Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Die Uhr ist abgelaufen.

Wenn freundliche Hoffnungen diejenigen, die zu Melvillehouse gehörten, bis in ihre Träume hinein begleiteten, so wachten an Slowfields Lager alle Furien der Hölle. In tollem Reigen umkreisten sie ihn. Hohnlachend schwangen sie ihre Geißeln und zauberten sie Bilder des Entsetzens vor ihn hin, wenn nur immer der Schlaf Miene machte, ihn in Vergessenheit zu versenken. Wie die hereinbrechende Nacht mit den ihn umringenden Schreckgespenstern ihn bewog, in einem einsam gelegenen Gehöft Zuflucht zu suchen, so sehnte er jetzt den Tag herbei, um die ihn gastfrei bedienenden sorglosen Menschen zu fliehen und seine Reise fortzusetzen. Er fürchtete, was hinter ihm lag, gedachte mit Grauen der Zukunft. Sogar sein eigenes Haus erschien ihm wie ein Abgrund, seitdem die ihn unbarmherzig geißelnden Furien die Gesichtszüge Nellys in allen verschiedenen Lebensstadien: von der fröhlich in den Tag hinaus lachenden Jungfrau bis zu dem in Haß sich verzehrenden, verfrüht gealterten Weibe angenommen hatten. Doch wie ihm verstrich auch Nelly die Nacht schlaflos, nur daß sie Ruhe weder suchte noch wünschte.

Seitdem durch Kit Kotton, der nicht geruht hatte, bis er Harrys Herkunft festgestellt hatte, ihr unglücklicher Sohn ihr zugeführt worden war, hatte sie den Charakter empfindungslosen Marmors angenommen. Kein Laut der Klage war mehr über ihre Lippen gekommen, keine Träne hatte ihren Blick verschleiert. Sie rieb sich gleichsam auf in der Pflege ihres Kindes, sie küßte es und beruhigte es schmeichelnd, allein vergeblich hätte man in ihren todbleichen Zügen nach einem Merkmal zärtlicher Empfindungen gesucht. Was sie sprach, was sie verrichtete: alles geschah mit dem unheimlichen Ausdruck einer Somnambulen, die ihre Bewegungen mechanisch ausführt, während der Geist planlos in unbegrenzten Räumen schweift. Nur einmal belebte ihr starres Antlitz sich ein wenig, und zwar am Morgen nach der ersten Nacht, die sie in ununterbrochener Überwachung ihres Sohnes verbrachte, als Louis, ihr junger brauner Verwandter, vorsprach und sich nach ihren Wünschen erkundigte. Ein kurzes Gespräch führte sie mit ihm in dem Flurgange; dann entließ sie ihn mit einem ungewöhnlich reichen Geldgeschenk und einem besonders wichtigen Auftrage. Und abermals begrüßte sie ihn lächelnd, als er abends nach Einbruch der Dunkelheit Einlaß begehrte und demnächst die pünktliche Ausführung des ihm erteilten Auftrages meldete. Anstatt ihn in ihre eigene Wohnung zu führen, ließ sie ihn in Slowfields Zimmer eintreten. Dort überreichte er ihr ein längliches, mit grauem Sacklinnen lose umhülltes Paket. Hastig und doch vorsichtig öffnete sie dasselbe. Es enthielt etwa ein Dutzend dicht mit Dornen besetzter Zweigenden wilder Rosen. Aufmerksam prüfte sie jeden einzelnen Stab. Hin und wieder betastete sie auch die Dornen, wie um sich von deren Schärfe zu überzeugen.

»Die sind sehr gut ausgewählt,« sprach sie träumerisch, die Stäbe wieder sorgfältig zusammenlegend, »ich hoffe, sie treiben nun Blätter, wenn ich sie in Blumentöpfe stecke und es nicht an Wasser fehlen lasse.«

Sie sann einige Sekunden nach, und in der ihr eigentümlichen ausdruckslosen Weise fuhr sie fort: »Wenn du nach Hause kommst, sage deiner Mutter, ich stünde im Begriff, eine größere Reise anzutreten. Nun habe ich mir aber etwas Geld erspart, mehr als ich zur Reise gebrauche – über sechshundert Dollars sind's – und weil ich fürchte, daß sie mir während meiner Abwesenheit geraubt werden könnten – dem Slowfield ist nämlich das Ärgste zuzutrauen – lasse ich deine Mutter bitten, das Geld bis zu meiner Heimkehr in Verwahrung zu nehmen. Sage ihr, wenn ich ganz fortbliebe – ich kann ja sterben – so gehöre es ihr, und sie möchte es zu ihrem und ihrer Kinder Bestem verwenden.«

Sie händigte dem erstaunten Burschen ein straff gefülltes Säckchen ein und fügte hinzu: »Lauter echte Goldadler sind es; obenauf liegt ein Zettel, auf dem steht geschrieben, daß ich sie deiner Mutter schenke. Den mag sie vorzeigen, wenn die Leute ihr Böses nachsagen sollten. Hier ist noch ein Dollar für dich besonders, denn auf heute abend habe ich nichts für deinen Hunger im Hause. Dafür kaufe dir, was dir beliebt, und nun gehe; ich will allein sein. Kannst dir denken, daß Reisevorbereitungen Zeit erfordern. Vor übermorgen abend laß dich hier nicht sehen; Slowfield mag in jeder Stunde eintreffen, und findet er dich, so bürge ich nicht dafür, daß du ungehärmt von dannen gehst.«

Sie führte den vor Erstaunen sprachlosen Burschen auf den Flur hinaus, und mit einem letzten freundlichen Gruß entließ sie ihn. Fortgesetzt ihre geisterhafte Ruhe bewahrend, schloß sie die Tür hinter ihm ab, und die Dornenstäbe an sich nehmend, schlich sie in ihr Zimmer zurück.

Ihr erster Weg führte zu ihrem Sohne. Auf ihrem Bett lag Harry schlafend, ein trauriges Bild der Schwäche und Hinfälligkeit. In der einen Hand die Lampe, in der anderen die Dornenstäbe, betrachtete sie ihn lange aufmerksam. Nur noch matt regten sich die Nasenflügel vor dem leise röchelnden Atem. Näher und näher hatte der Tod sich dem bejammernswerten Geschöpf zugeneigt; sein Leben zählte höchstens nach Tagen, vielleicht war die nächste Stunde seine letzte.

Da regten sich seine farblosen Lippen und tiefer beugte Nelly sich über ihn.

»Ein Alligator ist Slowfield,« lispelte er im Fiebertraum, »Mutter – Mutter – ein Alligator –« er verstummte und schlief anscheinend ruhig weiter.

»Ein Alligator,« wiederholte Nelly ebenso leise. Wie ihn segnend, küßte sie ihn sanft auf die Stirn, und in ausdrucksloser Haltung schritt sie nach dem Tisch hinüber. Auf diesen stellte sie die Lampe, dann ordnete sie die Dornenstäbe seitwärts in eine Reihe. Nachdem sie das Fläschchen mit dem Schlangengift und einen von ihrem eigenen Haar angefertigten Pinsel herbeigeholt hatte, ließ sie sich vor dem Tisch nieder.

Zunächst entfernte sie von dem unteren Ende der Stäbe so viel Dornen, daß sie diese, ohne sich zu verletzen, zu halten vermochte, und nunmehr begann ein Werk so finster, so Unheil verkündend, wie es eben nur von einem zur Verzweiflung getriebenen Mutterherzen, von unauslöschlichem Haß und nie schlummerndem Rachedurst eingegeben sein konnte. In der linken Hand einen der Stäbe, in der rechten den Pinsel und vor sich die offene Flasche, bestrich sie die Dornen einzeln mit dem tödlichen Gift, sorgfältig darauf achtend, daß namentlich die Spitzen reichlich getränkt wurden. Es war eine mühselige Arbeit; aber ihre Geduld war unerschöpflich. Eine mit Weißstickerei beschäftigte Nähterin hätte nicht eifriger und geschäftsmäßiger einen Stich an den anderen fügen können. Was sie trieb, was sie vorbereitete, sie war so vertraut damit, als hätte sie ihre Fertigkeit durch jahrelange Übung erlangt gehabt; und doch war diese Sicherheit nur das Ergebnis jahrelangen Sinnens und Grübelns.

Den ersten Stab hatte sie getränkt. Vorsichtig legte sie ihn rechts von sich nieder, und ein anderer wurde zur Hand genommen und hergerichtet. Dem zweiten folgte der dritte, dem dritten der vierte, und weiter, bis alle ihren Weg von der linken Seite nach der rechten hinüber gefunden hatten. Die Flasche vor die Lampe haltend, prüfte sie deren trüben Inhalt. Die Hälfte hatte sie verbraucht und aufs neue die Hände regend, ließ sie die Stäbe einen nach dem anderen nunmehr von der rechten Seite nach der linken hinüberwandern. Stunde auf Stunde verrann. Nur dann stellte sie die Arbeit auf kurze Zeit ein, wenn ihr todkranker Sohn sich regte und sie ihn durch einen kühlen Trunk und beruhigende Worte wieder einzuschläfern trachtete. Hier heiße, unergründliche Mutterliebe, dort kalt überlegender, mit Tod und Verderben rechnender Rachedurst, und beides hinter demselben unbeweglichen, marmorstarren Antlitz! Was hatte dazu gehört, um ein ursprünglich loses, mit den höchsten äußeren Reizen verschwenderisch ausgestattetes Wesen so weit zu bringen! Stunde auf Stunde verrann. Der anbrechende Tag machte das Lampenlicht bereits überflüssig, als das letzte Gifttröpfchen verbraucht war und von jedem einzelnen Stabe hundertfacher Tod dräute.

Wie der Meister eine gelungene Arbeit, betrachtete Nelly ihr Werk eine Weile nachdenklich. Dann überzeugte sie sich von dem festen Schlaf ihres Sohnes, und die Dornenstäbe in einen Korb legend, begab sie sich mit denselben in Slowfields Schlafgemach. Eine düstere Kammer war es mit eisernen Fensterladen und eisenbeschlagener Türe, durch die er unter der Last eines schuldbeschwerten Gewissens sich gegen hinterlistige nächtliche Angriffe gesichert zu haben wähnte. Selbst seiner langjährigen Hausgenossin traute er nicht, und ihr sogar weniger, als jedem anderen Menschen. Das Bett stand zur Aufnahme seines Besitzers bereit, die Decke war zurückgeschlagen. Unzählige Male hatte Nelly es geordnet; sie wußte genau, in welcher Weise Slowfield sich zur Ruhe begab, in welcher Lage er den Schlaf erwartete. Träumerischen Blickes entfernte sie das Laken; träumerisch verteilte sie die Dornenstäbe derartig auf der Matratze, daß gewissermaßen ein Eingang frei blieb, die Wirkung der Dornen daher erst beim Ausstrecken der Glieder sich bemerklich machen konnte. Nachdem sie die Sicherheit gewonnen zu haben meinte, daß ein Fehlschlagen ihres Planes nicht denkbar, zog sie das Laken wieder über die Matratze hin. Mit fester Hand glättete und befestigte sie es ringsum, daß selbst das argwöhnischste Auge nichts Ungewöhnliches an demselben entdeckt hätte.

Bevor sie die Kammer verließ, blickte sie noch einmal um sich. So weiß, so sauber und einladend sah das Bett aus, als hätte es einen nach langem ermüdenden Ritt Heimkehrenden willkommen heißen wollen. Alles lag und stand, wie Slowfield es seit vielen Jahren nicht anders kennen gelernt hatte. Der hundertfache qualvolle Tod aber, der unter dem weißen Laken auf ihn lauerte, das war ja nicht mehr, als die unerbittliche Rächerin selbst so viele Jahre hindurch erduldet hatte.

Leise, wie ein Schatten, begab Nelly sich in ihre Wohnung zurück.

Der neue Tag schlich dahin. Wie an toten Gegenständen zogen die Stunden an Mutter und Sohn vorüber. Beide hatten die Berechnung für die Zeit verloren, dieser im Ersterben der Vernunft, jene in dem dumpfen Bewußtsein, eine letzte Pflicht pünktlich erfüllt zu haben. Die Uhr war aufgezogen, sie mußte ablaufen, gleichviel, in welcher Minute der Zeiger stehen blieb.

Die Nacht war bereits vorgeschritten, als endlich das dumpfe Dröhnen des Türklopfers durch das stille Haus schallte, mit dem Slowfield Einlaß begehrte. Schon seit Stunden hatte er sich in der Stadt befunden. Die Sonne leuchtete noch, als er sein Pferd vor dem Stalle des Vermieters anhielt. Dann hatte er sich nach einem Gasthofe begeben, um bei einem schwelgerischen Mahl seine Sorgen zu vergessen. Unbesiegbare Scheu erfüllte ihn bei dem Gedanken an seine Heimkehr. Immer weiter schob er sie hinaus. Er fürchtete das eigene Haus, fürchtete die finster blickende Quarterone, vor allem aber die Speisen, die sie ihm vorsetzen würde. Er, der um schnöden Gewinn mit der Wohlfahrt und dem Leben anderer sein verbrecherisches Spiel trieb, witterte selber überall Verrat. Sich zu ermutigen, trank er Glas auf Glas; er trank, bis er endlich glaubte, die unheimliche Hausgenossin wie einen Wurm zertreten, sich dieses ewigen Drohgespenstes auf die eine oder die andere Art, selbst durch das eigene Davongehen entledigen zu können. Dieselbe trotzige Zuversicht beseelte ihn noch, als er den Türklopfer hob und niederfallen ließ; sie sank aber dahin, sobald er eingetreten war und er Nelly todbleichen Antlitzes in aufrechter Haltung vor sich stehen sah. Eintönig, daß ihm vor ihr graute, beantwortete sie seinen in herzliche Formen gekleideten Gruß; dann verschloß und verriegelte sie die Tür, und ihm vorausleuchtend begleitete sie ihn in seine Wohnung. Wie gewöhnlich bediente sie ihn, wie gewöhnlich fragte sie, ob er noch zu speisen wünsche.

»Ich habe bereits gegessen,« antwortete Slowfield erzwungen sorglos, und in demselben Maße, in welchem Nelly mit ihrer starren Ruhe ihm bedrohlicher erschien, verflüchtigte sich die Wirkung der im Übermaß genossenen Getränke, »das einzige, was ich bedarf, ist Ruhe nach dem anstrengenden Ritt.«

»Sie kommen von weit her,« versetzte Nelly vollständig ausdruckslos, »Sie haben viel gesehen und gehört: fanden Sie meine Kinder?«

Slowfield fühlte das Blut in seinen Adern erstarren. Furchtbarer, denn je zuvor, erschien ihm diese unzählige Male an ihn gerichtete Mahnung. Er besaß indessen die Selbstbeherrschung, tröstlich zu antworten:

»Um deine Kinder beruhige dich, Nelly, die befinden sich in guten Händen und gedeihen von Tag zu Tag.«

»Auch mein Sohn Harry?«

»Ein ganzer Mann ist er geworden.«

Nelly zuckte mit keiner Miene und fragte weiter: »Und Fanny, meine Tochter?«

»Man schrieb mir, sie entwickele sich immer schöner. Sie muß das Ebenbild ihrer Mutter werden. Du glaubst mir nicht; ich sehe es dir an. Aber ich will dich überzeugen. In einigen Tagen gebe ich dir Geld, da magst du zu ihnen reisen und sie hierher bringen. Den Weg beschreibe ich dir genau, daß du nicht irren kannst. Doch jetzt begib dich zur Ruhe und überlege dir die Sache. Was nur immer du wünschen magst, in allem komme ich dir gern entgegen.«

Anstatt, wie Slowfield zuversichtlich erwartete, Ausdrücke des Dankes und freudiger Hoffnungen zu vernehmen, kehrte die Quarterone sich mit einem frostigen: »Gute Nacht« ab und in ihrer seltsam geräuschlosen Weise verließ sie das Zimmer. Slowfield lauschte ihr so lange nach, bis er sie ihr Gemach betreten hörte; dann verriegelte er die Tür und jetzt erst atmete er auf.

»Das kann nicht so weiter gehen,« sprach er vor sich hin, »diese ewige Marter bringt mich um. Eines muß aus dem Hause, entweder sie oder ich, koste es, was es wolle.«

Das Aussprechen dieses Entschlusses brachte ihm Beruhigung; nachdem er in seine Schlafkammer hineingeleuchtet und von der daselbst herrschenden Ordnung sich überzeugt hatte, begann er sich langsam zu entkleiden. Nelly saß zu derselben Zeit neben der offenen Tür ihres Zimmers. Das Haupt auf Arme und Knie gestützt, schien sie entschlafen zu sein, und doch lauschte sie mit tödlicher Spannung.

Fünf, sieben, zehn Minuten verstrichen in lautloser Stille, dann aber wurde plötzlich die Tür zu Slowfields Wohnung aufgerissen und heraus schallte ihres Herrn Stimme, der sie laut bei Namen rief.

Nelly richtete sich auf. Ein Blitz des Triumphes zuckte aus ihren großen dunklen Augen und sofort versteinerte ihr Antlitz sich wieder.

»Ich komme!« antwortete sie, indem sie sich erhob und ihre Lampe nahm, und ohne ihre gemessenen Bewegungen zu beschleunigen, leistete sie dem Ruf Folge.

Sie fand Slowfield in der Tür stehend. Er hatte den Schlafrock angezogen, also schon in seinem Bett gelegen. Wenn aber Wut sein Gesicht entstellte und die das Licht tragende Hand zittern machte, so wirkte Nellys Erscheinung geradezu einschüchternd auf ihn ein: denn anstatt in wilde Schmähungen auszubrechen, fragte er mit verhaltenem Grimm, wer sein Bett geordnet und Stacheln in demselben verborgen habe.

»Stacheln?« fragte Nelly eintönig, »haben Sie sich etwa verletzt?«

»Den ganzen Körper zerstach ich mir,« schnaubte Slowfield mit wachsender Wut, »Stacheln, sage ich, und die können nicht durch Zufall in mein Bett gekommen sein.«

»Nein, nicht durch Zufall,« gab Nelly frostig zu, und zum erstenmal milderte ihr Gesichtsausdruck sich zu einem vergeistigten matten Lächeln, »ich selber habe auf Dornen geschlafen, seitdem ich die Schwelle dieses Hauses zum erstenmal überschritt; da legte ich Rosenzweige unter Ihr Laken, damit auch Sie kennen lernen sollten, wie es sich auf Dornen ruht.«

»Das hat dir der Satan eingegeben,« fuhr Slowfield wild auf, und er folgte Nelly nach der Schlafkammer, »abgebrochen sind die Stacheln in meiner Haut, daß es schmerzt, wie höllisches Feuer. Der Doktor wird morgen eine Stunde gebrauchen, um sie alle herauszuziehen. Ich sage dir, Weib, bringst du mit deiner Tücke mich zum Äußersten, so stehe ich für nichts. Zu lange schon übte ich Geduld, und die erreichte mit dem heutigen Tage ihr Ende.«

»Ihr Schmerz schwindet in einer Stunde,« erwiderte Nelly vollständig leidenschaftslos, »der meinige hat gedauert an die zwanzig Jahre, ohne sich jemals zu mildern.«

Mit den letzten Worten schlug sie das Laken zurück, und neue Vorwürfe und Drohungen strömten auf sie ein, als Slowfield gewahrte, mit welchem Bedacht die dornigen Zweigenden geordnet worden waren.

»Ich hätte Lust, dir eins der Dinger durch dein verräterisches Angesicht zu ziehen,« bemerkte er zähneknirschend, »faßt du sie doch an, als ob deine Haut ehrlicher wäre, als die meinige.«

»Tun Sie das,« versetzte Nelly gleichmütig, »ich habe Ärgeres erduldet, als das,« und ohne Slowfield weiter zu beachten, der sich in immer neuen Verwünschungen erging, richtete sie sein Lager wieder her, das mit Blutflecken besäte Laken sorgfältig glättend, wie je in längst vergangenen Tagen, wenn es galt, ihre Kinder sanft zu betten.

»Beeile dich und mache, daß du von dannen kommst,« fuhr Slowfield nach einer Pause wieder auf, »deine Fürsorge erspare für dein eigenes Lager; ist's doch verdammte Heuchelei – fort und der Satan über dich! Mich fröstelt; die Pein, die ich jetzt erdulde, soll dir nicht vergessen sein.«

Schweigend ordnete Nelly die Stäbe mit den dornenlosen Enden in ihrer linken Hand, und die Lampe mit der anderen ergreifend, entfernte sie sich nach kurzem Gruß.

In ihre Stube zurückgekehrt, schürte sie zunächst das Feuer in dem Kochofen, und die Stäbe mittels eines Hackmessers knickend, legte sie dieselben oben auf die knisternde Glut. Bevor dieselben noch ganz in Asche zerfielen, schüttete sie einen neuen, übermäßig großen Steinkohlenvorrat aus, und dann erst, nachdem sie von dem frischen Brennen des Feuers sich überzeugt hatte, begab sie sich wieder an das Lager ihres in einen todähnlichen Schlaf versunkenen Sohnes.

Dort saß sie mit gefaltenen Händen wohl eine halbe Stunde. Weder Schmerz noch Spannung offenbarte sich in ihrem Antlitz. Die Uhr war aufgezogen, sie mußte ablaufen. Sie kannte nur noch geduldiges Warten, bis der Zeiger zum Stillstand gelangte.

Da drang der Ton einer mit Heftigkeit gezogenen schrillen Klingel zu Nellys Ohren.

»Schon?« sprach sie träumerisch vor sich hin; einen langen, schwermütigen Blick warf sie auf ihren Sohn, und die Lampe vom Tisch nehmend, folgte sie abermals dem Rufe ihres Herrn.

Sie fand die Türen entriegelt, Slowfield dagegen in seinem Bett. Gleich nach dem Niederlegen war er eingeschlafen. Doch nur kurze Zeit, und es ermunterten ihn rasende Schmerzen, welche seinen ganzen Körper durchzogen, und unregelmäßiges Hämmern des Blutes in seinen Schläfen. Eine Weile dauerte es, bis er hinlänglich Besinnung gewann, ein Licht anzuzünden. Mühsam schleppte er sich nach der Tür, durch Zurückschieben des Nachtriegels den Weg für Nelly freilegend. Nachdem er darauf an der Klingelschnur gerissen hatte, blieb ihm nur noch gerade so viel Kraft, um sein Bett wieder aussuchen zu können.

Als Nelly bei ihm eintrat, stierte er entsetzt zu ihr empor.

»Nelly,« redete er sie keuchend an, »Nelly, ich fühle mich sehr krank. Die in meine Haut eingedrungenen Stacheln vergiften mein Blut. Dir fällt alle Schuld zu – eile zum Doktor – er soll auf der Stelle hierher kommen.«

»Es ist nichts,« erwiderte Nelly fast tonlos, »ich kenne das; die Dornen in meinem Herzen verursachen mir viel größere Qualen, und manches Jahr ertrug ich sie ohne Klage. Doch ich will Ihnen helfen. Ich besitze eine Medizin, die heilt jedes Fieber, und mehr als etwas Wundfieber ist's bei Ihnen nicht.«

»Dann schnell, Nelly, schnell,« keuchte Slowfield wiederum angstvoll, »hole es schnell herbei und rede mir nicht mehr von grauenhaften Dingen. Du siehst ja, daß ich sehr krank bin. Sobald ich mich wohler befinde, will ich selber hin, um deine Kinder herbeizuschaffen – nur schnell jetzt mit deiner Hilfe – schnell, oder die Schmerzen bringen mich um, bevor du zurückkehrst.«

Nelly kehrte sich ab. Ihre Lampe stellte sie im Vorzimmer auf den Tisch und gleich darauf unterschied Slowfield, wie sie den Weg nach ihrem Zimmer einschlug. Länger, als er geglaubt hatte, blieb sie fort, und als er sie kommen hörte, da schlich sie langsam einher, als hätte sie ihn dadurch verhöhnen wollen.

»Nelly! schnell! Nelly, um Gottes willen!« rief er wild aus, sobald sie in das Vorzimmer eingetreten war, »beeile dich oder ich ersticke! Nelly! Nell –«

Er verstummte.

In der Kammertür, voll beleuchtet durch das neben seinem Bett brennende Licht, stand Nelly, auf ihren starken Armen eine entsetzlich hagere Gestalt, die dem Leben nicht mehr anzugehören schien. Das Haupt ruhte auf ihrer rechten Schulter, während die langen Glieder schlaff niederhingen und den Fußboden beinah berührten.

»Sie hätten's nicht geglaubt, darum bring ich ihn trotz seiner Schwäche,« begann Nelly in eisigem Tone. »Hier ist mein Sohn Harry, ein Vernunftloses Geschöpf; meine kleine Fanny liegt in der Erde, und dies alles fällt Ihnen zur Last. Heute halten wir Abrechnung miteinander. Die Stunde ist gekommen, Mr. Slowfield –«

Schaudernd richtete Harry sich bei Nennung dieses Namens empor, einen angstvollen blöden Blick warf er um sich und sichtbar entsetzt rief er aus: »Slowfield ist ein Alligator!«

Laut auf stöhnte Slowfield, dann entrang sich seiner Brust ein Angstruf, der an nichts Menschliches mehr erinnerte. Nelly dagegen, die Unruhe ihres Sohnes gewahrend, trug ihn schnell in das Vorzimmer zurück, wo sie ihn sanft auf das Sofa bettete und in seiner Kraftlosigkeit leicht beschwichtigte. In der nächsten Minute stand sie wieder in der Kammertür, mit kalten Blicken die Bewegungen ihres sich krampfhaft windenden Opfers verfolgend. Erst als Atemlosigkeit ihm die Stimme raubte, er gewissermaßen nur noch mit den weit aus ihren Höhlen hervorquellenden Augen zu sprechen vermochte, hob sie an:

»Mr. Slowfield, Sie leiden; und doch sind Ihre Qualen Kinderspiel im Vergleich mit denjenigen, die Sie mir bereiteten. Damit Sie es wissen: Sie müssen sterben. Jeder einzelne Dorn, der in Ihr Fleisch drang, gibt Ihnen den Tod. In Schlangengift hatte ich die Stäbe getaucht, bevor ich Ihr Lager damit schmückte.« Das verzweiflungsvolle Geheul, untermischt mit den entsetzlichsten Flüchen, in das Slowfield nunmehr ausbrach, hinderte sie, weiter zu sprechen. Als hätte sie Beistand leisten wollen, schritt sie zu ihm hinüber. Doch nur den neben seinem Bett liegenden Revolver nahm sie, das Licht nebst Feuerzeug, und schweigend trat sie wieder auf die Türschwelle. Dort kehrte sie sich um, und dem wieder atemlos Daliegenden einen Blick des wildesten Hasses zuwerfend, sprach sie mit gleichsam zischender Stimme: »Sie sterben im Dunkeln ebensogut. Wenn morgen die Leute kommen und die Tür erbrechen, finden sie eine fürchterlich entstellte Leiche –«

Mit letzter Kraft raffte Slowfield sich empor, doch er kämpfte noch ums Gleichgewicht, da hatte Nelly den Revolver zur Seite geworfen, den innen steckenden Schlüssel ausgezogen, die Tür zugeschmettert und von außen doppelt verschlossen. Nicht achtend des grauenhaften Brüllens, Flehens und Jammerns, das jetzt nur noch gedämpft zu ihr herausdrang, begab sie sich zu ihrem Sohne. Liebreich und mit der ganzen unergründlichen Zärtlichkeit einer Mutter sprach sie zu ihm in süßen Schmeicheltönen. Das Rachewerk war vollbracht, nichts mehr störte sie in der Sorge um ihr Kind.

Als sei er nicht schwerer gewesen, als einer der in Gift gebadeten Stäbe, hob sie den sich ängstlich an sie Anschmiegenden empor. Vorsichtig in ihr Zimmer zurückkehrend, bettete sie ihn sanft auf sein bisheriges Lager, wo er unter ihrem liebevollen Zuspruch alsbald wieder in eine Art Betäubung verfiel.

Der Ofen glühte und strömte beinah unerträgliche Hitze aus. Trotzdem versah sie ihn mit neuen Kohlen. Kurze Zeit beobachtete sie die blauen Flämmchen, die oberhalb derselben munter tanzten, dann schloß sie die Zugklappe des Rohrs. Bedachtsam stellte sie die Lampe so auf, daß deren Schein das Bett vom Kopfende her streifte; denn sehen wollte sie ihr unglückliches Kind bis zum letzten Augenblick, und wie jemand, der nach vollbrachtem Tagewerk übermüdet, legte sie sich an dessen Seite nieder. Den einen Arm schob sie sanft unter dem Halse des fest Schlummernden hindurch, mit dem anderen preßte sie ihn leise an sich, und ihre weit geöffneten traurigen Augen auf das stille abgezehrte Antlitz gerichtet, blieb sie bewegungslos liegen.

 

Zwei Tage später las man in den Zeitungen unter den Tagesneuigkeiten:

»Wiederum hat die Befreiung der Farbigen ein Opfer gefordert.

Ein hochgeachteter Landagent, namens Slowfield, ist von seiner Haushälterin, einer Quarterone, auf die ruchloseste Weise mittels Schlangengift ermordet worden. Da die Verbrecherin nach vollbrachter Tat sich selbst und ihren Sohn durch Einatmen von Kohlendunst tötete, ist anzunehmen, daß sie in einem Anfall von Wahnsinn handelte. Es kann nicht dringend genug zur Vorsicht den Abkömmlingen der afrikanischen Rasse gegenüber geraten werden. Der Anblick, den der Ermordete bot, nachdem man sich gewaltsam Zutritt zu ihm verschafft hatte, läßt sich nicht beschreiben. Er zeugte zugleich von der Raffiniertheit, mit der die Farbigen bei Ausübung von Verbrechen zu Werke gehen.«


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