Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Achtes Kapitel.

In Fort Napoleon.

Der Frühling ist da. Blumenglöckchen haben ihn pünktlich eingeläutet. In neues Grün kleidete er alles, was dem kurzen, vorzugsweise aus rauhem Regenwetter bestehenden Winter seinen Tribut an gestorbenen Blättern und verblichenen Halmen zollte. Nicht mehr kriegerisch ausgerüstete Dampfer kommen auf dem Arkansas vorüber – der letzte Kanonenschuß verhallte schon vor Jahresfrist – sondern andere, die dem erst schüchtern erwachenden Handel und Verkehr dienen. Die Menschen atmen auf. Die einen nach herben materiellen Verlusten, die anderen nach Sicherung des reichen Gewinns, welchen sie mit kluger Berechnung aus dem Kriege selber zogen. Wo aber dem Herzen Wunden geschlagen wurden, da ist an ein Verharschen nicht zu denken. Der Trauer um Unersetzliches gegenüber bleiben die dahinrollenden Jahre wirkungslos.

Es ist Nachmittag. Eine schwarzgekleidete Frau sitzt in dem Vorgarten jenes Häuschens unter dem Magnoliabaum vor einem großen runden Tisch, mit dem Anfertigen eines Kinderkleides beschäftigt. Obgleich der Lebensfrühling hinter ihr liegt, ist ihr Antlitz noch immer sehr schön. Scharf kontrastieren zu der zarten Hautfarbe das dunkle Haar und die schwarzen Brauen und Wimpern. Die Augen überwachen ernst die regsamen Hände und wenn sie ihre Blicke langsam um den Tisch herumschweifen läßt, erhellt innige Freude ihre Züge. Drei Kinder sitzen vor ihr, ein Knabe von etwa zwölf Jahren und zwei Mädchen im Alter von zehn und acht, und alle drei, je nach ihrer Befähigung, mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt. Lieblicher Eifer thront auf den kleinen Gesichtern, hin und wieder unterbrochen durch eine Meinungsverschiedenheit über den jedem gebührenden Raum oder die gleichzeitige Benützung des Tintenfasses. Die Jüngste, ein beinahe zu ätherisches Wesen, reicht auch wohl gelegentlich ihr Heft der Mutter, die zugleich Lehrerin ist, um einen besonders gutgelungenen Buchstaben bewundern zu lassen. Die Mutter lächelt schwermütig und doch mit einem Ausdruck des Glücks, und die Kleinen nehmen ihre Arbeit wieder auf.

Eine Dampfpfeife läßt vom Strom her ihre heulende Stimme erschallen. Die Kinder springen auf.

»Der kommt von New-Orleans herauf und landet hier; ich hör's am Ton,« meint der Knabe mit großer Entschiedenheit, dann vereinigt er seine Bitten mit denen der Schwestern, nach der Landungsstätte hinübergehen zu dürfen.

Die Erlaubnis wird erteilt, jedoch unter der strengen Bedingung, daß man sich abseits vom Gedränge und außerhalb des Weges halte, auch dem Ufer nicht zu nahe trete.

Lustig eilt die kleine Gesellschaft aus dem Vorgarten quer über eine wüste Baustelle dem nahen Strome zu.

Die bleiche Frau ließ ihre Hände rasten und sah den davonstürmenden Kindern nach. Wie lange sie so dagesessen hatte, wußte sie selbst kaum. Mit ganzer Seele ernsten Betrachtungen hingegeben, war ihrem Ohr das Geräusch entgangen, mit dem der herbeikeuchende Dampfer anlegte und das Ausladen von Gütern und das Einnehmen von Brennholz für die Maschinen ins Werk gesetzt wurde. Wie aus einem Traume schrak sie daher auf, als plötzlich die Gartenpforte sich knarrend öffnete und ein Herr im Reiseanzuge sich schnellen Schrittes näherte. Kaum aber hatte sie einen vollen Anblick des gelblichen Kreolengesichtes mit dem dünnen schwarzen Vollbart gewonnen, als es wie eine Wolke peinlichen Erstaunens ihr Antlitz umdüsterte, zugleich eine matte Röte sich über das selbe ausbreitete.

»Seien Sie mir von ganzem Herzen gegrüßt, Mrs. Stocton,« redete der Ankömmling sie alsbald mit einer gewissen ehrerbietigen Vertraulichkeit an, und er reichte der sich kalt Verneigenden die Hand, »eben von New-Orleans eingetroffen, eile ich hierher, um mich einiger dringender Aufträge zu entledigen. Aus solchen Gründen unterließ ich es auch, Ihre Kleinen, die ich aus der Ferne wahrnahm, zu begrüßen. Eine liebliche Gruppe bildeten sie, wie sie, an sicherem Ort auf einem Baumstamm sitzend, die bei dem Dampfer sich entwickelnden Szenen eifrig besprachen.«

»Wer könnte noch Aufträge an mich haben?» fragte Marianne ernst zurück, die den Kindern gespendeten Lobpreisungen überhörend. »Aber bitte, Mr. Slowfield, nehmen Sie Platz. Legen Sie es nicht als Mangel an Gastfreundschaft aus, wenn meine Einladung nicht weiter reicht. Sie wissen, ich bin nicht in der Lage, Gäste so zu empfangen, wie es einst in dem Hause meiner Eltern geschah.«

»Die Aufträge rühren von Ihrer verehrten Tante Sarah her,« erwiderte Slowfield verbindlich, »und ich müßte mich sehr täuschen, wenn es nicht in ihre Hand gegeben wäre, Ihre Lage in einer Weise zu verbessern, daß ein Unterschied zwischen dem Früher und dem Jetzt kaum bemerkbar.«

»So?« fragte Marianne eintönig, »es liegt also in Ihrer oder meiner Tante Gewalt, Tote ins Leben zurückzurufen?«

Slowfield zögerte einige Sekunden, dann sprach er mit vor Teilnahme bebender Stimme: »Mrs. Stocton, Sie besitzen drei liebliche, hoffnungsvolle Kinder; schon um derentwillen allein sollten Sie es aufgeben, die Trauer um teure Dahingeschiedene ausschließlich bei allem Denken, Sinnen und Handeln als maßgebend gelten zu lassen. Sie entsinnen sich, daß es mir vergönnt gewesen ist, Ihres edlen Vaters letzte Stunden treu zu überwachen, seine letzten Worte und Segnungen für Sie in Empfang zu nehmen. Daraufhin aber darf ich die Behauptung aufstellen, daß, stände er jetzt hier vor uns, mein eben ausgesprochener Rat seine Billigung fände, er allem zustimmen würde, was vor Ihnen zu offenbaren ich mir erlaube. So war er es auch – und heute mag ich frei darüber sprechen – der mir anvertraute, daß er Sie sowohl wie den armen Gilbert mit Abschriften testamentarischer Bestimmungen versah, deren Ausführung freilich nur in Ihrem gemeinschaftlichen Handeln mit Miß Sarah Melville ermöglicht werden kann. Die Gründe für sein Verfahren gehören jetzt nicht mehr hierher. Wohl aber darf ich beteuern, daß er dabei von der innigsten Anhänglichkeit für seine Kinder und der treuesten Sorge um deren Zukunft geleitet wurde.«

»Nie bezweifelte ich das,« versetzte Marianne schwermütig, »allein die von aufrichtiger Liebe getragene Erinnerung an ihn kann mich nimmermehr zu dem Versuch bewegen, ein Vermögen in meinen Besitz zu bringen, das ich als den Kaufpreis für die Trennung von Stocton betrachten müßte.«

Slowfield sann eine Weile nach, bevor er antwortete: »Ich achte und ehre Ihre Gründe zu hoch, als daß ich wagen möchte, Einsprache gegen dieselben zu erheben. Wohl aber darf ich darauf hinweisen, daß Sie Kinder besitzen und Ihnen das Recht kaum zusteht, diesen zu entziehen, was ihnen von dem Großvater zugedacht worden.«

»Sie werden einräumen, daß ich das, was meinen Kindern frommt, als Mutter am besten zu beurteilen vermag,« erklärte Marianne leidenschaftslos, »meinen Kindern stand ihr Vater näher, als der Großvater; darnach richten sich meine Entschlüsse.«

»Auch dieser Auffassung gegenüber fühle ich mich unfähig, Einwendungen zu erheben,« versetzte Slowfield beinahe klagend. »Wenn ich trotzdem versuche, dieses und jenes in ein günstigeres Licht zu stellen, so deuten Sie das nur allein dahin, daß in Erinnerung der jahrelangen innigen Beziehungen zu der Familie Ihres Vaters, beseelt von der aufrichtigsten Verehrung und herzlichsten Anhänglichkeit für seine hochherzige Tochter, ich dennoch alles in meinen Kräften stehende aufbieten möchte, Ihre Lage zu einer sorgenfreieren zu gestalten.«

»Ich danke Ihnen für den guten Willen, Mr. Slowfield, allein ich bedarf weder des einen noch des anderen. In meinen Augen tragen die Zinsen denselben Stempel, wie das Kapital. Daher bitte ich dringend, auch nach dieser Richtung mich fernerhin mit irgendwelchen Zumutungen zu verschonen. Sie sehen, ich lebe hier mit meinen Kindern, wenn auch nicht in glänzenden Verhältnissen, doch so, daß ich unseren bescheidenen Ansprüchen Genüge zu leisten vermag. Ich sehne mich nicht nach mehr. Am wenigsten möchte ich meine Hand auf ein Vermächtnis legen, vor dem ich wie vor Blutgeld zurückschaudern würde.«

»Aber es ist doch nur das, was unter anderen Umständen Ihnen ebenfalls zuerkannt worden wäre.«

»Das mag sein, mildert indessen nicht den Makel, der ihm unter den jetzigen anhaftet. Was ich mit Stocton nicht teilen durfte, will ich allein nicht besitzen.«

»So kennen Sie den Inhalt der letztwilligen Schrift?« fragte Slowfield, und die Augen mit den Lidern halb verschleiernd, suchte er die tödliche Spannung zu verheimlichen, welche ihn beseelte.

Marianne sah ihn befremdet an, antwortete aber ruhig: »Nein, ich kenne ihn nicht. Ich gab mir nicht die Mühe, sie zu lesen. Was hätte sie enthalten können? Am wenigsten Dinge, geeignet, den leisesten freundlichen Eindruck auf mich auszuüben. Wohl wußte ich, daß die Flüssigmachung des Vermögens nur im Verein mit Taute Sarah ausführbar; das aber konnte nur dazu beitragen, mich in meinem Entschluß zu bestärken. Ich wiederhole daher ausdrücklich: den Inhalt dieses Schriftstückes kenne ich nicht, will ich nicht kennen lernen, trotz der Beweise der Liebe, denen ich vielleicht begegnete. Nein, nimmermehr! Bin ich erst tot – Sie selber und Tante Sarah werden mich ja lange überleben – und Sie hegen auch dann noch freundschaftliche Gesinnungen für meine Familie, so bleibt es Ihnen unbenommen, den Kindern in vollem Maße alle jene Vorteile zuzuwenden, die selbst anzunehmen ich mich standhaft weigere. Ich gehe davon aus, daß ich kein Recht besitze, meinen Kindern das Vermögen ihrer Großeltern unzugänglich zu machen, sie hingegen keine Ursache haben, dasselbe abzulehnen. Das darauf bezügliche Schriftstück, seit Gilberts Tod das einzige noch vorhandene, werden Sie zu seiner Zeit in meinem Nachlaß finden.«

»Nein, nein, teuerste Marianne,« versetzte Slowfield dringlich, und er suchte ihre in feuchtem Glanz schwimmende Augen, »sprechen Sie nicht von Tod und Grab, wo Ihnen unzweifelhaft eine lange Lebenszeit, ein freundlicher, wenn auch mit wehmütigen Streiflichtern durchwobener Lebensabend beschieden ist. Und das Glück, das Ihnen anderweitig jäh abgeschnitten worden, es wird ersetzt werden durch Hoffnungen und Freuden, die in Ihren Kindern sich fortgesetzt erneuern, sich in erhöhtem Maße für Sie vorbereiten. Zwei Jahre ist es her, seitdem ich Ihnen die erschütternde Kunde von dem Tode Ihres edlen Vaters überbrachte. Sie war begleitet von seinem besten Segen für Sie und die teuren Kleinen. Seit jener Zeit hielt ich mich fern von Ihnen, mag ich immerhin – ich gestehe es freimütig – Sie unablässig heimlich überwacht haben, um bei irgendwelchen neuen Prüfungen zur Hand zu sein. Ängstlicher vermied ich, Worte zu Ihnen zu sprechen, wie Ihr sterbender Vater sie mir gewissermaßen in den Mund legte. Für Entweihung hielt ich es, für unwürdig, auch nur den Schein herauszufordern, als hätte ich den Sie beugenden Schmerz, die Trauer in ihrer ersten Heftigkeit zu irgendwelchen Zwecken ausnützen wollen. Zwei Jahre sind seitdem verstrichen; eine gewisse Ruhe hat sich nach den schrecklichen Erfahrungen und Ereignissen bei uns allen eingestellt. Fast wie ein Traum schweben uns heute jene wilden Kriegszeiten vor. Unvergänglich frisch, als seien sie gestern erst gesprochen worden, leben dagegen in meinem Inneren die Beschwörungen fort, die Ihr Vater, sichtbar von Angst um Sie erfüllt, an mich richtete, doppelt frisch, weil sie in meinem eigenen Herzen einen so tief ergreifenden Nachhall fanden, im Einklange standen mit allem, was mich einst zu den kühnsten Hoffnungen anregte, freilich aber auch die bitterste Entsagung im Gefolge hatte.«

Hier ließ Slowfield eine Pause eintreten. Er wollte Marianne Zeit gönnen, mit dem Vernommenen sich vertraut zu machen, sich gewissermaßen auf das vorzubereiten, was ihm noch auf den Lippen schwebte. Nicht ohne Besorgnis beobachtete er, daß sie wieder befremdet in seinen Augen zu lesen trachtete, banges Erstaunen sich in ihrem Blick offenbarte.

»Ich hoffe,« begann sie endlich, die zu erwartenden Offenbarungen in Zusammenhang mit den letztwillligen Verfügungen bringend, »die mündlichen Mitteilungen meines Vaters sind nicht auf irgendeinen Zwang berechnet gewesen. In solchem Falle müßte ich bitten, sie ungesagt zu lassen.«

»Auf keinen Zwang,« beteuerte Slowfield überzeugend; »nein, nicht auf den leisesten Zwang, oder ich würde mich nie zu deren Träger gemacht, sondern sie als ein unveräußerliches Geheimnis in meiner Brust verschlossen haben. ›Sorgen Sie für meine Tochter und deren Kinder,‹ sprach er mit letzter schwindender Kraft, ›wie beruhigt wollte ich sterben, dürfte ich das Bewußtsein mit hinübernehmen, daß der Schutz, den Sie der Witwe und den verwaisten Kindern angedeihen lassen werden, ein durch Gesetzeskraft berechtigter, durch die Kirche geheiligter wäre.«

Nach einer Pause, während welcher er vergeblich auf eine Erwiderung der noch immer wie betäubt Dasitzenden gewartet hatte, fuhr er eindringlicher fort: »Marianne, geliebte Marianne, ich schweife in die Vergangenheit zurück, in jene Tage, in denen ich, wenn auch unberechtigt, auf ein überschwängliches Glück an Ihrer Seite glaubte hoffen zu dürfen. Es sollte nicht sein. Meine Hoffnungen zerschellten; aber was nicht untergehen konnte, das war meine heiße Liebe zu Ihnen, die, anstatt eine Wandlung zum Gegenteil zu erfahren, sich allmählich auf alle Mitglieder der Familie Ihres unvergeßlichen Vaters übertrug. Jene Empfindungen leben heute noch, mögen sie immerhin ruhiger geworden sein, das Ungestüm früherer Jahre abgestreift haben; ruhiger, indem ich mich damit begnüge, als Freund und Beschützer, als der Vater Ihrer Kinder an Ihre Seite treten zu dürfen. Dann aber soll Ihr und der Ihrigen Glück und Seelenfriede mein eigenes Glück sein, mein Lohn dagegen, wenn auch erst nach Jahren, ein wenig Wohlwollen, vielleicht Dankbarkeit aus Ihren Augen zu lesen.«

Da richtete Marianne, wie beängstigenden Träumen sich entwindend, sich schwerfällig empor. Es war ersichtlich, sie hatte so lange geschwiegen, um sich mit ihrer neuen Lage vertraut zu machen, sich für eine Antwort zu entscheiden.

»Mr. Slowfield,« hob sie ruhig an, und einen ihren Körper durchrieselnden Schauder gewaltsam unterdrückend, sah sie fest in die flehentlich blickenden Augen, »zu dem Antrage sind Sie berechtigt, wie jeder andere ehrenwerte Mann, und ich weiß Ihnen Dank für das Wohlwollen, welches aus demselben spricht. Doch wer sagt Ihnen, wer mir, daß Stocton in der Tat nicht mehr unter den Lebenden weilt? Ich für meine Person kann mich von der Hoffnung nicht lossagen, den Vater meiner Kinder noch einmal wiederzusehen.«

»Weshalb diese Frage anregen?« rief Slowfield klagend aus, »weshalb mich in die traurige Lage versetzen, Sie beschwören zu müssen, der letzten Hoffnung endgültig zu entsagen? Teuerste Marianne,« und seine Stimme bebte vor erheuchelter Wehmut, »eine schreckliche Gewißheit ist in ihrer Wirkung immerhin milder, als eine verzehrende Ungewißheit; und so will ich einräumen, daß Stocton in der Tat gestorben. Ich erhielt die Kunde schon vor Jahren; kaum eine Stunde nach Ihrer Zusammenkunft mit ihm fand er seinen Tod in den Fluten des Arkansas.«

Marianne bebte. Sie errang indessen einen gewissen Grad von Selbstbeherrschung und versetzte mit einem unsäglich wehevollen und doch harten Ausdruck: »So hätte ich ihn in den Tod gelockt.«

»Nein, nicht Ihnen fällt das Unglück zur Last, geliebte Marianne,« antwortete Slowfield dringlich, und wie durch Zufall bedingt, wich er den gleichsam ersterbenden Blicken der schönen bleichen Frau aus, »was nur unseligen Verhältnissen zugeschrieben werden darf, sollen wir nicht auf unser Gewissen nehmen. O, wie bereue ich jetzt, daß ich, Ihre heiligsten Gefühle schonend, nicht vor Jahren mit der ungeschminkten verhängnisvollen Wahrheit vor Sie hintrat! Wie viele Stunden bangen Zweifels wären Ihnen erspart geblieben! Anstatt heute von einem neuen Schlage gebeugt zu werden, hätten wir gemeinschaftlich in Wehmut des teuren Verstorbenen gedenken mögen. Doch fassen Sie sich, geliebte Marianne. Das, was ich glaubte, mit gutem Gewissen hier anregen zu dürfen: in Ihrer jetzigen Gemütsverfassung kann das begonnene Gespräch nicht weitergeführt werden. Beruhigen Sie sich vor allen Dingen; erwarten Sie die Stunden, in welchen Sie fähig sind, über meinen ehrenhaften Vorschlag nachzudenken, und wie dann auch Ihre Entscheidung lauten mag: Ihr Freund, der Hort und Schirm Ihrer Kinder, bleibe ich immerdar. Das einzige, um was ich heute noch zu bitten wage, ist, nach Ablauf einer von Ihnen zu bestimmenden Frist wieder vor Ihnen erscheinen zu dürfen.«

Da tönte das Heulen der Dampfpfeife, begleitet von Glockengeläute, herüber, womit das Schiff alle an Bord rief und sich zum Aufbruch rüstete.

Marianne schrak empor. Verstört sah sie um sich. Sie schien sich zu besinnen, wo sie weilte.

»Die Kinder werden gleich hier sein,« sprach sie darauf mit ängstlicher Hast, »sie sind schon so klug – in meiner jetzigen Verfassung dürfen sie mich nicht sehen – es ist besser, Sie gehen – ja, gönnen Sie mir Zeit zum Überlegen. Ich bedarf ungestörter Muße, um mich zu sammeln, mit ruhigem Gewissen einen Entschluß für die Zukunft zu fassen. Mr. Slowfield – nur zwei Wochen Bedenkzeit erbitte ich mir. Dann aber mögen Sie zu jeder Stunde kommen, und meine Entscheidung soll Ihnen nicht vorenthalten werden.«

Slowfield, in seinem Bestreben, Mariannens Wünschen entgegenzukommen, hatte sich erhoben.

»So sei es denn, teuerste Marianne,« antwortete er innig, »nach vierzehn Tagen werde ich von Ihrer Erlaubnis Gebrauch machen. Möge bis dahin ein freundlicher Stern über Ihnen walten, daß Sie das erwählen, was am segensreichsten für Sie, für Ihre Kinder und – für mich ist.«

Er reichte Marianne die Hand und fuhr in zärtlichem Tone fort: »Leben Sie wohl, geliebte Marianne. Leben Sie recht, recht wohl, und auf ein tröstliches Wiedersehen.«

Marianne verneigte sich stumm. Gleich darauf verließ Slowfield den Vorgarten. Als er auf die Straße hinaustrat, sah er noch einmal zurück. Marianne hatte Arme und Haupt vor sich auf den Tisch gelegt. Krampfhaft zuckte ihr Körper im Ausbruch eines unheilbaren Schmerzes, welchen sie bisher mit dem Mute der Verzweiflung bekämpft hatte. Wären die Worte, welche sich hin und wieder mit ihrem Schluchzen einten, zu Slowfields Ohren gedrungen, so würde er weniger zuversichtlich seinen Heimweg angetreten haben.

»Und das wagt er,« entwand es sich leise den bebenden Lippen, »er – jetzt begreife ich es erst – der wie ein böser Geist sich in unser Haus einschlich, hinterlistig überall den Boden ausspähte, der empfänglich für die von ihm ausgestreute verderbliche Saat. Stocton tot – ich glaube es nicht, kann es nicht glauben. Er lebt, er muß leben, und der Elende wagt noch –«

Aufs neue ertönten Pfeife und Glocke, begleitet von den zischenden Dämpfen, die in ihrer Befreiung die gewaltigen Schaufelräder des scheidenden Kolosses herumwälzten. Marianne richtete sich empor. Ein Weilchen fächelte sie den heißen Augen Kühlung zu, dann griff sie eifrig nach ihrer Arbeit.

Kurze Zeit dauerte es nur noch, bis die hellen Stimmen der Kinder herüberdrangen und ihr gequältes Herz vor Stolz und Freude erzittern machten. – – – –

Die vierzehn Tage waren verronnen und am fünfzehnten stellte Slowfield sich pünktlich ein. Er fand ein verschlossenes Haus und oberhalb der Türe einen Zettel mit den Worten: »Zu vermieten.«

Eine Weile stierte er wie gelähmt auf die unzweideutige Inschrift. Erst allmählich gewann er seine Fassung zurück und damit die entsprechende Überlegung, Nachforschungen nach der Verschwundenen anzustellen. Was er auskundschaftete, beschränkte sich darauf, daß Mrs. Stocton schon vor einer Woche mit ihren Kindern und allem Gepäck ohne Angabe ihres Zieles sich auf einem Dampfer zur Reise nördlich eingeschifft habe.

Wohin war sie geflohen? Weithin gen Norden erstreckte sich der Mississippi; weithin gen Osten und Westen erstreckten sich seine Nebenflüsse als bequeme Fahrstraßen. Der Kontinent war groß genug, um es Tausenden und Tausenden zu ermöglichen, sich verborgen zu halten, wenn sie ernstlich nicht gefunden werden wollten.

Wut im Herzen wendete Slowfield sich heimwärts. Die Beute, die er sich erkoren hatte und seit Jahren mit so viel Geduld und Ausdauer raubgierig umkreiste, war seinem Gesichtskreise entschwunden, mit ihr die rätselhaften letztwilligen Verfügungen, die ihm den Weg zur Vermehrung seines übel erworbenen Reichtums zeigen sollten.


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