Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Im neuen Heim.

Stocton endlich, durch Nennung dieses oder jenes Namens daran erinnert, nach Gregor sich umsah, entdeckte er ihn, wie er auf der Außenseite der Einfriedigungsmauer mit Thusnelda und Singsang sich langsam entfernte.

»Sie schlagen die Richtung nach meinem – nach unserem Hause ein,« bemerkte Marianne, die einst so jugendschöne, braunlockige, jetzt mit dem ersten Schnee des Lebenswinters matronenhaft geschmückte Marianne tief bewegt.

»Es sieht ihm ähnlich,« antwortete Stocton liebreich, und nach einem letzten schwermütigen Blick auf den Grabhügel setzte er sich mit Marianne ebenfalls in Bewegung, »ja, es sieht ihm ähnlich. Aus dem wilden Knaben ist ein wahrer Mann geworden. Er möchte uns Zeit gönnen, ungestört auszutauschen, was unsere Herzen bis zum Überströmen erfüllt. Von dir selbst soll ich erfahren, was er bisher geheim vor mir hielt – jetzt ist es mir freilich kein Rätsel mehr, weshalb er nur von einem Grabe sprach, wo es doch galt, so lange und so tief betrauerte Lebende aufzusuchen. Und wie schonend und überlegend er zu Werke ging! Frank, dessen Namen er mir nicht einmal nannte, im Hause des armen Gilbert, beide ahnungslos, was für Enthüllungen ihrer von hier aus harren, und Frank zugleich sein Wegweiser hierher.«

»Unser Sohn, er wird kommen, muß bald kommen,« versetzte Marianne still beglückt und doch wehmuterfüllt. »Mein Gott, wer hätte geahnt, daß der geheimnisvolle Aufruf, auf den hin ich Frank zu der Reise riet, derartige Folgen nach sich ziehen würde.«

Sie bogen vom Friedhofe hinunter. Zugleich gewannen sie einen flüchtigen Anblick Gregors, Thusneldas und Singsangs, bevor dieselben hinter einer Biegung des schattigen Weges verschwanden.

Marianne sah zu Stocton empor und wiederum rannen Tränen in ihren Augen zusammen. Sie mochte sich das Bild vergegenwärtigen, das Stocton vor ihrer Trennung bot, es vergleichen mit den jetzt von Narben entstellten, gramdurchfurchten Zügen.

»Wie mußt du gelitten haben,« sprach sie bewegt, »und keine liebende Hand war da, in der furchtbaren Krankheit dich zu pflegen, kein treues Auge, dich zu überwachen, kein Herz, dich zu trösten. Aber du lebst, Charles, du lebst. Wäre von dir nichts geblieben, als der Blick deiner Augen, ich würde dich erkannt haben.«

Stocton lächelte matt.

»Ich lebe,« sprach er wehmütig, »ich lebe und fand dich und unsere Kinder. Weiter erflehte und erhoffte ich von dem Geschick nichts. Ja, Marianne, unsere Kinder, wenn auch das eine im ewigen Schlaf.«

Marianne war zu ergriffen, um antworten zu können. Und so schritten sie schweigend einher.

Gregor, Thusnelda und Singsang befanden sich weit voraus. Gregor war noch wortkarger geworden, seitdem er das Begegnen der beiden Gatten schilderte. Thusnelda, an sein ernstes Wesen gewöhnt, befremdete es nach dem vorhergegangenen ergreifenden Ereignis nicht. Sie verstand ihn, als er zögerte, sie Stoctons Gattin, der Schwester ihres vermeintlich toten Vaters zuzuführen. Aber zärtlicher noch erklang ihre Stimme, indem sie seine Hand nahm, sich von ihm führen ließ, wie in fern zurückliegenden Zeiten, den Eindruck beschrieb, den der erste Anblick der bleichen schönen Dame auf sie ausübte.

So gelangten sie bis in die Nähe des alten Landhauses, über das nach den von Frank ausgehenden Mitteilungen keine Zweifel walten konnten. Einzelne helle Kinderstimmen drangen bis auf die Landstraße hinaus, indem diese an sie gerichtete Fragen beantworteten.

»Mag Marianne ihn zuvor in ihr Haus einführen,« bemerkte Gregor, und vom Wege abbiegend, schlug er die Richtung nach dem Cuyahoga ein, »vorher würden wir sie stören. Und Stoctons harrt ja noch ein anderes Wiedersehen. Wir kommen immer früh genug.« –

Etwas später trafen Stocton und Marianne angesichts des Herrenhauses ein. Als letztere den ersten Anblick desselben gewann, lehnte sie sich schwerer auf des Gatten Arm; ihre Stimme zitterte vor Bewegung, indem sie anhob: »Charles, armer lieber Charles, hier liegt deine Heimat vor dir. Hier findest du Rast nach dem langen trostlosen Umherschweifen; hier findest du eine so treue Pflege, wie nur immer unvergängliche Liebe sie zu bieten vermag. Armer Charles, unserer verstorbenen Tochter galt dein erster Besuch, dafür magst du tausendfach gesegnet sein – nein Charles, seufze nicht so namenlos schmerzlich; es fehlt mir sonst die Kraft, dich in dein Haus zu führen. Die Toten können nicht mehr ins Leben zurückgerufen werden, aber Ereignisse mögen eintreten, die die Trauer um die Dahingeschiedenen mildern. Und sieh doch,« fuhr sie fort, indem sie einige Blumen pflückte und sie ihm reichte, »wie alles um dein stilles Heim herum grünt und blüht; und wie hier draußen Baum und Strauch, so grünt da drinnen in kindlichen Gemütern das Gute, zu welchem mit Bedacht und Vorsicht die ersten Keime gelegt werden. Glaube mir, Charles, es ist eine freundliche Aufgabe, der ich mein Leben widmete.«

Sie erreichten die Gartenpforte. Stoctons Blicke suchten das Porzellanschild auf dem Türpfosten.

»Mrs. Everetts Töchterschule,« las er.

Marianne sah mit ernster Spannung zu ihm auf. Sie entdeckte, daß peinliche Gedanken hinter der breiten vernarbten Stirn arbeiteten, bevor er sich ihr mit der schwermütigen Frage zukehrte: »Marianne, du ändertest deinen Namen?«

In Mariannes Antlitz stieg leichte Röte empor.

»Nicht meinen Namen, Charles,« sprach sie mit flehendem Ausdruck, »sondern nur den der Schulvorsteherin. Doch nicht, als ob ich nicht stolz darauf gewesen wäre, das mit reichem Erfolg gesegnete Unternehmen unter deinen Namen bestehen zu lassen. Nein, Charles, mich zwangen die ernstesten und sehr peinliche Gründe zu diesem Schritt. Ich wollte verschwinden, um nicht länger den Nachstellungen jemandes ausgesetzt zu sein, der sich wie ein böser Fluch an die Fersen aller Melvilles geheftet hatte.«

»Slowfield,« warf Stocton ein und in seinen Augen leuchtete es feindselig auf.

»Ja, Slowfield,« hieß es besänftigend zurück, »seinem Gesichtskreise wollte ich mich entrücken, und das wäre mir schwerlich gelungen, hätte ich die der Anstalt geltenden öffentlichen Empfehlungen mit meinem wahren Namen unterzeichnet gehabt.«

»Du hast gehandelt, wie du nur konntest,« bemerkte er liebreich, »und fanden meine vor Jahren entsendeten Aufrufe keinen Widerhall, so hat es nicht sein sollen. Noch genug davon in der jetzigen Stunde. Wenden wir uns freundlicheren Dingen zu; – ja, dein Haus, wie es verlockend daliegt. Die Heimat der Zufriedenheit scheint es zu sein. Auch sprachst du von Ereignissen, geeignet, die Trauer um Verlorenes zu mildern. Worauf darf ich das zurückführen?«

Über Mariannes Antlitz eilte es wie der Abglanz innerer, unaussprechlicher Freude. Bevor sie eine Antwort fand, wurde es in dem Hause lebendig. Summen vieler Stimmen, Lachen und Jubeln drang ins Freie zu den noch immer neben der geschlossenen Pforte Stehenden heraus. Beide sahen nach der Veranda hinüber. Eine schlanke, anmutige Mädchengestalt, ein Bild holdseliger, etwas ernster Jungfräulichkeit war aus der Tür getreten. Ein Schwarm fröhlicher Kinder, alle gerüstet, nach der schweren Arbeit des in die Frühstunden fallenden Unterrichts heimwärts zu eilen, drängte sich ihr nach. Vorauf die kleinsten; hinter ihnen her die etwas größeren und endlich diejenigen, die sich bereits der Grenze des Kinderalters näherten und daher eine gewisse mädchenhafte Würde zur Schau trugen.

»Adieu, Miß Mary,« hieß es bald im Chor, bald vereinzelt, und kleinere und größere Händchen streckten sich der freundlichen jungen Dame entgegen.

»Auf Wiedersehen heute nachmittag,« antwortete diese zärtlich, und hier wurde ein Strohhütchen geradegeschoben, dort ein Tuch in bessere Falten gezupft. »Auf Wiedersehen ihr alle! Lauft nicht übermäßig, damit ihr nicht erhitzt nach Hause kommt.«

Marianne, sobald sie ihrer Tochter ansichtig wurde, hatte sich Stocton zugekehrt. Eine Weile sah dieser starr hinüber. Wie in maßlosem Erstaunen, daß die sich mit frauenhafter Würde tragende jugendlich anmutige Gestalt dasselbe Kind, welches er einst auf seinen Knien hielt, vergrößerten sich seine Augen. Milder und milder wurden seine Züge, wehmütiger sein Blick, bis endlich Tränen ihn verschleierten.

Marianne öffnete die Pforte, und wie zuvor ihre Tochter, so hatte sie jetzt selbst genug zu tun, die ihr gereichten Händchen zu drücken und die lustig zutraulichen Abschiedsgrüße zu erwidern.

Die letzten reiferen Nachzügler waren in ehrbarem Schritt den vorauseilenden jüngeren Gefährtinnen von der Veranda in den Garten hinunter gefolgt, als ein junger Mann neben Mary hintrat und gemeinsam mit ihr den Schülerinnen nachsah. Sie sprachen zueinander, und wenn ihre Blicke sich begegneten, so geschah es mit einem Ausdruck, in dem herzliche Zuneigung und schrankenloses, aufrichtiges Vertrauen sich offenbarten. Der junge Mann dagegen, durch seinen Anzug den Geistlichen verratend, hätte er mit Menschen- und Engelszungen geredet, so wäre er nicht imstande gewesen, das Entzücken würdig zu schildern, das ihn beim Anblick der blühenden Gefährtin durchströmte. Und doch entdeckte man nichts von jenem stürmischen Aufjubeln, wie solchem nur zu oft eine gewisse Ernüchterung folgt. Man hätte sie für gute Freunde und Kollegen halten mögen, so ruhig verkehrten sie miteinander.

Der junge Geistliche stand im Begriff, sich ebenfalls nach seiner Wohnung in der Stadt zu begeben. Freundlich verabschiedete er sich von Mary, als diese ihrer Mutter neben der Pforte ansichtig wurde und sich schnell entschloß, ihm das Geleite bis dahin zu geben.

Marianne legte leise die Hand aus Stoctons Arm.

»Charles,« hob sie an, als dieser sich schwerfällig emporrichtete, »die Toten können nicht ins Leben zurückgerufen werden, ich wiederhole es, aber wo das Geschick auf der einen Stelle unheilbare Wunden schlagt, da trachtet es, auf einer anderen durch neuerblühendes Glück Ersatz zu bieten. Sieh deine Tochter, die mir so lange Freundin und zugleich Gehilfin gewesen ist, auch sie wird uns binnen kurzer Frist genommen werden, wenn du meine Einwilligung billigst; und der da neben ihr –«

»Marianne,« fiel Stocton ergriffen ein, »so viel Freude und Glück nach den vielen langen Jahren – ich fasse es nicht –«

Die beiden jungen Leute waren in geringer Entfernung von ihnen stehen geblieben. Ängstlich blickten sie in Mariannes fieberhaft erregtes Antlitz, befremdet auf den Mann an ihrer Seite, aus dessen vernarbtem, gebräuntem Antlitz zwei große blaue Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdruck innigen Wohlwollens, einer überschwänglichen Freude auf sie gerichtet waren.

»Ihr kennt beide meine Vergangenheit,« redete Marianne sie an, und ihre Stimme zitterte vor Rührung, »Ihr kennt die Hoffnungen, von denen ich mich nie ganz lossagen konnte, versteht mich daher um so leichter – Mary, mein liebes Kind – hier ist dein Vater –«

Sie konnte nicht weiter sprechen.

Wie die Worte der Mutter in ihrer ganzen ungeahnten gewaltigen Bedeutung sich wiederholend, stand Mary da. Jäh wechselte die Farbe auf ihren blühenden Wangen. Dann aber, wie angezogen von den gütigen blauen Augen, trat sie schüchtern vor Stocton hin, um von diesem in die Arme geschlossen zu werden.

»Er gehört zu mir,« sprach sie nach einer Pause, und indem sie auf den jungen Geistlichen wies, erhöhte süße Befangenheit die holden Reize ihres tief erglühenden Antlitzes; was sie weiter hinzufügen wollte, erstickte angesichts der Herzlichkeit, mit der ihr Vater jenen willkommen hieß. –

Eine neue Begrüßung folgte eine halbe Stunde später, als Gregor in der kühlen Halle des Hauses erschien und den dort anwesenden Verwandten Thusnelda in die Arme führte. Marianne weinte heiße Tränen auf das liebliche Haupt der Tochter der ihr einst so vertrauten Edith und ihres unglücklichen Bruders. Zärtlich wie eine Schwester begrüßte Mary die junge Verwandte, wie zu einer Schwester sprach zu ihr der junge Geistliche in seiner herzgewinnenden Weise.

Auf seiten derjenigen, die Gregor eben erst kennen gelernt hatten, wollte indessen eine gewisse Befangenheit nicht weichen. Heimlich bewunderte man seine schöne kraftvolle Gestalt, die sichere Entschiedenheit seiner Bewegungen wie seines Urteils. Dagegen vermochte man dem unerschütterlichen Ernst gegenüber des Gefühls sich nicht erwehren, daß, obwohl er die Triebfeder der glücklichen Wendung der jüngsten Ereignisse, ihm selbst eine volle Befriedigung fern blieb. In den heitersten Gesprächen wählte man die Worte vorsichtig. Überall fürchtete man, trübe Anklänge zu erzeugen, ihm zu mißfallen. Sogar auf Thusnelda lastete es wie ein Alp, wenn sie beobachtete, daß er sich schweigsam verhielt, ihre zutrauliche Annäherung nur mit einem matten Lächeln lohnte.

Zwei Tage blieb Gregor noch in der Stadt, den größten Teil seiner Zeit in ernster Beratung mit Stocton und Marianne verbringend. Dann schied er, nachdem er Thusnelda ihrer Fürsorge anvertraut und das Versprechen von ihnen in Empfang genommen hatte, nicht nur jeglichen Schrittes, der ihn vielleicht in der Verfolgung seiner Pläne störte, sich zu enthalten, sondern auch zu jeder Stunde seines Rufes gewärtig zu sein, seiner Aufforderung blindlings Folge zu leisten, wie auch immer diese lauten würde.

Von Thusnelda verabschiedete er sich wie der Vater von einem geliebten Kinde.

Singsang nahm er mit sich fort, nachdem dieser seinen Pflegling noch besonders der treuen Fürsorge Mariannes und deren Tochter empfohlen hatte. –

Dem Porzellanschilde auf dem Türpfosten des Garteneinganges wurde nur noch ein kurzes Leben zuerkannt. Es sollte durch ein anderes mit dem Namen des jungen Geistlichen und seiner Frau Mary ersetzt werden, und zwar am Tage der Hochzeit, mit dem die Leitung der Anstalt ihnen zufiel. So hatten Stocton und Marianne es bestimmt, ohne auf den leisesten Widerspruch bei den Hauptbeteiligten zu stoßen.

Veränderungen überall; in der ganzen Stadt wurden sie eifrig besprochen, aber keinen gab es, der der schwergeprüften stillen Frau in dem Landhause die neue Ordnung der Dinge nicht von ganzem Herzen gegönnt hätte. –

Wochen waren verstrichen, seitdem Gregor das Landhaus am Cuyahoga verließ, und häufiger wiederholten sich die grellen Herbstlichter im grünen Laub; Wochen, die in den verschiedenen Kreisen ebenso verschiedenartig verliefen. In dem Landhause hatte das kurze Beisammensein genügt, wehevolle Rückerinnerungen immer mehr in den Hintergrund zurückzudrängen. Auf der Trauer um Unersetzliches erblühten aufs neue Glück und Freude, innere Zufriedenheit und das Gefühl engster Zusammengehörigkeit. Nur Thusnelda, ihrem mit Begeisterung verfolgten Beruf entzogen, konnte sich nicht mehr zu der alten sorglosen Heiterkeit emporschwingen. Die ihr entgegengetragenen Beweise herzlicher Zuneigung schienen sie sogar noch träumerischer zu stimmen. Aus der tiefsten Tiefe ihrer Augen lugte es wie verhaltene Wehmut. Es fehlte ihr eben der Halt, den Gregor in seinem gleichartigen Streben ihr jederzeit bot. An ihm war sie gewohnt, daß er für sie dachte und handelte, alle kleinen Sorgen des täglichen Lebens fern von ihr hielt, während sie in der jetzigen neuen Umgebung zu einer gewissen Selbständigkeit gezwungen war. Wo sie ging und stand, gleichviel, ob einsam oder im lebhaften Verkehr mit anderen: überall fehlte ihr der getreue Beschützer. Es war heute noch wie in jenen Tagen, in denen sie bei den ersten Gehversuchen ihm Hilfe rufend die Hände entgegenstreckte. –

Frank Stocton, ahnungslos, welche Freude seiner daheim harrte, befand sich noch immer in dem Strandhause, in seinen Bewegungen streng Gregors Anweisungen Folge leistend. Vor allen Dingen hatte dieser ihm eingeschärft, jeden fern zu halten, von welchem ein Verraten des auf Thusnelda bezüglichen Geheimnisses zu befürchten gewesen wäre. Denn freie Hand wollte er behalten, in keiner Weise gebunden oder behindert sein, im Falle die Dämonen des Hasses und der Strafe, oder die Regungen des Mitleids auf Kosten seines eigenen Friedens die Oberhand gewinnen sollten.

Wenn die Rückkehr auf seine alte Heimstätte, zumal nach der martervollen Zeit, auf Gilberts Gemütsleben eine wohltätige Wirkung ausübte, Gregors und Franks plötzliches Auftauchen ihm wie eine Schickung vom Himmel erschien, so trugen Floras und Franks beständige Nähe und die Beobachtung des zutraulichen, heiteren Verkehrs zwischen ihnen in erhöhtem Grade dazu bei, neue Lebenswärme in seinem Herzen zu entzünden.

Rührend war die Teilnahme, die er für den armen Harry an den Tag legte und dessen jahrelang erduldete Leiden nach den eigenen Qualen weniger Wochen abmaß. Trotz des geregelten Lebens, das dieser führte, nahmen seine Kräfte sichtbar ab; hinfälliger wurde sein Körper, bleicher sein ursprünglich wohlgebildetes Antlitz, zu dem das schwarze Lockenhaar so scharf kontrastierte. Der Todesengel hatte ihn geküßt, wartete nur auf die Gelegenheit, den mit furchtbarem Bedacht künstlich verkrüppelten Geist in eine bessere Heimat zu führen. Der arme Harry! –

Der Name Hawkins' wurde kaum noch in dem Strandhause genannt. Er war und blieb verschwunden. Als einen anderen Beweis für seine verbrecherische Tätigkeit betrachtete man, daß das Haus während der Nacht, in der die Bewohner fern weilten, in allen seinen Räumen, wie reichliche Spuren ergaben, durchsucht worden war. Nichts fehlte; dagegen unterlag keinem Zweifel, daß der Mahagonikasten nur durch die Sorgfalt, mit der Kit Kotton ihn »verstaut« hatte, vor dem Verschwinden bewahrt geblieben war. Hawkins zu verfolgen, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, wäre vergebliche Mühe in einem Lande gewesen, in dem es jedem erleichtert ist, unter angenommenem Namen inmitten der Bevölkerung dieses oder jenes Staates spurlos zu verschwinden. Sogar Slowfield, dessen Beziehungen zu Hawkins kaum noch jemand bezweifelte, wäre nicht imstande gewesen, Auskunft zu erteilen. Der lebte nämlich selbst in marternder Unruhe. Sein letzter Brief an Hawkins, in dem er Gregor gewissermaßen anmeldete, war unbeantwortet geblieben, ein um so verdächtigerer Umstand, weil er dem Doktor bei Gelegenheit seiner letzten Anwesenheit in Neuorleans beträchtliche Geldsummen zu bestimmten Zwecken anvertraut hatte. Wenn aber seine heimlichen Besorgnisse mit jedem neuen Tage wuchsen, der ihm keine Nachricht irgendeiner Art brachte, so erreichte die unbestimmte Angst ihren Gipfel, als ein Brief von Gregor Melville einlief. In demselben wurde ihm mit kurzen Worten angekündigt, daß die Überlebenden der Familie Melville oder deren Vertreter beschlossen hätten, an einem genau bezeichneten Tage in Melvillehouse zusammenzutreffen, um dort über den ferneren Besitz der Plantage zu beraten und sich zu vereinbaren. Zugleich wurde er aufgefordert, bei dieser Gelegenheit über die Verwaltung der Gelder, soweit deren Flüssigmachen seinen Händen anvertraut gewesen war, Rechenschaft abzulegen.

Wie ein Donnerschlag wirkte diese Kunde auf ihn ein. Sie erschien ihm um so bedrohlicher, weil er auch von dieser Seite in gänzlicher Unkenntnis über irgendwelche Absichten und Zwecke erhalten wurde, er also unfähig war, zur Abwehr dieses oder jenes nach ihm geführten Schlages sich zu rüsten. Seine nächste Regung war, nach Melvillehouse hinauszueilen und mit Miß Sarah sich in Einvernehmen zu setzen. Er gab es indessen auf angesichts der Möglichkeit, daß diese infolge seiner Mitteilungen sich auf seiten seiner Gegner schlagen könne, wenn sie nicht schon in nähere Beziehung zu ihnen getreten war. Eine andere Gefahr lag für ihn in dem Umstände, daß er die Grenze nicht kannte, bis zu der Gregor in sein verbrecherisches Gewebe eingedrungen war. In seiner Ratlosigkeit beschränkte er sich darauf, beinah im letzten Augenblick erst Miß Sarah auf das Eintreffen einzelner Verwandten vorzubereiten und mit dürren Worten deren mutmaßlichen Zweck anzudeuten. Für deren standesgemäße Aufnahme und Bewirtung wollte er, wie er sich ausdrückte, um Miß Sarah jede Unruhe zu ersparen, selbst in ausgiebiger Weise Sorge tragen. Ihn beseelte die Hoffnung, daß, wie so oft in seinem Leben, auch dieses Mal zur entscheidenden Stunde das Glück ihm zur Seite stehen werde.


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