überhaupt das Kästchen?« – und noch geheimnisvoller und listiger blickte er – »so darfst du auch zu niemand darüber reden. Versprichst du mir das heilig, so trägt das nicht wenig zu meiner Beruhigung bei.«

Kit Kotton verpflichtete sich durch Handschlag zu ewigem Schweigen und gewissenhafter Überwachung des ihm anvertrauten Gutes, und Melville fuhr fort: »Wie du befremdet tust, Kit. Aber ich sehe dir bis in dein ehrliches Herz hinein; da entdecke ich, daß du, von dem ich es am wenigsten erwartete, an meinen gesunden Sinnen zweifelst –«

»Nein, Kapitän,« unterbrach Kit ihn lebhaft, »ich halte Sie für den gescheitesten Mann, der je eine Länge und Breite berechnete, und wenn's mich befremdete, den Herrn plötzlich verändert zu sehen, ist's kein Wunder.«

»Nein, Kit Kotton, kein Wunder, darin ergeht es dir nicht anders, als mir selber. Doch wir wollen uns dieser Wandlung freuen und hoffen, daß es so bleibt. Ich fühle mich nämlich leicht, wie seit Jahren nicht, und das verdanke ich den ernsten Ratschlägen des Doktors. Er wird mich übrigens fortan häufiger besuchen, und da müssen wir beide es uns angelegen sein lassen, den guten Eindruck, den er heute empfing, nicht zu verwischen. Jetzt weißt du alles, Kit. Räume den Tisch ab und richte mein Bett her. Bevor ich mich zur Ruhe begebe, will ich indessen noch ein Stündchen die frische Seeluft hier oben genießen. Morgen früh besprechen wir das weitere. Bis dahin überlege dir, wo du namentlich das Kästchen am sichersten unterbringst. Den Schlüssel magst du in der Tasche bei dir tragen. Auch mir verrate das Versteck nicht. Es könnte mir nämlich eines Tages einfallen, die alten Scharteken zu durchsuchen, und das möchte mir nicht dienlich sein.«

Kit Kotton antwortete mit einem einfachen: » All right!« Mehr vermochte er nicht hervorzubringen, in so hohem Grade beängstigten ihn die seltsamen Einfälle seines Herrn.

Als er eine Stunde später den Kapitän ins Haus führte, glaubte er, eine größere Erschlaffung an ihm zu entdecken. Er beruhigte sich indessen wieder, als dieser, nachdem er sich niedergelegt hatte, schnell in einen tiefen Schlaf verfiel. Eingedenk der Ratschläge Hawkins, streckte er sich im Vorzimmer auf dem Teppich aus. Die beiden Fenster hatte er der kühlen Nachtluft geöffnet.

Sichtbar gestärkt erhob Melville sich folgenden Morgen von seinem Lager. Nicht mehr krankhafte Heiterkeit offenbarte sich in seinem Wesen, sondern eine gewisse träumerische Ruhe. Lächelnd, als ob es sich darum gehandelt habe, ein einmal ausgesprochenes Wort nicht zurückzunehmen, übergab er Kit seine angeblichen Schätze, und als ein neues günstiges Zeichen begrüßte dieser die Aufforderung, nachmittags in Begleitung des Seminolen zum Zwecke einiger Einkäufe nach der Stadt zu gehen. Zugleich erhielt er den Auftrag, Flora zum folgenden Tage einzuladen mit der Bitte, ihren Aufenthalt in dem Strandhause auf eine Woche und länger auszudehnen. Indem die beiden alten Gefährten mit dem Mustang in den Waldweg einbogen, sandte Kit Kotton einen letzten Blick zu Melville hinüber. Auf der Veranda saß er, neben sich einen Tisch mit Büchern und Erfrischungen. In den Händen eine Zeitung, schien er eifrig zu lesen; in Wahrheit aber lauschte er auf den allmählich schwindenden Hufschlag des Pferdes, zählte er ängstlich die Minuten, bis er sicher zu sein glaubte, daß Kit nicht mehr zurückkehre. Nunmehr erhob er sich. Nachdem er eine Weile argwöhnisch um sich gespäht hatte, begab er sich in seine Wohnung. Gleich darauf konnte man ihn hören, wie er Schubfächer öffnete, eine Anzahl Goldstücke klirrend zählte und in seine Tasche schob. Dann schurrte er wieder mit Stühlen und einem Reisekoffer, indem er diesen mit Wäsche und Kleidungsstücken füllte. Er war noch mit der ungewohnten, seine ganzen Kräfte in Anspruch nehmenden Arbeit beschäftigt, als schwere Tritte auf der Veranda ihn veranlaßten, an das nächste offene Fenster zu treten. Sein erster Blick fiel auf eine sonntäglich gekleidete, kurze, vierschrötige Arbeitergestalt, welche sich, den Hut tief ziehend, dem Fenster näherte und höflich fragte, ob man die Ehre habe, vor dem Kapitän Melville zu stehen.

Diesem stockte der Atem. Kaum verständlich brachte er hervor: »Melville ist mein Name; womit kann ich dienen?«

»So habe ich die besten Grüße von dem Doktor Hawkins auszurichten,« hieß es in breitem Dialekt zurück, »zugleich soll ich mich zur Verfügung stellen, wenn der Kapitän geneigt wäre, eine kleine Reise anzutreten.«

Diese Antwort, die Melville überzeugte, daß der Fremde notgedrungen mit seinem Gemütszustande vertraut sein müsse, trieb ihm das Blut der Verwirrung und der Scham in das Antlitz. Es erschütterte ihn förmlich, das, was er als ein zwischen ihm und Hawkins schwebendes unverbrüchliches Geheimnis betrachtete, Plötzlich von einem Menschen, den er nie zuvor sah, geschäftsmäßig angedeutet zu hören.

»Also von Doktor Hawkins,« fragte Melville nach einer kurzen Pause des Sinnens schüchtern; »nun ja, ich erwarte jemand, aber ich glaubte, er würde einen Wagen schicken.« –

»Hält eine kurze Strecke von hier,« fiel der Fremde mit widerwärtiger Vertraulichkeit ein, welche Melvilles ursprünglich vornehmes Gefühl nur deshalb nicht verletzte, weil heftige Erregung ihn unempfindlich gegen äußere Eindrücke gemacht hatte; »der Doktor befahl mir nämlich, die eigentliche Landstraße zu meiden und fürs erste Nebenwege zu halten. Er meinte, es sei Ihnen angenehmer, Menschen auszuweichen, die Arges von Ihrer Reise denken möchten.«

»Gut, gut, lieber Freund,« versetzte Melville ängstlich billigend, »das war bedachtsam gehandelt. Es wäre mir wirklich sehr peinlich, erführe ein Unberufener den Zweck meiner Fahrt – aber wir wollen nicht säumen. Trotz aller Vorkehrungen könnte uns jemand überraschen – bitte, treten Sie näher – schnell, schnell. Sie müssen meinen Koffer tragen – ich selbst bin zu schwach auf meinen Füßen,« und er kehrte sich hastig ab, um seinem Gepäck noch einige Kleinigkeiten beizufügen.

Bevor der Fremde seiner Aufforderung Folge leistete, trat er bis an die Balustrade der Veranda vor, und den gekrümmten Zeigefinger in den Mund legend, sandte er einen kurzen, schrillen Pfiff nach der entgegengesetzten Richtung von der hinüber, in der Kit und Blackbird sich entfernt hatten. Er säumte, bis hinter dem Buschwerk hervor ein unansehnlicher, zum Teil mit Stroh gefüllter leichter Arbeitswagen von zwei Pferden in seinen Gesichtskreis gezogen wurde, und nach einem Wink mit dem Hut, der dem Kutscher galt, begab er sich in das Haus hinein.

Melville war eben damit beschäftigt, den Koffer zu schließen, als der Fremde sich ihm zugesellte. Bereitwillig leistete dieser ihm Beistand, worauf er dringend fragte, ob die Wertsachen, von denen er nach Hawkins' Ausspruch sich nicht trennen dürfe, nicht vergessen seien.

»Alles drinnen, alles drinnen,« flüsterte Melville geheimnisvoll, indem er auf den Koffer wies, doch vermied er ängstlich, den lauernden Blicken des Fremden zu begegnen, »nichts vergaß ich, nein, nichts – aber von dannen jetzt, oder wir werden überrascht und alles ist vorbei.«

Der Fremde grinste spöttisch. Den Besitzer des Hauses in wahrer Angst vor denjenigen zu sehen, die allein treu zu ihm standen, erschien ihm seltsam genug, um es als eine Offenbarung geistiger Schwache zu betrachten. Mit leichter Mühe schwang er den Koffer auf die Schulter; andere Dinge, die seine Gier reizten, fügte er im Vorbeigehen hinzu, und den freien Arm Melville bietend, führte er ihn vorsichtig aus dem Hause und in den Vorgarten hinaus.

Der Wagen hielt in geringer Entfernung von der Einfriedigung. Weder für diesen, noch für den Menschen auf dem Vordersitz hatte Melville einen Blick. Wäre er auf der Flucht vor einem gewaltsamen Tode gewesen, so hätte er nicht kopfloser nach dem elenden Gefährt hinaufklettern können, auf welchem seine Sachen bereits untergebracht worden. Nachdem der Fremde einen Blick des Einverständnisses mit dem Kutscher, einem gaunerhaft dareinschauenden Burschen von etwa zwanzig Jahren, gewechselt hatte, nahm er an Melvilles Seite auf dem festgestopften Strohsack Platz; fast gleichzeitig setzten die Pferde sich in Bewegung. Eine kurze Strecke legten sie auf weglosem rasigen Boden zurück; dann verschwanden sie in niedrigem Gehölz auf einem nur wenig benutzten, anscheinend längst vergessenen, mit Gras und Kraut überwucherten Wege.

 

Kit Kotton und Blackbird hatten ihre Aufträge in der Stadt erfüllt, und der letzte Sonnenschein leuchtete ihnen noch, als sie mit dem beladenen Mustang vor dem Strandhause eintrafen. Wohl befremdete es ersteren, seinen Herrn nicht auf der Veranda vorzufinden, allein an dessen Seltsamkeiten gewöhnt, beruhigte er sich mit dem Gedanken, daß derselbe, wie häufig geschah, trotz der frühen Abendstunde sich bereits zur Ruhe begeben habe. Leise, um ihn nicht zu wecken, betrat er das Wohnzimmer. Die dort herrschende Unordnung erregte seinen Argwohn. Zögernd warf er durch die offene Tür einen Blick in das Schlafgemach; als er aber das Bett leer sah, bemächtigte sich seiner lähmender Schrecken. Er konnte nur glauben, zumal nach den gestrigen Mitteilungen Hawkins', daß Melville, der so oft das Leben als eine unerträgliche Bürde bezeichnete, diese Last abgeschüttelt habe. Er vergegenwärtigte sich den Ernst, mit dem er ihm den angeblich kostbarsten Teil seiner Habe anvertraute, und seine Befürchtung wuchs zur Überzeugung. Da wurde er eines offenen Briefes ansichtig, der mittels einer Nadel an das Kopfkissen befestigt worden. Bestürzt löste er denselben, dann las er:

»Mein lieber Kit Kotton! Ich bin auf Reisen gegangen. Es kann Wochen, auch Monate dauern, bevor ich zurückkehre. Ich fühle das Bedürfnis, der tödlichen Einsamkeit mich hier zu entziehen und mit fremden Menschen zu verkehren. Wenn ich weder zu Dir, noch zu Flora oder dem Doktor über meinen Plan sprach, so geschah es, um von euch nicht anderen Sinnes gemacht und zurückgehalten zu werden. Ebenso wenig wünschte ich irgend jemandes Begleitung. Forscht also nicht nach mir, wenn ihr meine letzte Ruhe nicht untergraben wollt. Sei auch eingedenk aller Ratschläge, welche ich Dir gestern erteilte. Will Flora auf die Zeit meiner Abwesenheit nach dem Strandhause übersiedeln, so bin ich von Herzen damit einverstanden. Ich hoffe zuversichtlich, daß diese Reise einen wohltätigen Einfluß auf mein körperliches Befinden, wie auf meine Gemütsstimmung ausübt. Sollte das Geld, das ich Dir einhändigte, zur Bestreitung aller Kosten nicht ausreichen, so wende Dich an Flora; sie weiß, wohin sie sich um Vorschüsse zu wenden hat. Grüße mir das liebe Kind. Auf Wiedersehen!

Dein getreuer

Gilbert Melville.«

Zweimal las Kit den Brief, ohne dadurch von seinem ersten bösen Argwohn befreit zu werden. Und doch suchte er zwischen den Zeilen vergeblich nach Merkmalen einer wirklichen Geistesverwirrung. Klar und deutlich geschrieben, zeugten die Worte von ruhigem Denken und Überlegen, gleichviel, welchen unheilvollen Plan er damit zu verschleiern trachtete. In seiner Not begab er sich zu Blackbird. Dieser erstaunte nicht über die unheilvolle Kunde, sondern meinte, daß wenn jemand gegangen sei, er auch Fährten ausgeprägt habe, die aufzufinden wären. Und so benutzten die beiden Genossen das letzte Tageslicht, die Umgebung des Strandhauses abzuspüren. Schon nach wenigen Schritten entdeckten sie die Stelle, auf der der Wagen gehalten hatte und von wo aus die Geleise nach dem vergessenen Waldwege hinüberführten. Sie überzeugten sich noch, daß die Pferde im Trabe davongeeilt waren, und hereinbrechende Dunkelheit hemmte die weiteren Nachforschungen.

Folgenden Morgens bald nach Tagesanbruch sattelte Blackbird sein Pferd. Kit Kotton versah ihn mit Lebensmitteln auf mehrere Tage und entließ ihn mit dem Rat, den Wagenspuren bis ans Ende nachzufolgen. Er selbst richtete alles zum Empfange Floras her, und als er eben im Begriff, nach der Stadt aufzubrechen, erschien sie in Wasps Begleitung plötzlich auf der Veranda. Durch einige Andeutungen, die Kit abends zuvor fallen ließ, beunruhigt, hatte sie sich in aller Frühe auf den Weg begeben. Schon aus der Ferne las sie in seinen Zügen die ihn beherrschenden Sorgen. Ihre unbestimmten Befürchtungen verwandelten sich aber in jähen Schrecken, als Kit ihr Melvilles Brief überreichte. Aufmerksam las sie diesen, nicht minder aufmerksam befragte sie Kit um alle Nebenumstände, die die mit so vielem Bedacht zur Ausführung gebrachte Flucht ihres Wohltäters begleiteten. In demselben Maße aber, in dem ihre Ruhe zurückkehrte, begann ihr junger frischer Geist zu arbeiten und Melvilles Verfahren in Beziehung zu Personen und Ereignissen zu bringen.

»Mag er aus freiem Willen gegangen oder aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen zur Reise überredet worden sein,« sprach sie, »alles in unseren Kräften Stehende müssen wir aufbieten, auszukundschaften, wo er zurzeit weilt. Wir dürfen nicht dulden, daß er in seinem beinah hilflosen Zustande Fremden zur Last fällt. Und auf unsere eigenen Kräfte allein müssen wir uns verlassen, am wenigsten aber dürfen wir des Doktors Beistand in Anspruch nehmen. Denn aus allem, Kit, was du mir leider jetzt erst anvertrautest, geht wenigstens so viel hervor, daß dem widerwärtigen Hawkins nicht zu trauen ist. Wenn ich nur wüßte, wie wir unsere Nachforschungen am zweckmäßigsten einleiten.«

»Vielleicht bringt Blackbird Nachricht, in welcher Gegend wir den Kapitän zu suchen haben,« meinte Kit sorgenvoll, »trotz seines hohen Alters ist er scharfsinnig und geschmeidig wie eine Fischotter, das heißt, wenn er will.«

»Wahrscheinlich die Nachricht, daß er den Wagenspuren nur eine bestimmte Strecke zu folgen vermochte,« erwiderte Flora nachdenklich und ihr holdes Antlitz erglühte vor dem Eifer, mit welchem sie Mittel zur Auffindung des Flüchtlings zu ergründen trachtete. »Doch ob er heut oder morgen heimkehrt, auf Blackbird dürfen wir nicht warten. Du kennst die Zeitungen, in denen der Kapitän einst seine Aufrufe veröffentlichte?«

»Alle, Miß Flora. Von jeder Sorte ist 'ne Probe vorhanden.«

»Gut, Kit,« nahm Flora wieder das Wort, und zwar mit einer Entschiedenheit, die fast im Widerspruch zu ihrer heiter blühenden mädchenhaften Erscheinung stand, »indem wir Licht in das rätselhafte Verschwinden des Kapitäns zu bringen trachten, müssen wir die böseste Möglichkeit zum Ausgangspunkt wählen und die Aufmerksamkeit anderer auf ihn hinzulenken suchen. Das aber geschieht am einfachsten durch ähnliche Aufrufe, wie wir beide solche ihm oft genug vorgelesen haben. Ich werde sofort eine Anzahl niederschreiben. Hole du unterdessen die Zeitungen zum Anfertigen der Adressen. Heute kehre ich noch einmal zur Stadt zurück, da überwache ich die Beförderung der Briefe persönlich. Morgen siedle ich dagegen ganz nach hier über. Ich muß zur Hand sein, wenn Nachrichten einlaufen sollten. Auch ist nicht unmöglich, daß jemand erscheint, um sich des Kapitäns Abwesenheit zu irgendeinem Zweck zunutze zu machen, und da müssen wir auf der Hut sein. Ich traue jetzt keinem Menschen mehr, am wenigsten dem Hawkins.«

Während Kit darauf die Zeitungen herbeibrachte, und ordnete verfaßte Flora den ersten Aufruf. Derselbe lautete:

»Wo ist Kapitän Gilbert Melville? Derselbe entfernte sich auf rätselhafte Weise von seinem Landsitz, die zu ihm Gehörenden dadurch in größte Besorgnis stürzend. Etwaige Auskunft wird gegen umgehende Erstattung der dadurch verursachten Kosten erbeten unter Adresse: Klein-Melvillehouse, Florida.« Es folgten Angabe der Landschaft und der nächsten Stadt.

Und wieder und immer wieder schrieb Flora den Aufruf nieder, und ebenso schnell verschloß Kit dieselben in Umschläge, worauf Flora sie mit den betreffenden Aufschriften versah. So mochten dreißig und einige Briefe entstanden sein, als Kit Kotton die letzte Zeitung zur Seite legte und die Arbeit für beendigt erklärt wurde. Dann begannen beide im Hause zu ordnen und nach Merkmalen zu suchen, die vielleicht Licht auf Melvilles beunruhigendes Verfahren hätten werfen können. Sie entdeckten nichts mehr. Dagegen kehrte gegen Abend, kurz bevor Flora sich auf den Weg zur Stadt begab, Blackbird von seinem Ausfluge heim. Sein Bericht lautete wenig ermutigend. Stunde auf Stunde war er den Räderspuren gefolgt. Dieselben hatten ihn an einen schmalen, nur für leichte Fahrzeuge schiffbaren Fluß geführt. Dort konnte er sich überzeugen, daß zwei Personen den Wagen verlassen und ein Kanoe bestiegen hatten, wogegen der Wagen in einen anderen, vor der Furt mündenden Weg eingebogen war. Ob das Boot die Richtung stromaufwärts oder -abwärts wählte, vermochte er nicht festzustellen, doch lag die Vermutung nahe, daß der Flüchtling die Meeresküste zu gewinnen trachtete, um von dort aus jede weitere Verfolgung unmöglich zu machen. Und so mußten die Fährten als gänzlich verwischt gelten, zumal der Wagen, dessen Geleisen Blackbird eine Strecke nachfolgte, schließlich eine Landstraße erreicht hatte, auf der durch anderes Fuhrwerk die letzten Spuren vernichtet worden.

Nach diesen Mitteilungen zweifelten Kit und Flora nicht länger, daß die geheimnisvolle Flucht von Leuten vorbereitet worden, die mit ihrem Verfahren Zwecke verbanden, die das Tageslicht scheuten. Zugleich verschärfte sich ihr Argwohn gegen Hawkins, für sie der triftigste Grund, ihm gegenüber die größte Vorsicht und Zurückhaltung zu beobachten.


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