Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Neunzehntes Kapitel.

Die beiden Verwandten.

In lebhaftem Verkehr war den drei Verbündeten in dem Strandhause die Hälfte des folgenden Tages verstrichen. Man hatte beraten, erwogen und geprüft, Pläne geschmiedet und wieder als unausführbar verworfen; nur darin war man einig, daß vor Heimkehr des Seminolen keine Entschlüsse gefaßt werden konnten. Die Sorge um Melville war bei allem, was man unternahm, in den Gesprächen wie in den Empfindungen, allein maßgebend. –

Das Mittagsmahl war beendigt. Flora und Kit Kotton beschäftigten sich im Hause, während Frank die Gelegenheit benutzte, in der Nachbarschaft umherzustreifen und sich mit der Umgebung vertraut zu machen. Einem Pfade durch den hinter dem Hause sich ausdehnenden Waldstreifen langsam folgend, gelangte er auf den Weg, den er tags zuvor gekommen war. Nachlässig in der Richtung nach der Stadt spähend, wurde er eines Fuhrwerks ansichtig, das sich schnell näherte. Bald darauf unterschied er einen von zwei Männern besetzten Einspänner. Indem allmählich die Gesichtszüge der beiden Reisenden deutlicher hervortraten, eilte ein Ausdruck unsäglichen Erstaunens über sein Antlitz, denn er erkannte in einem der Insassen des Wagens jenen Kunstreiter, auf dessen Veranlassung hin durch die gefeierte Thusnelda seine ihr im Zirkus dargebrachten Blumen zurückgewiesen worden waren.

Franks Antlitz rötete sich tief, als der Fremde sich mit den Worten an ihn wandte: »Mein Ziel ist Klein-Melvillehouse, das hier ganz in der Nähe liegen soll. Ich bin wohl auf dem richtigen Wege?«

Frank, eben noch gesonnen, eine trotzig zurückweisende Antwort zu erteilen, sah befremdet zu Gregor empor. Einige Sekunden zögerte er, dann sprach er mit sichtbarer Spannung: »Seit gestern wohne ich in Klein-Melvillehouse.«

»Dann sollte mich kaum überraschen, wären auch Sie durch einen Zeitungsartikel hierher beschieden worden,« fuhr Gregor fort, und schärfer sah er in das zu ihm erhobene jugendfrische Antlitz.

»Sie sprechen es aus,« hieß es nunmehr höflich zurück, »und ich nehme keinen Anstand, zu erklären, daß meine Berechtigung sich auf die sehr nahe Verwandtschaft mit dem Kapitän Melville begründet.«

Durchdringender noch wurde der Blick, mit dem Gregor den jungen Mann betrachtete. Einige Sekunden sann er ernst nach. Dann eilte es wie ein Abglanz überschwänglicher innerer Freude über sein Antlitz, und dem Begleiter Zügel und Peitsche reichend, sprang er vom Wagen.

»Fahren Sie nach dem Strandhause und warten Sie auf mich,« befahl er dem Kutscher. Er blickte dem sich langsam entfernenden Wagen so lange nach, bis dieser außerhalb der Hörweite war, und sich Frank zukehrend legte er beide Hände schwer auf dessen Schultern.

»Frank,« hob er an, und seine tiefe Stimme bebte vor Bewegung, »Frank Stocton, jetzt erkenne ich dich wieder. Meiner wirst du dich schwerlich entsinnen; denn als wir uns das letztemal sahen, reichtest du mit deinem Scheitel kaum bis an meine Hüften, und ich war selber noch nicht ausgewachsen,« Er zögerte, wie sich werdend an der Verwirrung Franks, der in seinem Antlitz vergeblich nach bekannten Zügen suchte, und noch herzlicher sprach er weiter: »Frank Stocton, errätst du immer noch nicht, wer vor dir steht? Frank, ich begreife, mein Name hat dein Ohr nicht oft gefunden, oder deine Erinnerung hätte nicht so gänzlich entschlummern können. Versetze dich auf die Plantage deines Großvaters, wo du mit deiner Mutter zum Besuch weiltest. Vergegenwärtige dir einen sonnigen Tag, an dem du von einem knabenhaften tollen Reiter auf ein ungesatteltes Pferd gehoben wurdest. Vergegenwärtige dir den Ritt, den er darauf mit dir zu aller Entsetzen unternahm, und wie er jauchzte und jubelte, als das gestachelte Pferd uns beide im rasenden Lauf davontrug.«

»Gregor Melville!« rief Frank aus, dessen Augen sich in namenlosem Erstaunen vergrößerten, »Gregor Melville!« und er ergriff dessen beide Hände, »jetzt ist es mir klar – ich hätte es erraten müssen, als ich dich auf dem Rücken der beiden Pferde sah und das schöne Mädchen dir zur Seite. Nur du konntest der kühne Reiter sein, nur du allein.«

Mit offenkundigem Wohlgefallen lauschte Gregor den Worten, »Ja, Frank, Kunstreiter bin ich geworden. Damals hätte ich nie geglaubt, daß die unbesiegbare Vorliebe für Pferde noch einmal eine reiche Erwerbsquelle für mich werden würde. Aber zu was greift nicht der Mensch, wenn es gilt, im Kampf ums Dasein eine unabhängige Stellung zu erringen? Doch wir haben jetzt Dringenderes zu besprechen. Derselbe Zweck führte uns zusammen. Unsere gemeinschaftliche Aufgabe ist, Nachforschungen nach jemand anzustellen, der längst unserem Gesichtskreise entrückt wurde und den ich für meine Person ebensolange zu den Toten zählte.«

»Mich schickte meine Mutter,« erklärte Frank, hin und wieder einen bewundernden Seitenblick zu dem ihn beinahe um Kopfeslänge überragenden Verwandten emporsendend, »ob sie ihren Bruder ebenfalls für tot hielt, ich weiß es nicht, vermute es aber, denn in tiefer Erregung erteilte sie mir den Auftrag, schleunigst hierher zu reisen. Nicht ruhen noch rasten soll ich, bis ich ihn gefunden habe; das aber wird, wie es mir nach den ersten hier empfangenen Eindrücken erscheint, auf große Schwierigkeiten stoßen.«

»Auf Schwierigkeiten?« fragte Gregor, und von Frank unbemerkt eilte eine Wolke des Hasses über sein männlich schönes Antlitz, »Schwierigkeiten, meinst du? Wo gäbe es Schwierigkeiten, vor denen ein Mann zurückschrecken dürfte? In die aber, die sich uns entgegenstellen, teilen wir uns redlich, und mit dir sage ich: Keine Ruhe noch Rast, bevor es mir gelungen, Gilbert Melville auszukundschaften, – doch um auf anderes zu kommen: Deine Mutter lebt, so viel erfuhr ich ja bereits. Hörtest du nie von deinem Vater?«

»Nie: nicht einmal sein Grab kennen wir,« bestätigte Frank trübe. »Auch er schwebt mir in der Gestalt vor, in der ich ihn zum letztenmal sah. So riesenhaft groß erschien er mir damals, so schön in seiner Uniform, daß ich ihn in der Erinnerung heute noch bewundere.«

»Und du hattest Geschwister, kleine, süße Geschöpfe, was ist aus ihnen geworden?« fiel Gregor ein.

»Zwei Schwestern besaß ich,« erklärte Frank plötzlich ernst, »beide jünger als ich, und beide wurden sehr früh die Stütze unserer Mutter. Vielleicht zu früh für ihren zarten Körper; denn die jüngere erkrankte, als sie eben ihr fünfzehntes Jahr vollendet hatte, an einem ihr bereits innewohnenden Brustleiden, Wenige Monate später, da legten wir die sanfte Dulderin ins Grab. Es war für uns alle ein schwerer Schlag; nur sehr langsam erholte meine Mutter sich nach demselben. Zu der Zeit, in der wir von dem unersetzlichen Verlust betroffen wurden, wohnten wir schon eine Reihe von Jahren im Staate Ohio in der Nähe des Erie-Sees. Das Grab ihres Lieblings fesselte die Mutter um so inniger an die neue heimatliche Scholle. Unter Beihilfe wohlwollender Menschen war es ihr gelungen, eine Mädchenschule zu gründen. Auf ihrem Beginnen ruhte Segen; die Schule kam sehr bald in Aufnahme, so daß die Erziehung der ihr gebliebenen beiden Kinder ihr keine größere Sorge mehr bereitete. Ich selbst trat bald in die Armee ein, wogegen meine Schwester ihr in der Leitung des Instituts treu zur Seite steht.«

»Tot,« versetzte Gregor mit wehmutsvoller Innigkeit, und träumerisch sah er vor sich nieder. »Wie spricht dies Wort sich schwer aus, wenn wir es in Beziehung zu einem teuren Angehörigen bringen. Arme kleine Elly, du bist allem Leid verfrüht aus dem Wege gegangen; du fühlst nichts mehr. Aber deine – deine arme Mutter – o, ich weiß, was es bedeutet, wenn der Todesengel unbarmherzig zwischen ein Mutterherz und ein liebes Kind tritt; dem kommt nichts gleich.«

Sie legten eine längere Strecke schweigend zurück, Gregor in schmerzliches Nachdenken versunken, Frank ihn mit achtungsvoller Scheu überwachend.

Nach einiger Zeit blieb Gregor stehen und sah um sich. Von drei Seiten begrenzte Gehölz seinen Gesichtskreis. Vor ihm eröffnete sich dagegen die Aussicht aufs Meer.

»Wir müssen bald am Ziel sein,« bemerkte er nachdenklich.

»In wenigen Minuten,« erklärte Frank. »Wen finden wir in dem Strandhause?«

»Des Kapitäns alten Diener und ein junges Mädchen –«

»Gilberts Tochter?« fragte Gregor, die Brauen finster runzelnd.

»Nein, eine angenommene Waise, eine überaus anmutige Erscheinung und von rührender Dankbarkeit und Anhänglichkeit für ihren Wohltäter beseelt.«

»Er ist nicht verheiratet?«

»Er war es, wie ich von meiner Mutter erfuhr, verlor aber seine Frau frühzeitig durch den Tod. Über das Wo und Wie wußte meine Mutter keine Auskunft zu erteilen. Mit ihr zugleich verscholl ihr Kind.«

»So? Nun ja, der Tod ist ein seltsamer Schnitter,« versetzte Gregor, und um seine Lippen spielte wieder jenes böse Lächeln, »der fragt nicht, ob es reife Halme sind, die er achtlos niedergemäht, ob frühlingsgrüne oder kaum dem Erdreich entsprossene Keime. Pah, Frank, wo findest du Gerechtigkeit unter dem Himmel oder in demselben? Unsinn! Komm, legen wir uns hier in den Schatten,« und er warf sich neben dem Wege auf den Rasen; »das Strandhaus erreichen wir immer noch früh genug. Soll ich aber mit dessen Bewohnern verkehren, ist es mir lieber, vorher über die Verhältnisse unterrichtet zu sein, die Ursachen zu kennen, die den Aufruf veranlaßten.«

Frank folgte Gregors Beispiel, setzte sich neben ihn auf den Rasen und alsbald vertieften die beiden Verwandten sich in ein Gespräch, das vorzugsweise die mutmaßliche Lage Melvilles betraf. Aber auch in die Vergangenheit führten die gegenseitigen Mitteilungen sie, in jene Zeiten, in welchen die wild empörten Leidenschaften über den Häuptern zusammenschlugen, unbekümmert darum, wie tief die Wunden waren, die arglosen Gemütern geschlagen wurden. Offenherzig bekannte Frank auch alles, was im Laufe der Jahre zu seiner Kenntnis gelangte.

»Du weißt jetzt, was meine Zusammenkunft mit Gilbert streng erheischt,« schloß Gregor endlich, »aber du weißt nicht, kannst ebensowenig wissen, wie ich selber, ob es ratsam ist, daß Thusnelda je Kunde von dem Leben ihres Vaters erhält, und dieser von dem ihrigen. Erführe Gilbert die Wahrheit, so würde er voraussichtlich, gleichviel in welcher geistigen oder körperlichen Verfassung er sich befindet, kein Mittel unversucht lassen, sich mit seiner Tochter zu vereinigen, und das kann und darf nur unter ganz besonderen, bis jetzt unberechenbaren Bedingungen und Umständen geschehen. Jetzt ist Thusnelda glücklich; sie kennt keine Sorgen, keinen Gram. Ihr Beruf ist ihre Lebensfreude, ihr höchster Lebensgenuß. Würde es länger so sein, wenn sie ihren Vater in einem bejammernswerten Zustande wiederfände? Wenn sie ahnte, daß er diesen Zustand den eigenen frevelhaften Entschließungen verdankte, durch die sie und ihre arme Mutter in die unbarmherzige Welt hinausgestoßen wurden? Und welchen Eindruck könnte es nur auf ihr jetzt so frohes Gemüt ausüben, entdeckte sie in den Blicken des Vaters – vergiftender Worte nicht zu gedenken – den Vorwurf, daß sie Kunstreiterin geworden, ein Vorwurf, der sich in doppeltem Maße gegen mich richtete? Es bleibt daher bei meiner Entscheidung; von dir aber erwarte ich, daß du mein Vertrauen, meinen Willen und die Ursachen, welche denselben bestimmen, achtest und ehrst. Du wirst es dadurch beweisen, daß du nie den Versuch wagst, meine Entschlüsse, soweit sie das Verhältnis zwischen Thusnelda und ihrem Vater betreffen, mittelbar oder unmittelbar zu beeinflussen.«

»Wohl verstehe ich dich jetzt,« antwortete Frank, hingerissen durch den tiefen Ernst, mit dem Gregor zu ihm sprach, »ich verstehe dich und pflichte deinen Ansichten bei.«

Gregors Beispiel folgend, hatte sich Frank erhoben und ergriff den ihm gebotenen Arm; schweigend folgten sie dem Wege, der sie ganz aus dem Gehölz führte. Vor dem Strandhause neben der Einfriedigung hielt der Wagen.

»Werde ich hier ein Unterkommen finden?« wendete Gregor sich an den jungen Verwandten.

»Das mir eingeräumte Zimmer ist auf zwei Personen berechnet,« antwortete dieser.

»Um so besser; ich denke, wir werden gute Kameradschaft halten,« versetzte Gregor. Dann zu dem Burschen auf dem Wagen: »Geben Sie mir die Sachen und fahren Sie nach Hause. Bestellen Sie, ich würde vorläufig hier wohnen bleiben. Hier das Fahrgeld. Was über den ausbedungenen Preis ist, gehört Ihnen.«

Er warf dem Burschen ein kleines Goldstück zu, worauf dieser sich beeilte, einen Handkoffer nebst Reisetasche herunter zu reichen. Gleich darauf verschwand das Gefährt auf dem schattigen Wege.

Frank und Gregor, das Gepäck zischen sich tragend, begaben sich durch den Vorgarten

nach der Veranda hinüber, wo sie durch den Wagen gewissermaßen angemeldet, von Flora und Kit Kotton bereits erwartet wurden. Auf dem Wege dahin fand Gregor hinlänglich Zeit, jene mit scharfen Blicken zu prüfen. Der Eindruck, den ihre Erscheinung auf ihn ausübte, war offenbar ein freundlicher, denn sein nach dem jüngsten Gespräch noch immer ernstes, beinah finsteres Antlitz klärte sich auf, indem er Frank zuraunte: »Welch anziehenden Kontrast sie zueinander bilden!«

»Du mußt sie näher kennen lernen, um sie gebührend zu würdigen,« entgegnete Frank ebenso leise, jedoch mit Wärme, daß Gregor ihm einen Blick der Überraschung zuwarf.

»Alles gestaltet sich zugunsten unserer gemeinschaftlichen Aufgabe,« redete Frank, indem sie die Stufen erstiegen, das lieblich erglühende Mädchen an, »Ihr Aufruf erwies sich wirksamer, als Sie hätten erwarten können. Hier habe ich die Ehre, meinen Vetter Gregor Melville vorzustellen. Gleich mir ist er gekommen, um seine Bemühungen mit den Ihrigen zu einen, nicht von dannen zu gehen, bevor es uns gelungen, Zuverlässiges über den Kapitän zu erforschen.« Und zu Gregor: »Miß Flora Hewet, wie ich sie schilderte, und hier Kit Kotton, ein so gediegener alter Seemann, wie nur je einer sich mit seinem Herrn eins wußte.«

Und noch tiefer errötete Flora. Sie mochte in Gregors Augen inniges Wohlgefallen lesen, daß es sich wie ein Anflug von Verwirrung über ihr gutes Antlitz ausbreitete. Sie faßte sich indessen schnell und reichte mit einem süßen Lächeln der Befangenheit Gregor die Hand.

»Ich bin nicht Herrin hier,« sprach sie offenen Blickes, »aber als Vertreterin des abwesenden Hausbesitzers heiße ich Sie willkommen, und doppelt, wenn Sie uns wirklich mit Ihrem Rat zur Seite stehen wollen.«

»Ja, das will ich,« antwortete Gregor, die schlanke kleine Hand noch immer in der seinigen haltend, und was kurz zuvor ihn feindselig bewegte, ging unter in lauterem Wohlwollen, »ja, das will ich, und nicht nur mit Rat, sondern auch mit Tat. Wo wir aber gemeinsam zu Werke gehen, da dürfen wir auch auf Erfolg hoffen. Ich bin von allem unterrichtet,« fügte er hinzu, als er gewahrte, daß Flora zu einer Erklärung die Lippen öffnete und ihre Augen zugleich flehentlich schauten, »es gibt daher zwischen uns nichts mehr zu erläutern. Ihre Sorgen sind die unsrigen, das bringt uns einander nahe genug, um auf allen Seiten offenes Vertrauen walten zu lassen.«

Er begrüßte Kit, der in Bewunderung der stattlichen, kraftvollen Erscheinung die Mütze gezogen hatte und angelegentlich zwischen seinen knochigen Fäusten drehte.

»Um welches zu bitten ich mir erlauben wollte,« bemerkte Flora mit dem ihr eigentümlichen reizvollen hausmütterlichen Wesen, »und dankbar bin ich dem Geschick, welches mir Freunde zuführte, auf deren Treue ich bauen darf. Was hätte ich allein unternehmen sollen –«

»Sie unternahmen bereits das Verständigste, was nur hätte erdacht werden können,« fiel Gregor ermutigend ein und er wies auf Frank und sich selbst. »Sie wendeten sich an die Öffentlichkeit, und diesem Umstände verdanken wir unser Hiersein. Und wer weiß, ob Ihr kluges Verfahren nicht weitere Freunde herbeiführt, um sich Ihnen zu Diensten zu stellen.«

»Die Dienste gelten allein der Wohlfahrt des Kapitän Melville,« erklärte Flora wieder befangener, »ich selbst kann nie in Frage kommen, wenigstens nicht weiter, als daß ich meine schwachen Kräfte dem gemeinsamen Unternehmen weihe.«

Durch eine anmutige Verneigung lud sie die beiden Verwandten ein, Platz zu nehmen.

»Es genügt nicht,« versetzte Gregor, »mit der augenblicklichen Lage vertraut zu sein, wir müssen auch ernst beraten und erwägen, alle Möglichkeiten sorgfältig in Betracht ziehen, um nicht vor jedem neuen Schritt die Zeit mit Schwanken und Zweifeln zu verlieren.« Er säumte, bis auch Flora, deren Blicke gespannt an seinen Lippen hingen, sich niedergelassen hatte, dann sprach er weiter: »Über den Doktor Hawkins erfuhr ich mehr als zuviel, um vom tiefsten Argwohn gegen ihn erfüllt zu sein. Ich halte ihn für einen Feind, dessen Einfluß nicht unterschätzt werden darf, mag der Preis hoch oder niedrig sein, um den er seine Dienste verkaufte.«

»Er sollte im Auftrage anderer handeln?« fragte Frank erregt.

»Bestätigt sich unser Argwohn, dann gewiß,« entschied Gregor, »und um Geringfügiges bietet schwerlich jemand die Hand dazu, einen Nebenmenschen auf die eine oder die andere Art zu beseitigen; gewiß, es muß sich um Wichtiges handeln.«

»Und worin könnte das bestehen?«

»In einem Vermögen oder in den Anrechten an ein solches, wie du selbst bereits andeutetest.«

»Woher sollte das stammen? Wie ich durch meine Mutter erfuhr, starb der Großvater als ruinierter Mann. Er hinterließ die Plantage in einem Zustande, daß keiner sich getraut, sie zu übernehmen, sogar die Gläubiger nicht.«

»So waltet eben ein Geheimnis,« fuhr Gregor fort. »Ich wiederhole: fällt Gilberts Verschwinden anderen zur Last, so muß eine Ursache vorhanden sein,« und zu Flora gewendet: »Sind Sie vielleicht in der Lage, über des Kapitäns Vermögensverhältnisse Aufschluß erteilen zu können?«

»Nur bis zu einer bestimmten Grenze,« erklärte Flora nachdenklich. »Er bezieht eine Rente, die ihm gestattet, seine bescheidenen Wünsche zu befriedigen, allein so hoch ist sie bei weitem nicht, daß die Habsucht anderer dadurch gereizt werden könnte.«

»Aus welcher Quelle stammen seine Einkünfte?« forschte Gregor weiter.

»Aus Neuorleans. In den letzten Jahren ging die ganze Korrespondenz durch meine Hände. Es widerstrebte dem Kapitän, sie selbst zu führen.«

»Wer vermittelte in Neuorleans die Zahlungen?«

»Ein Mann, dessen Namen der Kapitän nur ungern aussprach, ein gewisser Slowfield –«

»Slowfield?« fuhr Gregor heftig auf, daß Flora erschrak, und sichtbar feindselig erregt fügte er hinzu: »Und mit diesem Schurken stand er im Geschäftsverkehr?«

»Ich glaube, er konnte nicht anders,« erklärte Flora wie entschuldigend.

»Slowfield, überall Slowfield!« rief Gregor höhnisch lachend aus, »wohin ich höre: Slowfield und immer wieder Slowfield, als ob er der sich vervielfältigende böse Geist der Melvilles wäre. Nun, von ihm ist vorauszusetzen, daß er keinen Schritt tut, ohne zuvor den darauf entfallenden Gewinn berechnet zu haben.«

Eine Minute verrann in Schweigen, bevor Flora fortfuhr: »Was an Papieren vorhanden, liegt auf des Kapitäns Schreibtisch zu jedermanns Einsicht frei und offen da. Er hatte wohl keine Ursache, vor Kit oder mir irgend etwas zu verschließen, und ein anderer betrat sein Zimmer nicht. Dann ist noch etwas – ich weiß nur nicht –«

»Fahren Sie unbesorgt fort,« versetzte Gregor ermutigend, als Flora stockte, »ich errate, Sie wissen um ernstere Dinge.«

»Ich weiß darum,« gab Flora befangen zu, »allein ich bezweifle, ob ich berechtigt bin, eines Umstandes zu erwähnen, der zwischen dem Kapitän und Kit vereinbart wurde –«

»Kit gehört zu uns, wie wir zu ihm gehören,« erklärte Gregor, als Flora wieder verstummte; »wir möchten ihn selbst fragen, allein es erscheint angemessener, die erwünschten Aufschlüsse von Ihnen ausgehen zu lassen.«

Flora seufzte tief auf. Dann berichtete sie zögernd: »Am Tage vor seiner geheimnisvollen Abreise vertraute der Kapitän Kit Kotton eine Kassette an mit der Weisung, sie wie sein Leben zu behüten. Er muß also wohl die Besorgnis gehegt haben, sie auf der Reise zu verlieren –«

»Oder er mißtraute denen, die ihn von hier fortbegleiteten,« warf Frank erregt ein.

»Gleichviel, was ihn dazu bewegte,« bemerkte Gregor ruhiger, »alles zeugt dafür, daß in dem ängstlich bewachten Behälter die Rätsel verborgen, deren Lösung wir erstreben. Also Kit ist in dessen Besitz?«

»Er versteckte ihn in einer Weise, daß er, außer ihm selbst, keinem anderen zugänglich ist,« bestätigte Flora. »Die Angst um seinen Herrn bewog ihn, mich über sein Tun zu verständigen. So gab er mir auch den Schlüssel, um dem Verdacht vorzubeugen, daß, wenn später etwas fehlen sollte, es durch seine Schuld verloren gegangen sei.«

»Dies alles bestärkt mich in der Voraussetzung, daß der Inhalt der Kassette maßgebend für unser weiteres Verfahren ist,« erklärte Gregor, »verlieren wir daher keine Zeit, mein liebes Kind. Betrachten Sie es als einen Beweis treuer Anhänglichkeit an Ihren Wohltäter, wenn Sie unsere Wünsche erfüllen.«

Flora erhob sich. Trotz des Ernstes, der sie beseelte, lagerte um ihre Lippen jenes süße Lächeln, das man als einen Ausdruck der Befangenheit bezeichnen möchte.

»So bliebe mir nur, den etwaigen Widerstand des guten Kit zu besiegen,« sprach sie, und gleich darauf verschwand sie im Hause.

Bevor Gregor und Frank viele Worte über die mutmaßlichen Enthüllungen gewechselt hatten, gesellte Flora sich ihnen wieder zu. Ein wenig später erschien Kit Kotton, vor sich einen polierten, mit Messingnägeln beschlagenen Mahagonikasten tragend.

»Hier ist das Ding,« sprach er, indem er die Kassette auf den Tisch stellte, »mag der Himmel mir verzeihen, wenn ich damit eine Sünde gegen den ausdrücklichen Befehl des Kapitäns begehe. Erlauben es die Herrschaften, so bleibe ich, bis Sie einen Blick hineingetan haben. Ich muß beschwören können, daß nichts in demselben abhanden gekommen.«

Sein Vorschlag wurde gebilligt, und gleich darauf öffnete der Kasten sich unter Floras zitternden Händen. Ein in Wachsleinwand gehülltes Paketchen lag oben. Unter den ihn gespannt überwachenden Blicken hob Gregor es empor und schlug die Wachsleinwand auseinander. Ein zweiter Umschlag von steifem Papier mußte indessen noch entfernt werden, bevor er einen in Briefform zusammengelegten Bogen, dessen Äußeres ebenfalls von höherem Alter zeugte, in den Händen hielt. Als Aufschrift dienten die mit Bleistift geschriebenen, kaum noch leserlichen Worte: »Für Gilbert Melville. Ein Beweis der treuen Fürsorge seines Vaters.« Bedachtsam las es Gregor vor. Gleich darauf breitete er den geöffneten Doppelbogen auf dem Tische aus. Die Augen senkten sich auf denselben; aber sichtbar enttäuscht blickten alle, als sie die ganze Innenseite des gefalzten Papiers mit kleinen Ziffern bedeckt sahen, die, hin und wieder durch kleine Zwischenräume getrennt, sich reihenweise dicht aneinander drängten.

Längere Zeit dauerte es, bevor man der ersten peinlichen Überraschung Herr wurde und Frank das Schweigen mit den Worten brach: »Unzweifelhaft Chiffreschrift« – erschrocken er zu Gregor auf. Der war geräuschvoll von dem Tische fortgetreten und begann, offenbar heftig erregt, auf und ab zu schreiten.

Ein paarmal schritt er noch auf und ab, dann in der Nähe des Tisches stehenbleibend, ließ er seine Blicke mit eigentümlicher Glut von einem zum andern schweifen, bevor er anhob: »Unglaublich! Und dennoch kann es nicht anders sein. Bestätigen sich meine auf mündlichen Mitteilungen beruhenden Voraussetzungen, so mögen wir ein gutes Glück preisen, das uns dieses Schriftstück in die Hände spielte. Was es wert ist, ahne ich nicht. Der Inhalt,« und er schlug mit der Rückseite der Hand leicht auf den Bogen, »mag in gleichem Range mit den übrigen Erinnerungszeichen stehen, kann aber auch Geheimnisse von weittragender Wichtigkeit in sich bergen. Auf alle Fälle nehme ich das Papier an mich, um es zu seiner Zeit –«

Da legte Kit Kotton die Faust auf den Bogen, und Gregor fest anschauend, sprach er mit rauher Entschiedenheit: »Den Inhalt des Kastens habe ich vor aller Augen freigegeben, weil ich meinte, daß es zum guten sei. Dagegen darf ich nicht dulden, daß auch nur der kleinste Papierfetzen fortgenommen wird. Mit meinem Leben bin ich verantwortlich für alles, so lautet das Kommando des Kapitäns.«

Etwas höher richtete Gregor sich empor, und durchdringend, wie er vielleicht einem zu bändigenden Pferde in die Augen zu starren Pflegte, sah er in das breite Antlitz Kit Kottons, der seinen Blick ruhig aushielt.

»Auch nicht, wenn das Wohl und Wehe einer ganzen Familie davon abhängt?« fragte er ruhig.

»Auch nicht, wenn das Leben der ganzen Welt davon abhinge,« hieß es einfach zurück.

Gregor beschattete wieder flüchtig seine Augen, durchmaß die ganze Länge der Veranda festen Schrittes und trat abermals vor Kit Kotton hin.

»Ihre Treue ehrt Sie,« sprach er, des alten Burschen Hand drückend. »Ohne diese Rätselschrift bin ich indessen ohnmächtig. »Ich frage Sie daher, Kit Kotton, erheben Sie auch dann Einwendungen, wenn ich hier auf dieser Stelle eine Abschrift von dem Inhalt des Papiers nehme?«

»Nein, Herr, keine,« antwortete Kit, »solange ich dadurch nicht gehindert werde, den Kasten samt seinem ganzen Inhalt dem Kapitän wieder einzuhändigen.«

Auf Gregors Bitte brachte Flora Papier und Feder herbei. Etwas später, da saß Gregor über den Tisch geneigt, neben sich den alten Bogen, auf dem der linke Zeigefinger langsam von links nach rechts glitt, je nachdem er mit der rechten Hand unter gespannter Aufmerksamkeit Ziffer nach Ziffer niederschrieb.

Kit Kotton saß zwei Schritte weit von ihm, die argwöhnischen Blicke abwechselnd auf den Kasten, die rätselhafte Schrift und die ausdruckslos schnarrende Feder gerichtet.


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