Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Zwanzigstes Kapitel.

Eine Irrenstation.

Nicht allein Flora und Kit Kotton hatten den Beweis erhalten, daß der von ihnen entsendete Aufruf Beachtung fand, sondern auch Doktor Hawkins. An dem Tage, an welchem Frank in dem Strandhause eintraf, empfing er einen Brief folgenden Inhalts:

»Wer die Hexe in Klein-Melvillehouse auf den Gedanken brachte, beiliegenden Aufruf in die Welt zu schicken, mag die Hölle wissen. Wahrscheinlich lernte sie es von dem blödsinnigen Kapitän, der einst Großes darin leistete. Wenn ich auch nicht daran glaube, so ist doch nicht unmöglich, daß der auffällig gedruckte Artikel vor unrechte Augen gerät; daraus aber können sich Schwierigkeiten entwickeln, die nicht vorherzusehen gewesen. Überwachen Sie daher das Strandhaus; merken Sie auf jeden, der dasselbe besucht. Der Teufel ist nämlich los, und zwar in der Gestalt eines abenteuerlichen, jedoch entschlossenen Kunstreiters, dem das ärgste zuzutrauen. Sollte Gefahr drohen, woran ich ebenfalls nicht glaube, so muß unser Kranker fortgeschafft und in größerer Entfernung untergebracht werden. Die Wahl der Zufluchtsstätte bleibt Ihnen überlassen. Ich bin erstaunt, daß die erwähnte Chiffreschrift nicht bei dem Kranken gefunden worden. In seinem Besitz muß sie auf alle Fälle sein, und wir dürfen weder Mühe noch Geld sparen, ihrer habhaft zu werden. Wozu ich raten soll, weiß ich nicht, hoffe aber zuversichtlich, daß es Ihnen gelingt, erfolgreich zu wirken. In der Wahl der Mittel dürfen wir nicht peinlich sein. Beherzigen Sie: wie die Arbeit, so der Lohn.

Ihr Slowfield

Infolge dieses Schreibens erkundete Hawkins, daß kurz zuvor ein mit der Post eingetroffener Reisender die Leute um den Weg nach Klein-Melvillehouse befragt und sich unverzüglich auf den Weg dahin begeben habe. Ebenso hörte er folgenden Tages von einem zweiten Reisenden, der einen leichten Wagen gemietet und denselben Weg eingeschlagen habe. Dies alles war mehr als genug, ihn mit Besorgnis zu erfüllen, und so sah man ihn selbigen Nachmittags zu Pferde das Städtchen verlassen, wie häufig geschah, wenn er über Land zu einem Kranken gerufen wurde. Wohin er sich begab, wußte niemand, kümmerte auch keinen. Und dennoch blieb er auf diesem Ritt nicht unbeachtet. –

Seit dem Tage, an welchem Melville entführt worden, hatte Blackbird zunächst mit nur kurzen Unterbrechungen die Nachbarschaft des Strandhauses wie der Stadt in weiterem Umkreise durchstreift. Dann aber wendete er seine Aufmerksamkeit ausschließlich Hawkins zu, wo nur immer es wenig auffällig geschehen konnte, dessen Bewegungen argwöhnisch überwachend. Stundenlang saß er auf der Straße, neben sich den alten Mustang, was an dem stumpf dareinschauenden vereinsamten braunen Krieger kaum jemand befremdete; stundenlang auf einer benachbarten, mit Strauchwerk bewachsenen Anhöhe, von welcher aus er das Städtchen einigermaßen zu überblicken vermochte. So oft Hawkins einen Ritt über Land unternahm, konnte man sicher sein, daß Blackbird etwas später aufbrach und, wenn auch nur eine Strecke, in seinen Spuren folgte.

Auch an dem Nachmittage, welchen Hawkins, durch Gregors Eintreffen beunruhigt, zu einem größeren Ausfluge benutzte, weilte Blackbird auf seiner gewohnten Stelle im Schatten des die Anhöhe krönenden Gesträuches. Der Mustang befand sich in seiner Nähe und rupfte wie aus Gnade und Barmherzigkeit zwischen dem schon etwas herbstlich harten Rasen. Plötzlich erweiterten sich des Seminolen Augen ein wenig. Er war eines Reiters ansichtig geworden, der den Ort in östlicher Richtung verließ. Ebenso schnell hatte er Hawkins erkannt; doch weder in seinem tiefgerunzelten braunen Antlitz, noch in seiner Haltung machte sich eine Wandlung bemerkbar. Ruhig, wie etwa den Flug eines Geiers, beobachtete er, wie jener den um den Hügel herumführenden Landweg verfolgte und nach etwa zehn Minuten mäßig schnellen Reitens auf einem sich abzweigenden Wege in das bis zu den großen Sumpfniederungen sich erstreckende Gehölz einbog. Dann erst sattelte er den Mustang, und mit demselben Gleichmute, den er bisher bewahrte, folgte er Hawkins nach. Nicht der aufmerksamste Beobachter hätte erraten, daß feindselige Absichten ihn beseelten, er die Fährte des Doktors aufnahm. Erst im Walde beschleunigte er die Gangart seines Tieres in einer Weise, daß er allmählich bis in die Hörweite des vor ihm in scharfem Paß einherschreitenden Pferdes gelangte. Stunde auf Stunde ritten beide darauf ihres Weges, ohne daß der zwischen ihnen bestehende Zwischenraum eine merkliche Änderung erfahren hätte. Derselbe finstere Eifer beseelte beide, verlieh beiden Geduld und Ausdauer, ließ sie vergessen die Überanstrengung der sie tragenden Tiere. Erst um Mitternacht wurde diesen Gelegenheit zu einer längeren Rast geboten. Es geschah, als Blackbird in einiger Entfernung vor sich dumpfes Pochen unterschied, das bald darauf zwei Stimmen in lautem Wortwechsel folgten, in deren einer er die Hawkins erkannte. Eine Tür hörte er noch zuschlagen, dann war alles still.

Eine Weile sann er ernst nach. Wo er sich befand, wußte er genau. Gab es doch auf Tagereisen im Umkreise keinen Baum, keine Waldblöße, kein mit grünen Wasserlinsen und breiten Mummelblättern bedecktes Sumpfwasser, auf den seine Blicke nicht schon geruht hätten. Er stieg ab. Den Zaum streifte er von dem zottigen Kopfe des Mustangs, worauf er ihn, um ihm Gelegenheit zum Grasen zu geben, mittels des Lassos so an einem Baum befestigte, daß er in seinen freien Bewegungen nicht gehindert wurde. Dann schlich er in der Richtung davon, aus welcher die Stimmen zu ihm herübergedrungen waren, und nach Zurücklegung einiger hundert Ellen befand er sich am Rande einer umfangreicheren Lichtung, die von einem hohem Pfahlzaun begrenzt wurde. Was hinter demselben lag, Gebäude und Bäume, fiel in unförmliche schwarze Schatten zusammen, die silhouettenartig in unbestimmten Linien sich von dem sternenbesäten Himmel abhoben. Mit einer Gewandtheit, die man kaum in dem alternden Körper gesucht hätte, stieg Blackbird nach der Einfriedigung hinauf. Einige Minuten lauschte er argwöhnisch, die Blicke dahin gerichtet, wo mehrere Baulichkeiten sich als dunklere Schatten auszeichneten. Alles blieb still. Plötzlich aber tauchten zwei Reihen regelmäßig übereinanderliegender Lichtstreifen vor ihm in der Finsternis auf, und alsbald ließ er sich auf der anderen Seite des Zaunes behutsam niedergleiten und schlich vorsichtig auf die Lichtstreifen zu. –

Im Innern des Hauses erfolgte Schurren von Stühlen.

»Ja, mein bester Dark,« begann Hawkins ohne Säumen, nachdem er sich, dem Beispiel des Vierschrötigen folgend, auf einen gebrechlichen Schemel niedergelassen hatte, »der Teufel ist los, oder ich hätte den langen Ritt gescheut. Da sind nämlich zwei Männer im Strandhause eingetroffen, vermutlich Verwandte des Kapitäns, und wenn die auf den Gedanken geraten, Nachforschungen anzustellen, so ist ihnen zuzutrauen, daß sie unter Mithilfe des alten Schiffskochs und des Seminolen ihren Weg auch hierher finden. Dies Ihnen mitzuteilen, ist der eigentliche Zweck meines Besuchs. Ich mußte Sie warnen, keinem zu trauen, der unter irgendeinem Vorwande vor Ihre Tür kommt.«

Dark, der unterdessen eine Pfeife gefüllt und angeraucht hatte, lachte in seiner tückischen Weise.

»Laß sie kommen,« erwiderte er höhnisch, und mit den gespreizten Fingern sein wirres Haar pflügend, richtete er dieses herausfordernd empor, »ich kalkulier', ich und der Toby, das Frauenzimmer nicht zu vergessen, sind Manns genug, das Haus rein zu halten. Tut's nicht eine handliche Speiche, so verstehen wir auch mit Schießhölzern umzugehen.«

»Keine Gewalttat,« riet Hawkins dringend, »nichts darf geschehen, wodurch die Aufmerksamkeit der Behörden auf diesen Bau gelenkt wird, oder ich bürge für nichts. Nein, keine Gewalt, solange es andere Mittel gibt. Sollte wirklich jemand hier erscheinen, so läßt sich voraussetzen, daß er vorläufig nur Erkundigungen einziehen möchte. Wird er abgewiesen und dadurch sein Argwohn geweckt, so unterliegt's kaum einem Zweifel, daß er nach kurzer Frist abermals vorspricht, dann aber in Begleitung von Gerichtspersonen, und das möchte Ihnen wenig gefallen. Es ist also ratsam, die Pause zu benutzen, mit Ihrem Kranken von hier zu verschwinden. Sie kennen gewiß in den Sümpfen irgendeinen sicheren Schlupfwinkel, in dem Sie es mit Ihren Schutzbefohlenen eine Weile aushalten. Hat man sich erst beruhigt, hindert Sie nichts, hierher zurückzukehren. Schlimmstenfalls müßten wir die Kranken in eine andere Heilanstalt schaffen.«

»Und mir den Verdienst entziehen?« fragte Dark grimmig.

»Ich dächte, Mann, Sie hätten bisher keinen Grund zum Klagen gehabt; und schließlich geht die Sicherheit doch über alles. Wie viele Patienten haben Sie überhaupt noch?«

»Außer dem Kapitän nur noch den Harry.«

»Was? Und Fanny?«

»Ist schon seit sechs Wochen hinüber.«

»Und das hindert Sie nicht, das Kostgeld für sie weiter zu beziehen.«

»Ich schlag's auf die Mühe, die mir der Satansjunge bereitet. Verdammt, der klemmt sich durch Ritzen, die kaum zwei Finger breit, und weg ist er. War erst vor einigen Tagen ausgerückt, und zweimal vierundzwanzig Stunden gebrauchten ich und der Toby, um ihn wieder einzufangen. Bis in die Nachbarschaft des Strandhauses war er gelaufen.«

»Nun, Mann, den kleinen Nebenverdienst mißgönne ich für meine Person Ihnen am wenigsten, solange ich auf Ihre Gewissenhaftigkeit bauen kann. Und ein angenehmes Gewerbe ist das Ihrige nicht, das weiß niemand besser als ich, oder ich möchte Ihnen nicht so bereitwillig die Gesundheitsatteste für Ihre Pflegebefohlenen ausfertigen. Es sind wohl schon ihrer acht, die noch zahlen und Ihnen keine Unbequemlichkeit mehr bereiten?«

»Auf den Kopf acht, und wenn Sie Gelegenheit fanden, mir noch einige neue zuzuweisen – Platz genug wäre da.«

»Die fliegen einem nicht um die Ohren, wie wilde Tauben in der Zugzeit. Doch wie steht's mit dem Kapitän Melville? Ich fürchte, seine Kräfte müssen sich bald aufreiben.«

»Der ist zähe wie ein rohlederner Riemen,« warf Dark geringschätzig ein, »tobt er sich den einen Tag gehörig aus, ist er den anderen sanft wie ein Jährlingslamm, daß ihn kein vernünftiger Mensch für verrückt halten möchte.«

In zynischer Weise schilderte Dark, in welcher Weise er auf das Gemüt Melvilles einwirkte, um diesen nach und nach zum Wahnsinn zu treiben. Doch blieb er immer dabei, daß seiner Meinung nach Melville noch völlig gesund sei.

»Alles Verstellung, mein lieber Dark, und darnach behandeln Sie ihn,« fiel Hawkins ein. »Ich kenne das; die Schlauheit Irrsinniger übersteigt die eines Opossums, das lebendig geröstet werden kann, ohne ein Glied zu rühren. Aber ich möchte ihn sehen, um mir mein Urteil selbst zu bilden. Schläft er, ist's kein Unglück, ihn zu wecken.«

Dark erhob sich, nahm die Lampe und begab sich mit Hawkins in den Hinteren Teil des Hauses. Dort blieb der Doktor beim Öffnen von Melvilles Tür im Schatten stehen und konnte nun mit eigenen Ohren hören, wie meisterhaft Dark seines Amtes waltete. Er kargte daher auch nicht mit dem Lobe, fuhr aber dann fort: »Doch vor allen Dingen sorgen Sie immerhin dafür, daß die Nachforschungen, die möglichenfalls hier angestellt werden, kein Ergebnis liefern.«

»Ungern gehe ich, wenn auch nur auf 'ne kurze Zeit, von hier fort,« erklärte Dark verdrossen, »es bringt zu große Störung in mein komfortables Leben. Und 'ne Lust ist der Gedanke, daß während meiner Abwesenheit fremde Hände hier alles zu unterst und zu oberst kehren, ebenfalls nicht.«

»Glaub's gern; sicherer bleibt's indessen auf alle Fälle. Besser dem komfortablen Leben vorübergehend zu entsagen, als ganz vertrieben zu werden. Auch ist ja nicht ausgeschlossen, daß Sie gänzlich unbehelligt bleiben.«

»Überlegen will ich mir die Sache,« gab Dark nunmehr zu, »und 'nen Ausweg finde ich ebenfalls. Und so eilig werden's die Schurken nicht haben, daß ich sie morgen oder übermorgen schon zu erwarten brauchte. Doch wie wär's, Doktor? 'nen weiten Weg haben Sie zurückgelegt, ein genau ebenso weiter liegt vor Ihnen; da möchte 'ne kleine Herzstärkung nicht zu verachten sein.«

Hawkins warf einen Blick um sich, als hätte er den Zustand der ihm etwa verabreichten Speisen nach der Unsauberkeit der Umgebung bemessen wollen; dann antwortete er gedehnt: »Eigentlich fühle ich kein Bedürfnis. Ein Trunk möchte dagegen in der feuchten Fieberluft nicht schaden.«

»Nicht 'n Bissen Fleisch und Maiskuchen?«

»Nichts von der Sorte. Ein kräftiger Schluck genügt für alles, und die Zeit, die ich damit vertrödle, kommt dem Gaul zustatten.«

Gleich darauf standen eine Flasche Whisky und zwei Gläser zwischen ihnen. Sie tranken und plauderten. Harmlos klangen ihre Stimmen. Und doch hätte man jeden Laut mit neuen Flüchen vergleichen mögen, die, den branntweinfeuchten Lippen entschlüpfend, das alte Haus von seinen Kellerräumen bis unter das Dach hinauf in allen seinen Räumen erfüllten. –

Die beiden würdigen Genossen, heimlich überwacht von der schlumpigen Hexe im Nebenzimmer, mochten beim dritten Glase angekommen sein, als Blackbird, der so lange unterhalb des Fensters gelegen hatte, hinter dem Melville ohnmächtig gegen die künstlich heraufbeschworenen Dämonen des Wahnsinns kämpfte, sich erhob. Zwischen den Eisenstäben und den Maschen des Drahtgewebes hindurch, noch besonders gelenkt durch die nach unten weisenden Öffnungen zwischen den Jalousiebrettern, waren die Stimmen Darks und Melvilles deutlich zu ihm herausgedrungen. Er war hinlänglich vertraut mit der englischen Sprache, um die gewechselten Worte zum Teil verstehen zu können. Doch auch ohne das hätte die jammervoll klingende Stimme Melvilles genügt, ihn zu belehren, daß derselbe in grausiger qualvoller Gefangenschaft gehalten wurde.

Eine Weile lauschte er nach dem Vorplatz des Hauses hinüber, von woher das gelegentliche Schnauben und Scharren des Pferdes zu ihm herüberdrang, dann schlich er geräuschlos in der Richtung davon, aus der er gekommen war. Wie er den Garten betreten hatte, verließ er ihn wieder. Etwas später finden wir ihn auf seinem Mustang auf dem Wege.


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