Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Die Entscheidung.

Gewiß hatte Frank, durch Flora unterstützt, sein Äußerstes aufgeboten, Gilbert Melville in dem Strandhause zurückzuhalten und die Einwendungen zu bekämpfen, die derselbe immer wieder erhob. Wenn er aber glaubte, mit seinen Gründen durchgedrungen zu sein, so konnte er doch nicht verhüten, daß durch Ausfertigung der Vollmacht und die zu diesem Zweck unabweisbar notwendigen Erklärungen, namentlich durch Angabe des nahe bevorstehenden Termins und des Versammlungsortes, Gilberts Teilnahme für die in Aussicht gestellten Verhandlungen sich erhöhte, die plötzlich wieder ins Leben gerufene Sehnsucht nach der alten Heimstätte von Stunde zu Stunde wuchs. Nach Franks Abreise nahm seine Unruhe in demselben Maße zu, in der der Tag der Entscheidung näher rückte, bis er endlich glaubte, durch sein Zurückbleiben ein Fehl begangen zu haben. Kurz entschlossen ordnete er in aller Eile an, da er nun doch noch selbst den Verhandlungen beiwohnen wolle, daß Kitt Kotton und Flora alles zur Abreise rüsteten. –

Wohlbehalten erreichten sie am Versammlungstage den Park von Melvillehouse, als die beiden in dem Wege haltenden Wagen sie zwangen, auszusteigen. Wehmuterfüllt betrachtete Gilbert, von Flora unterstützt, den verwitterten Baldachin, in dessen Schatten er einst die glücklichsten und hoffnungsreichsten Tage verlebte. Die Anwesenheit der Pferde und fremden Gestalten überraschten ihn an dem heutigen Tage nicht. Sobald er aber Thusneldas ansichtig wurde, die, von freundlicher Teilnahme für den hinfälligen Fremden bewegt, sich näherte, schienen die ohnehin geschwächten Füße plötzlich ihre letzte Kraft zu verlieren.

»Edith!« rief er aus, und entsetzt starrte er auf Thusnelda, als hatte er das Hereinbrechen neuer wirrer Visionen befürchtet. Und was dann folgte? – – –

Von den freundlichsten Hoffnungen beseelt, hatten Vater und Tochter sich nach dem Herrenhause hinüber begeben. Doch wo sie meinten, Ausbrüchen der Freude, jubelnd entgegengestreckten Händen und offenen Armen zu begegnen, da erschreckten sie finstere Blicke, in bangen Zweifeln schauende Augen, grausame Worte und dann unheimliches, dumpfes Schweigen. –

Endlich aber belebte sich die Gruppe, die sich um Gilbert gebildet hatte, indem dieser die vor ihm Stehenden durch eine Handbewegung bat, ihm eine freie Aussicht auf Gregor zu gewähren.

»Gregor,« rief er mit ergreifender Innigkeit aus, »du hast mir mein Kind erhalten – Gregor, Thusnelda lebt, und in ihr fand ich Edith wieder! Gregor, fiele meine Tochter Vergangenheit in die elendeste Gauklerbude, sie sollte mir deshalb nicht weniger willkommen sein; dich aber würde ich mit nicht weniger dankbarem Herzen segnen für das, was du an den Meinigen getan hast.«

Alle Augen richteten sich auf Gregor. Besorgnis, die bei Thusnelda zu wahrer Todesangst anwuchs, offenbarte sich in jedem Blick. Doch auch jetzt noch verharrte er unbeweglich in seiner, dem Geschick gleichsam trotzenden Haltung. Düster betrachtete er Gilbert. Thusnelda schien er nicht mehr zu sehen, nicht zu kennen.

Da rief diese ihm klagend zu: »Gregor, du, ängstigst mich! Was habe ich dir getan? Sprich zu mir – Gregor, du gabst mir dennoch den Vater wieder.«

Da seufzte Gregor tief auf, und wie mit Widerstreben entwand sich seiner Brust: »Ich gab ihn dir nicht; denn ich war es nicht, der ihn rief. Ich gedachte, dich fern von ihm zu halten.«

»Nein, Gregor, du nicht,« erwiderte Thusnelda eingeschüchtert, »ich weiß es, du lebtest unter dem Druck böser Verhältnisse – Gregor, lieber Gregor, wann hättest du mir je eine Freude vorenthalten!«

Gregor lächelte matt. Fast rief es den Eindruck hervor, als hätte Thusneldas Stimme ihren alten besänftigenden Einfluß auf ihn zurückgewonnen.

»Rechten wir nicht darum,« sprach er ruhig, während es in seinem Inneren noch immer feindselig wogte: »Du hast deinen Vater wiedergefunden, und zwar unter Bedingungen, die inne zu halten ich einst deiner sterbenden Mutter versprach. Was ich mir selber gelobte, ist jetzt hinfällig geworden.« Er schöpfte wieder tief Atem, und nicht beachtend, daß er allerseits der Gegenstand ängstlich gespannter Aufmerksamkeit war, fügte er hinzu: »Und so will ich dir einen letzten Liebesdienst erweisen, deine Freude und die anderer in eine vollkommene verwandeln: wenige Stunden, bevor deine Mutter entschlief, sprach sie zu mir folgende Worte: ›Wenn du Gilbert seine Tochter zuführst, dann sage ihm, ich sei versöhnt gestorben. Sage ihm, ich habe verziehen, wo nur immer etwas zu verzeihen gewesen. Sage das allen denjenigen, die einst wenig Nachsicht mit mir hatten. Sage, ich sei schlafen gegangen ohne einen bitteren Gedanken. Die Liebe aber, die mir verweigert worden, die möchten sie in vollem Maße meinem Kinde angedeihen lassen.‹«

Abermals trat Stille ein. Sie erschien um so lautloser, weil Gregors ruhiges Organ den Raum gänzlich erfüllt hatte. Gleichsam unter dem Schutz seiner Stimme war es auch möglich gewesen, daß die Tür des Nebenzimmers sich unbemerkt öffnete und ein bleiches Antlitz in derselben sichtbar wurde. Rührung thronte auf allen Zügen; Rührung auch auf denen Miß Sarahs, die von ihrer geschützten Stelle aus Gilbert und die um ihn Versammelten zu beobachten vermochte.

So verrann eine Minute. Die vernommenen Worte schien man nicht fassen zu können, im Geiste sich noch einmal zu wiederholen. Stocton hatte Mariannens Hand ergriffen. Er fürchtete, daß sie unter dem Drange ihrer Empfindungen vermittelnd einschreiten würde, kannte Gregor hinlänglich, um zu wissen, daß jeder Versuch, ihn zu beeinflussen, an seinem starren Willen scheiterte.

»Auch das noch, Gregor,« hob Gilbert endlich wieder an, und schmerzliche Bewegung raubte ihm fast die Sprache, »du bist der gute Geist unseres Hauses geworden; wohin ich höre und sehe, erkenne ich dein Wirken und Walten. Du gehörst zu uns, hast uns angehört von jeher, bist das Band, das die von einem feindseligen Geschick grausam Auseinandergerissenen aufs neue und um so fester einigt. Du darfst die Dankbarkeit nicht zurückweisen, mit der wir alle dir ergeben sind.«

»Ich bestreite, daß jemand mir Dank schuldet,« nahm Gregor anscheinend leidenschaftslos das Wort, »mein Wirken galt allein dem Andenken einer geliebten Verstorbenen, galt ihr da« – und er wies auf Thusnelda – »ihr, der ich die einzigen freundlichen Stunden verdanke, seitdem ich ein Mann geworden. Trennen mußte ich mich ohnehin einmal von ihr, darauf war ich seit lange vorbereitet –«

»Nein, Gregor, nein!« rief Thusnelda ihm angstvoll zu, »du hast keine Ursache, von mir zu gehen –«

»Du weißt, daß ich nie unüberlegt handelte, nie ein ernstes Wort unüberlegt sprach,« versetzte Gregor mit einer Härte, die Thusnelda erbeben machte, nicht minder die übrigen Anwesenden peinlich berührte. »So wirst du auch das, was ich jetzt zu dir sage, nicht als den Ausfluß einer vorübergehenden Laune betrachten. Vergiß das nicht. Es sind vielleicht die letzten Worte, welche ich je an dich richte, und daher um so sorgfältiger abgewogen. Du wirst hinfort deinem Vater zur Seite stehen, und zwar so lange, bis du gemeinschaftlich mit ihm einem anderen noch heiligere Anrechte an dich einräumst. Über das, was wir im Laufe der Jahre erwarben und ansammelten, werde ich nach meinem Gefühl verfügen. Schon lange sehnte ich den Tag herbei, an welchem du unserem gefährlichen Beruf endgültig entsagen würdest. Dein Lieblingspferd erhältst du selbstverständlich; so wird auch Singsang fortan dein treuer Freund und Diener bleiben. Ich gehe, Thusnelda,« fuhr Gregor fort, und wie zu einem, seine äußersten Kräfte beanspruchenden Werk sich rüstend, richtete er sich in seiner ganzen Höhe empor und hart klang seine Stimme, »aber ich gehe, als ob ich nach einigen Stunden hierher zurückkehrte; das erleichtert uns die Trennung. Singsang und Mr. Stuart werden mich zur Stadt begleiten, um, so weit es mir zufällt, die letzten Verhaltungsregeln in Empfang zu nehmen.« Dann zu Norton: »Das weitere, auch mit Rücksicht auf Melvillehouse, wirst du im Einverständnis mit den Deinigen spielend ordnen. Ich sage dir nicht Lebewohl,« und festen Schrittes trat er von dem Fenster fort, »auch dir nicht, Marianne, denn wir müssen uns wiedersehen, gleichviel, wo.« Er kehrte sich Gilbert zu, der wie gebrochen dasaß, Thusneldas beide Hände hielt und vor Bewegung kein Wort hervorzubringen vermochte: »Sie besitzen jetzt Ihre Tochter. Mag an ihr gesühnt werden, was man ihrer Mutter verbrach« – und ein feindseliger Blitz zuckte aus seinen Augen – »und sie verdient so viel Liebe, wie in der ganzen Welt nicht aufgeboten werden kann –«

»Gregor, bleib,« sprach Thusnelda gedämpft zu ihm empor, und deutlicher noch offenbarte sich in ihren Augen die von wilder Verzweiflung getragene Bitte.

Gregor legte die Hand auf ihr Haupt. Matt lächelnd suchte er in ihren erregten Zügen. Einige Sekunden sann er nach, dann sprach er förmlich heiter: »Sei stark, mein liebes Kind; erschwere mir nicht den Abschied. Glücklich und reich gesegnet lasse ich dich zurück, das gilt mir höher, als länger allabendlich um dich zittern zu müssen. Weine nicht, Thusnelda – dein getreuer Kamerad bleibe ich auch in der Ferne – von mir hören sollst du ebenfalls.«

Hastig kehrte er sich ab und festen Schrittes bewegte er sich dem Ausgange zu.

»Gregor, bleib!« tönte es ihm wehevoll wie eine tiefe Herzensklage von Thusneldas Lippen nach.

Er schien es nicht zu hören.

»Gregor, Gregor, besinne dich!« bat Marianne, während Stocton sich anschickte, ihm zu folgen.

Doch Gregor achtete der Rufe nicht; unbeirrt entfernte er sich.

»Gregor, bleibe!« drang aus dem Nebenzimmer eine zitternde Stimme zu ihm herüber; zugleich kehrte die Aufmerksamkeit aller sich der offenen Tür zu, in der Miß Sarah nunmehr ganz sichtbar geworden.

Gregor hielt an und sah erstaunt in das ihm sonst stets feindselig entgegenstarrende Antlitz. Auch jetzt war es starr jedoch infolge der Anstrengungen, die es Miß Sarah koste sich aufrechtzuerhalten.

»Ja, Gregor, bleib,« wiederholte sie dringlicher, »alle Zeile fehlt im Buch und hörte ich, und wenn ich mein Leben lang ungerechterweise dir zürnte, so ist das jetzt verwischt. Ja, Gregor, ich selber bitte dich: bleib bei denjenigen, die in aufrichtiger Zuneigung dir ergeben sind. Schleudere nicht durch dein Gehen einen Mißklang in die sich friedlich gestaltenden Verhältnisse, keine Trauer in eben erst aufatmende treue Herzen.«

Da lächelte Gregor befriedigt, und Miß Sarah die Hand reichend, sprach er wohlwollend: »Nur das fehlte mir noch, verehrte Tante. Das Bewußtsein, keinen bösen Willen hinter mir zurückzulassen, erleichtert mir das Scheiden, wird in Zukunft mir eine freundliche Beruhigung gewähren. Tausend Dank für soviel Güte, und ein herzliches Lebewohl, vielleicht auf – Wiedersehen.«

Er kehrte sich ab, und während die eben noch von neuen Hoffnungen Beseelten ihm wieder bestürzt nachsahen, schritt er aus dem Zimmer.

Thusneldas Tränen waren versiegt. Regungslos hingen ihre Blicke an der hohen Gestalt des im Flurgange Verschwindenden. Sie sah noch, wie er, sich außerhalb des Gesichtskreises der ihm Nachspähenden wähnend, das Haupt neigte und seine Haltung erschlaffte, und heftiges Zittern erschütterte ihren Körper. Aber schon nach wenigen tiefen Atemzügen hatte sie ihre Fassung zurückgewonnen. Zärtlich beugte sie sich über ihren Vater hin, und ihn auf die Stirn küssend, sprach sie gedämpft: »Vater, verzeihe mir – ich kann nicht anders. Ich gehöre zu ihm,« und gleich darauf verschwand sie ebenfalls in dem Flurgange.

Gregor hatte unterdessen die Veranda erreicht. Er wollte eben die von derselben hinunterführenden Stufen betreten, als er hinter sich das Rauschen eines seidenen Kleides unterschied und er zugleich seinen Namen nennen hörte.

Hastig kehrte er sich um und »Thusnelda!« rief er vorwurfsvoll aus, als er die Weinende auf sich zu fliehen sah, und im nächsten Augenblick hing sie an seinem Halse, ihr erglühendes Antlitz an seiner Brust bergend.

»Ich kann mich von dir nicht trennen,« entwand es sich, erstickt durch Schluchzen, ihren Lippen, »Gregor, zürne mir nicht – ich mußte zu dir eilen – mag alles, alles hinter mir versinken; zu dir allein stehe ich. Mache mit mir, was du willst, ich weiche nicht von dir, oder ich sterbe vor Jammer, wie meine Mutter.«

Wie mit Widerstreben, gleichsam mechanisch hatte Gregor den Arm um die anmutige Gestalt gelegt, die er sonst nur berührte, wenn sie im gefährlichen Rennen gewissermaßen aus einem Guß bestanden. Sein Antlitz war totenbleich geworden; eigentümlich wehevoll blickten seine Augen.

»Thusnelda, besinne dich,« sprach er sanft abwehrend, »laß dich durch die unabweislich notwendige Trennung von deinem alten Kameraden nicht zu weit fortreißen. Du begreifst, einmal mußten wir voneinander scheiden, gleichviel ob heut, ob morgen oder erst nach Jahresfrist. Ermanne dich daher, liebes Kind –«

»Ich gehe nicht, ich bleibe bei dir, oder mir ergeht es wie meiner Mutter, und die liebtest du doch so sehr,« fiel Thusnelda ihm klagend ins Wort, und fester schmiegte sie sich an ihn.

»Deine Mutter rufst du an, liebes Kind,« fuhr Gregor mit sich selbst ringend fort, »glaube mir, sie würde nicht gutheißen, sähe sie, daß du mit dem Verlangen dich trügest, mich auch fernerhin auf meinen unsteten Wanderungen zu begleiten. Sie würde dir zurufen: ›Dein Vater bedarf deiner Pflege. Bleibe bei ihm; ersetze ihm alles, was er einst durch die Mißgunst eines grausamen Geschickes verlor.‹«

»Ich kann nicht, Gregor, ich kann nicht! Deine Anrechte an mich sind die heiligsten, und so die meinigen an dich – Gregor! zertrete mich, aber verstoße mich nicht! Laß mich mit dir ziehen, wohin es auch sei, wie in den schönen alten Zeiten, nur verstoße mich nicht.« »Nein, Thusnelda, nach den heutigen Ereignissen kann es nicht mehr sein, wie es gewesen. Die elternlose Waise durfte ihren Beschützer sorglos überallhin begleiten; seitdem du aber Vater und Heimat fandest, ist dies alles dahin – nein, Thusnelda, es gibt Rücksichten, die die Trennung gebieterisch fordern – es kann nicht mehr sein, wie früher.«

Da schlang Thusnelda ihre Arme noch fester um Gregors Hals, und unter heißen Tränen zu ihm aufschauend, flehte sie in wahrer Todesangst: »So laß mich deine Frau sein, und die einzigen Rücksichten, die du noch zu nehmen brauchst, sind die auf mich.«

Erschrocken prallte Gregor zurück, dadurch Thusneldas Arme von seinem Halse lösend; dann aber ergriff er ihre beiden Hände. Einen Blick der Bangigkeit senkte er in die zu ihm erhobenen überströmenden Augen, und leise, als hätte er den Ton der eigenen Stimme gefürchtet, sprach er zu ihr: »Thusnelda, liebes Kind, du täuschest dich. Deine treue Anhänglichkeit führt dich auf Irrwege –«

»Nein, Gregor, nein; bin ich dir gut genug, so will ich deine Frau werden,« unterbrach Thusnelda ihn mit gleichsam kopfloser Hast, »ich habe dich ja so lieb, so sehr lieb, wie keinen anderen Menschen auf der Welt. Das fühlte ich erst, als du vorhin meinen Blicken entschwandest und das Herz mir fülle stand, daß ich glaubte, sterben zu müssen,« und als sie nunmehr wie aus einem traumhaften Zustande erwachendes Entzücken, gepaart mit namenlosem Erstaunen in seinen sonst nur wenig veränderlichen ernsten Zügen las, da warf sie sich wiederum an seine Brust, um von ihm in eine innige Umarmung gezogen zu werden. –

In diesem Augenblick traten Stocton und Marianne, die so lange unbemerkt in der Haustüre gestanden hatten, leise zurück. Ebenso verschwand Miß Sarah, die über die Blumenstöcke hinweg ihr Antlitz aus dem Fenster geneigt hatte. Neben Gilbert, der gebrochen und niedergebeugt dasaß, auf einen Stuhl sinkend und dessen Hand ergreifend, bat sie, wie von blendenden Visionen umfangen: »Gilbert, armer Gilbert, jetzt richte dich auf. Rüste dich zum Empfange einer freudigen Kunde – Gilbert, wie ist es jetzt anders mit mir! Woher kommt so viel Liebe in meinem Herzen! Wer hätte geahnt, daß sich noch einmal so viel Friede auf mein verbittertes Gemüt senken, ich Zeuge so vielen Glückes werden würde.«

Kit Kotton vernahm diese Worte und trat neben Frank und Flora hin, die besorgnisvoll auf den sich schwerfällig emporrichtenden Kapitän hinsahen.

»Es ist kein Wind so schlecht, daß er nicht wenigstens einem etwas Gutes brächte,« raunte er ihnen mit einem verschmitzten Seitenblick auf seinen Herrn zu. Gern hätte er noch einiges zu Thusneldas und Gregors Lob hinzugefügt, als Stocton und Marianne eintraten und sogleich nach dem Blumenfenster hinüberschritten.

»Er bleibt dennoch,« wendete Stocton sich an Gilbert.

»Er bleibt dennoch,« flüsterte Marianne ihrer Tante zu. Diese neigte das Haupt beipflichtend, Gilbert dagegen seufzte tief auf und antwortete aus vollem Herzen:

»So wird sein unstetes Wanderleben ein Ende erreichen. Seine Augen nahmen den letzten Blick meiner armen Edith in sich auf; er ist der Retter meines Kindes.«

In erwartungsvollem Schweigen verstrichen die nächsten Minuten. Dann öffnete die Tür sich wieder und herein schritten Hand in Hand Gregor und Thusnelda. Auf des ersteren Zügen hatte der Ausdruck eines ihm noch unfaßbar erscheinenden Glückes den bisherigen düsteren Ernst verdrängt. Süße Befangenheit, gepaart mit innigem Entzücken, thronte auf Thusneldas blühendem Antlitz.

Sie traten vor Gilbert hin.

»Gilbert,« redete Gregor ihn an, und er legte die Hand sanft auf des mit freudiger Spannung zu ihm Aufschauenden Schulter, »ich gab dir deine Tochter, um sie jetzt von dir zurückzufordern. Hier stehen wir in der heiligen Absicht, uns nie mehr voneinander zu trennen. Mit dem Beruf, dem wir so lange angehörten, haben wir gebrochen. Unser Sehnen gilt nur noch stillem, häuslichem Glück, unser Hoffen ungetrübter Zufriedenheit im Kreise der zu uns Gehörenden.«

»Gregor – Thusnelda!« brachte Gilbert vor Rührung nur mühsam hervor, »ein neues mildes Abendrot steigt an meinem Lebenshimmel auf. Ich bin glücklich; über die Grenzen des Möglichen dürfen meine Wünsche ja nicht hinausreichen.«

Thusnelda hatte sich Marianne zugeneigt, um von dieser zärtlich an sich gezogen zu werden. Miß Sarah weinte still vor sich hin. –

»Ich gehe zu dem Chinamann,« raunte Kit Kotton Flora und Frank wieder zu, als diese sich den glücklichen Menschen neben dem Fenster zugesellten, »hier gibt's für mich und Wasp nichts mehr zu tun. Ich kalkuliere, das alte Zitronengesicht gehört mit zur Familie, da mag ich ihm verraten, was ich hier ausmachte.«

Da in Melvillehouse die entsprechende Gelegenheit zum Übernachten fehlte, brach die Gesellschaft früh genug auf, um noch vor Abend die nächste Stadt zu erreichen. Nur Stocton und Marianne blieben zurück, um so lange in Miß Sarahs Umgebung zu weilen, bis die notdürftigsten Einrichtungen zur Aufnahme Gilberts und derjenigen, die zu ihm gehörten, getroffen sein würden.

Der Abend war hereingebrochen. Miß Sarah hatte sich zur Ruhe begeben. Neben ihr auf dem Bett saß Marianne. Nach mancherlei Gesprächen war Stille eingetreten. Plötzlich zog Miß Sarah ihrer Nichte Haupt zu sich nieder, und leise, wie heimlich lauschende Ohren fürchtend, flüsterte sie: »Auch, du hast unter meinem Einfluß gelitten, wie die arme zarte Edith. An euch beiden habe ich in meinem, alle anderen Empfindungen überwuchernden Patriotismus mich schwer versündigt, aber auch schwer gebüßt, daß ich es über mich gewann, die engsten Familienbeziehungen so weit hintenan zu setzen.«

»Tante, geliebte Tante,« versetzte Marianne bewegt, indem sie ihren Arm unter Miß Sarahs Nacken schob und sie zärtlich küßte, »wie du gelitten, was du erduldet hast, wer vermöchte das ernster zu würdigen, als ich.«

»Nicht weiter, Marianne,« fiel Miß Sarah sanft ein, »alles kam, wie es kommen sollte. Dein erneutes Glück ist das meinige. Die Familie der Melvilles wird aufs neue erblühen, und mit ihr Melvillehouse, der alte Stammsitz. Ich habe keinen Grund mehr, zu klagen; ein unendlicher Friede hat sich auf mein Gemüt gesenkt. Mein Herz schlägt ruhiger, denn je zuvor seit meinen Kinderjahren. Doch nun gehe, Marianne. Ich fühle mich erschöpft nach den heutigen erschütternden Ereignissen und den mit diesen Hand in Hand gehenden Seelenkämpfen.«

Ein Viertelstündchen später, da erlosch das letzte Licht in dem Herrenhause. Im Negerdorf blinzelte dagegen noch längere Zeit ein matt erhelltes Fenster. Hinter demselben wurde Susanna nicht müde, der Großmutter die erstaunlichsten Dinge zu berichten. Der greise Pompy, zwischen den Lippen die kalte Tonpfeife, nickte in seinem Lehnstuhl.


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