Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Viertes Kapitel.

Ein Krankenlager.

Die Sonne neigte sich den Scott-Bluffs zu. Geröteten Antlitzes, wie ermüdet, betrachtete sie die sich östlich erstreckende Ebene. Mit zauberischen Reflexen schmückte sie die Ränder der abgesondert stehenden Felstürme. Die sich träge senkenden Sommerfäden zeugten dafür, daß die atmosphärischen Strömungen vollständig entschlummerten. Hier und da weidete wohl noch eine Gruppe Büffel und trieben zierlich gebaute Antilopen ihr munteres Spiel, allein diese Bewegungen verschwanden inmitten der gewaltigen starren Einöde. Ähnlich verhielt es sich mit einem verhältnismäßig leichten Reisewagen auf dem Ufer des Nordarmes, dessen weißes Leinwandverdeck weithin leuchtete, mit zwei Pferden, die in dessen Nähe grasten, und endlich mit einer schmalen Rauchsäule, die einige Schritte abwärts einer kleinen Feuerstelle entquoll und steil in die regungslose Atmosphäre emporstieg.

Von dem Seitenbrett des Wagens aus war ein Stück Segeltuch zeltartig mittels Pflöcken und Schnüren auf dem Erdboden befestigt worden. Alles, was zur Bequemlichkeit in dem Wagen mitgeführt worden, hatte zur Herstellung eines Lagers unterhalb dieses notdürftigen Schutzdaches gedient. Wollene Decken bildeten dessen Hauptbestandteile; ein weiches Pfühl lag zu Häupten, gewiß ein für dortige Verhältnisse üppiges Bett; aber wie unzureichend erschien es, wenn man diejenige betrachtete, für die es mit so viel Bedacht und treuer Sorgfalt geordnet worden war.

Eine junge Frau lag darauf. Durch die obere Decke hindurch ließen sich notdürftig die Formen einer schlanken Gestalt erkennen. Die bis zu den Ellenbogen hinauf sichtbaren weißen Arme waren von erschreckender Hagerkeit und zeugten von unheilbarem Siechtum. Der eine ruhte auf der Decke; den anderen hatte sie um ein neben ihr schlummerndes Kind von höchstens einem Jahr geschlungen. Dieselbe Hagerkeit trat in dem Antlitz der jungen Dulderin zutage, nur daß hier der Eindruck durch eine gewisse Engelsschönheit gemildert wurde und das einzige Gefühl schmerzlicher Teilnahme wachrief. Das erhöht ruhende Haupt war unbedeckt. In langen lichtblonden Wellen floß das aufgelöste seidenweiche Haar über das Pfühl und die Schultern bis weit über die Decken hin.

Die arme junge Frau war offenbar in trauriges Nachdenken versunken. Ausdruckslos, gleichsam mechanisch schweiften ihre Blicke im Kreise. Bald überflogen sie die in ihrer Nähe stehenden Blechgefäße, die dürftige Erfrischungen für sie und das Kind enthielten, bald die beiden kräftigen, wenn auch mageren Pferde, oder die in ihrem Gesichtskreise befindlichen Büffelherden, um immer wieder mit einem rührenden Ausdruck inniger Herzensgüte zu dem vor dem Feuer beschäftigten jungen Manne zurückzukehren. Dieser, fast noch ein Knabe, jedoch für das Alter von siebzehn Jahren ungewöhnlich hoch und kräftig gewachsen, überwachte einen Kessel, in dem siedendes Wasser um einige ausgesuchte Stücke Büffelfleisch herumbrodelte, und einen anderen Behälter, der zur Bereitung des Tees diente, beides zur Nahrung für die Kranke bestimmt; ferner eine Pfanne mit einem Vorrat in Fett zischenden Fleisches für seinen eigenen Bedarf. Seine einfachen abgetragenen Kleidungsstücke erzählten von langer beschwerlicher Reise und anstrengender Arbeit. Dagegen brauchte man nur einen Blick auf sein braungelocktes Haupt, auf das noch jugendweiche sonnverbrannte Antlitz oder in die ruhigen blauen Augen zu werfen, um ihn nicht in einen Rang mit gewöhnlichen Knechten und Viehtreibern zu stellen. Rege beschäftigt, fand er doch Zeit, immer wieder zu der jungen Frau und deren Kind hinüberzuspähen; dann offenbarte sich in seinen Zügen ein Ausdruck, als hätte er in lautes Klagen und Jammern ausbrechen mögen.

Eine Weile war in Schweigen verstrichen, als er, aufschauend, einem traurigen Blick der jungen Frau begegnete.

»Edith,« sprach er ermutigend hinüber, »es ist jetzt soweit, daß du etwas genießen kannst. Fleischbrühe und Tee sind fertig.«

»Ich möchte warten,« antwortete eine sanfte, matte Stimme. »Ich fühle noch kein rechtes Bedürfnis, außerdem schläft die Kleine so sanft, ich würde sie wecken. Schiebe die Gefäße so weit von der Glut zurück, daß der Inhalt abkühlt, jedoch nicht ganz erkaltet. Nachher will ich mit Thusnelda gemeinschaftlich essen. Aber du selber – laß dich dadurch nicht hindern –«

»Ich verspüre keinen Hunger,« fiel der junge Mann fast rauh ein, und etwas regsamer ordnete er zwischen den Gefäßen.

»Ich kenne dich, Gregor,« versetzte Edith Melville dringlich, »es widerstrebt dir, allein zu essen, und doch gewährt es mir Freude, dich bei einer kräftigen Mahlzeit zu beobachten.«

»Ich wiederhol's,« bekräftigte Gregor erzwungen sorglos, »ich verspüre nichts weniger als Hunger.« Er sann einige Sekunden nach, und mit der unverkennbaren Absicht, die arme Dulderin dadurch zu ermuntern, erzählte er in beinahe fröhlichem Tone: »Ein Glück, daß ich das Tier erlegte. Die frische Fleischbrühe ist geradezu Arznei für dich. Wir haben überhaupt vorläufig keine Not zu befürchten, und lange kann es nicht dauern, bis Jessie und Jones uns Hilfe schicken.«

Durch einen Blick auf Edith überzeugte er sich, daß sie seinen Worten mit freundlicher Teilnahme lauschte, und ohne Säumen fuhr er lebhaft fort: »Hättest nur sehen sollen, wie die junge Kuh sich überschlug, als ich ihr auf 30 Meter die Kugel ins Auge schoß. Schade drum, daß wir uns mit den Wölfen in das Fleisch teilen müssen. Ich werde indessen für mehr sorgen. Ist's doch eine Lust, hier herum zu jagen. Wenn eine Herde das Strombett kreuzt, brauche ich mich nur in den Hinterhalt zu legen, um das beste Stück auszusuchen. Wärest du erst wieder ganz gesund, möchte ich nie eine feinere Zeit erleben.«

Ein schmerzliches Lächeln belebte flüchtig das zarte Antlitz der Leidenden.

»Ich und gesund!« seufzte sie; »aber ein Glück, daß du den Mut nicht verlierst. Durch dein Beispiel fühle auch ich mich ermutigt, seit einigen Stunden sogar körperlich erleichtert. Oder fiel dir nicht auf, daß ich kaum noch huste? Und es kann ja nicht Gottes Wille sein, daß wir hier in der endlosen Wildnis zugrunde gehen.«

»Unsinn,« versetzte Gregor achselzuckend, sah aber in eine andere Richtung, »solange uns die Pferde, der Wagen und meine Büchse bleiben, gibt es keine Gefahr; und der Tag kommt ebenfalls, an dem das Fahren dir keine Qual mehr bereitet. Ob die Hilfe etwas früher oder später eintrifft, fällt daher nicht ins Gewicht.«

»Du meinst wirklich, daß Jessie und Jones nur davongingen, um die Leute auf dem Fort für uns in Bewegung zu setzen?« fragte Edith ungläubig.

»Warum sollten sie nicht? Auf alle Fälle kehren sie nicht zurück, bevor sie Beistand gefunden haben,« tröstete Gregor, und wiederum kehrte er sein Antlitz ab, um die auf demselben wirkende Besorgnis zu verheimlichen. Denn unter dem Schutze der Nacht und ohne sich zu verabschieden hatten die beiden Dienstboten sich auf den Pferden entfernt, unzweifelhaft, um eine vorausgeeilte Karawane einzuholen und sich dieser anzuschließen.

Nach einer Pause hob die junge Frau wieder an: »Gregor, setze dich zu mir. Ich möchte mit dir reden. Bleibst du dort, so bin ich gezwungen, meine Stimme zu sehr anzustrengen; und ich muß mich schonen, obwohl ich mich heute freier fühle als seit Wochen.«

Gregor erhob sich schnell, und dem Ruf Folge leistend, streckte er sich so hin, daß sein Oberkörper unter das Zeltdach reichte, sein Kopf sich also beinahe neben dem Haupte Ediths befand.

»Also wohler fühlst du dich,« begann er fast zu heiter für den Ausdruck der Wahrheit, »nun ja, du wirst die eigentliche Krankheit überstanden haben, so daß du nur noch Kräfte zu sammeln brauchst. Deine Stimme klingt wirklich freier, und in der Tat, du hustest kaum noch.«

»Gott sei Dank, Gregor, wer weiß, ich mag es dennoch überstehen. Ich wollte ja so dankbar sein, wenn ich mit dem Kinde nur noch die ersten Ansiedelungen erreichte. Aber gerade weil ich mich heute auffällig besser befinde, möchte ich ein ernstes Wort mit dir sprechen. Bisher brachte ich es nicht übers Herz, die Möglichkeit zu erwähnen, daß mein armes kleines Töchterchen auch mutterlos werden könnte, nachdem es bereits den Vater verlor –«

»Nenne ihn nicht,« fiel Gregor bitter ein, »er ist zwar mein naher Verwandter und dein Mann; seitdem er sich aber gegen dich verhärtete und versündigte, weil du unschuldige Menschen vor der Rachsucht der Rebellen zu bewahren suchtest, spreche ich seinen Namen nur noch mit Widerwillen aus.«

»Urteile nicht so streng über ihn,« versetzte Edith klagend, »bedenke, er war abwesend, außerdem den Einflüssen seines Vaters und zahlreicher Verwandten ausgesetzt, namentlich dem der unbarmherzigen Tante Sarah.«

»Das war ich ebenfalls,« erwiderte Gregor heftig, »aber gerade, weil man mich gewaltsam in die Reihen der Rebellen drängen wollte, hasse ich die Sezession doppelt. Jetzt bin ich ein freier Amerikaner und bahne mir meinen Weg ohne fremde Hilfe durchs Leben. Du aber und die kleine Thusnelda hier, ihr sollt keine Not leiden, solange ich noch ein Glied zu rühren vermag, darauf magst du bauen und alle deine Sorgen von dir abstreifen.«

Während Gregor mit einem Gemisch von Haß und Begeisterung sprach, betrachtete Edith ihn mit ängstlicher Spannung. Dann reichte sie ihm die Hand und liebreich hob sie an: »Deine Anhänglichkeit wird dir noch einmal reich gesegnet werden, und hörst du es gern, lieber Gregor, so gestehe ich, daß deine Freundschaft und dein Schutz mir lieber sind, als hätten hundert andere sich zu meinem Beistand um mich geschart. Und welchen Verlaß bieten mir andere? Die, denen wir uns am Missouri angeschlossen, waren froh, uns der langsameren Reise wegen endlich abschütteln zu können, und die beiden Dienstleute, die gegen vorausbezahlten Lohn sich verpflichteten, bei uns auszuharren – ich würde mich mehr wundern, kehrten sie mit den Pferden zurück, als wenn wir sie nie wiedersähen. Ich bin es zu sehr gewohnt, von allen Seiten hintergangen, bedrängt und verstoßen zu werden.«

»Nein, Edith,« fiel Gregor anscheinend zuversichtlich ein, »so trostlos, wie du glaubst, ist unsere Lage sicher nicht. Und läge Kalifornien so weit, wie der trübselig dareinschauende Mond da oben von der Erde, so brächte ich euch wohlbehalten dahin. Also sorge nicht; sage lieber, daß ich dir Erfrischungen reichen soll.«

»Noch nicht, Gregor; ich muß mich zuvor ausgesprochen haben. Alles mußt du wissen, was mein Herz beschwert, soll ich überhaupt noch eine ruhige Stunde verleben. Dein Mut ist mein Trost, und gelänge es dir auch nur, das Kind zu gewissenhaften Menschen in Pflege zu bringen, so wollte ich dich noch aus meinem Grabe tausendfach segnen.«

»Euch beide, Edith, euch beide. Ich habe meine Ahnungen, und die täuschen mich nie.«

»Gut, Gregor, von Herzen gern will ich's glauben. Doch die Zukunft zu durchdringen und nach unseren Wünschen zu gestalten, sind die Kräfte Sterblicher zu schwach; wir müssen daher alle Fälle ins Auge fassen, auch den, daß es mir vielleicht nicht vergönnt ist, unser Ziel zu erreichen. Deshalb sehne ich mich, meinen letzten Willen in deine Hände niederzulegen – zu meiner eigenen Beruhigung.

Und so höre: Sollte das Schlimmste für mein kleines Kind eingetreten sein – und Verhängnisvolleres gibt es ja nicht für solch zartes, hilfloses Wesen, als den Verlust der Mutter – so fällt Thusnelda dir als Erbteil zu. Dir allein vertraue ich sie an, denn ich weiß, daß kein Zweiter in der Welt so gewissenhaft über sie wachen würde, wie du. Dir gehört sie; du wirst für sie sorgen, sie nie aus den Augen verlieren. Wohl weiß ich, daß du im Kampf ums Dasein dich nicht an eine bestimmte Scholle binden kannst, wohl begreife ich, daß du mit deinem frischen Geist nach Höherem strebst, sogar streben mußt, anstatt dumpf hin zu vegetieren; allein das wird dich nicht hindern, Thusnelda an sicherer Stelle unterzubringen, von Zeit zu Zeit dich zu überzeugen, daß es ihr an nichts fehlt. Willst du mir das versprechen, Gregor? Willst du mir diesen Trost, wenn wir vielleicht voneinander scheiden sollten, mit in das Jenseits hinüber geben?«

»Ich will, ja, ich will,« antwortete Gregor hastig und halb erstickt, als hätte er befürchtet, durch die in ihm wirkende Rührung übermannt zu werden, »ja, Edith, das verspreche ich dir. Sollte mir wirklich die Gelegenheit geraubt werden, das an dir zu sühnen, was andere schamlos verbrachen, so trenne ich mich nie von Thusnelda. Unter meinen Augen soll sie aufwachsen, soll sie lernen und sich ausbilden.«

»Du warst von jeher mein treuester Freund,« erwiderte Edith, und inniger, als die sich matt regenden Lippen, zeugte der schwermütige Blick von ihrer Dankbarkeit. »Du bist noch jung, aber in dir wohnt der Wille und die Tatkraft eines gereiften Mannes. Was du versprichst, das führst du aus: mein Kind wirst du beschützen und beschirmen immerdar, daß ich ruhig schlafen kann.«

»Edith, was ängstigst du dich und sorgst du?« sprach er weich. »Über solche Dinge mögen wir später sprechen, nachdem wir wohlbehalten in Kalifornien eingetroffen sind. Und je aufmerksamer ich dich betrachte, um so mehr schwinden meine Zweifel, daß in deinem Befinden eine entschiedene Wandlung zum Besseren eingetreten ist –«

»Ja, ja, Gregor, das fühle ich selber, und gerade deshalb, ich wiederhole es, möchte ich dies Gespräch mit dir zu Ende führen. Und wer sagt vorher, wie lange das Wohlbefinden andauert? Wer so viel erduldete, wie ich, dessen Lebenskräfte müssen sich schließlich erschöpfen.«

»Nein, nein, Edith,« unterbrach Gregor sie nunmehr bewegt, »so rede nicht, am wenigsten jetzt, da wir zu den besten Hoffnungen berechtigt sind. Wozu diese peinlichen Aufregungen –«

»Und dann noch eins,« fiel Edith leise ein, als hätte die Unterbrechung nicht stattgefunden, »kränkte es mich auch tief, daß mein eigenes kleines Vermögen mir mit auf den Weg gegeben wurde, zum Beweise der gänzlichen Lossagung von mir, so betrachte ich jetzt diesen Umstand als einen Segen. Du bist klug, du bist umsichtig weit über deine Jahre; du wirst getreulich mit dem Gelde haushalten, leicht jemand ausfindig machen, dessen Rat du vertrauen kannst. Im übrigen brauchst du über die Verwendung des Geldes keinem Rechenschaft abzulegen. In meinem Wäschekoffer findest du mehrere Pakete Briefe und sonstige Schriftstücke, die sich auf Thusneldas und meine Geburt beziehen. Dieses und jenes Papier mag auch zu irgendwelchen Ansprüchen berechtigen – ich weiß es nicht – und daher von Wert für sie sein. Hätte ich selbst es nie über mich gewonnen, Ansprüche irgendeiner Art geltend zu machen, so darf ich dir nicht wehren, für deinen Schützling einzutreten. Das wäre also mein letzter Wille –«

»Edith, Edith, nicht weiter in diesem Sinne,« nahm Gregor schnell wieder das Wort; »bevor es Zeit wird, derartiges zu beraten, geht noch manches Jahr hin – da – Thusnelda hat die Augen aufgeschlagen – so verständig betrachtet sie mich, als hätte sie jedes Wort verstanden.«

»Mein Kind, mein Engelskind,« lispelte Edith kaum vernehmbar, und da die Last der Kleinen ihre Kräfte überstieg, hob Gregor sie empor, ihr zugleich eine solche Lage gebend, daß die Mutter sie zu herzen und zu küssen vermochte.

»Mein Töchterchen, mein Engelskind,« wiederholte diese immer wieder, während heiße Tränen ihren Augen entstürzten und sie nur mit Mühe lautes Schluchzen unterdrückte: »Du, mein liebes, liebes Kind; jetzt kann ich getröstet von dir gehen, wann auch immer es sein mag –«

»Sie wird trinken wollen,« warf Gregor ein, um Edith an der Fortsetzung des ihn marternden Gespräches zu hindern.

»So gib ihr schnell,« antwortete diese lebhaft, und aufs neue beschäftigte sie sich mit dem lieblichen Kinde, bis Gregor mit einer gefüllten Flasche zurückkehrte.

Mütterlich sorgsam überwachte sie, wie die Kleine mit allen äußeren Zeichen des Behagens die Flasche leerte. Auf Gregors dringende Bitte nahm auch sie eine gefüllte Tasse, stellte sie indessen zur Seite, nachdem sie den Inhalt kaum mit den Lippen berührt hatte. Mit Gregors Hilfe bettete sie das Kind darauf wieder so neben sich, daß sie es, ohne die Lage ihres Hauptes zu ändern, im Auge behalten konnte. Als Spielzeug reichte sie ihm eine ihrer langen weichen Locken, die sich unter den regsamen kleinen Händchen alsbald in eine Art Gewebe verwandelte.

»Ich werde meine Not haben, das Haar wieder zu entwirren,« sprach sie leise zu Gregor, der wieder neben ihr kniete: »arme kleine Waise, wachte dein guter Engel nicht, was sollte da wohl aus uns werden.« Und wieder zu Gregor, der sich ihr zuneigte, um sich keines ihrer hauchähnlich gelispelten Worte entgehen zu lassen: »Ich fürchte, trotz der wiederholten Pausen, mit dem anhaltenden Sprechen mir zu viel zugemutet zu haben. Ich atme zwar freier, als seit Wochen, allein mich beschleicht eine unwiderstehliche Müdigkeit – nachdem ich eingeschlafen bin, höre ich die Kleine vielleicht gar nicht – du hast solch leisen Schlaf, Gregor; sollte sie sich melden, so wecke mich augenblicklich – gute Nacht, mein holder Liebling – gute Nacht, du lieber getreuer Gregor – welch wohltuende Müdigkeit –«

Das Händchen entzog sich ihrem sanften Griff; ihre Augen schlossen sich, in leisen, aber regelmäßigen Zügen entwand der Atem sich den von den weißen Zähnen etwas zurückgewichenen Lippen.

Ernst betrachtete Gregor das Wehmut erzeugende Bild. Behutsam wollte er die spielenden Hände von dem Haar befreien, stand aber davon ab, als die Kleine laut ihren Unmut zu erkennen gab. Er glaubte, daß deren Klagen störender auf den Schlaf der Mutter einwirken würden, als das gelegentliche Zerren, durch das sie an die Nähe und das Wohlbefinden ihres Kindes erinnert wurde.

Ein Schleiertuch von zartem Gewebe, das zur Hand lag, breitete er vorsichtig über das stille bleiche Antlitz zum Schutz gegen den nächtlichen Tau und lästige Fluginsekten. Ebenso vorsichtig zog er die Decke über Hände und Unterarme. Edith rührte sich nicht. Einen letzten freundlichen Blick warf er auf die Kleine, und geräuschlos schlich er unter dem Zeltdach hervor und nach der anderen Seite des Wagens herum, um nochmals nach den Pferden zu sehen. Dann erst begab er sich ans Feuer zurück, wo er sein Abendbrot verzehrte und die nötigen Vorbereitungen für den folgenden Tag traf. Bevor er sich zum Schlaf unterhalb des Wagens in seine Decken hüllte, leuchtete er mit einem brennenden Holzspan unter das Zeltdach. Die junge Frau hatte sich noch nicht gerührt. Auch das Kind war eingeschlafen. Die kleinen Fäuste hatten sich in das seidenähnliche helle Gelock der Mutter verwickelt. Straff waren die dicken Haarsträhne angespannt, daß Gregor sich schier wunderte, wie Edith dabei hatte einschlafen können. Aber eine Beruhigung nahm er mit auf sein dürftiges Lager, die zuversichtliche Hoffnung, daß mit der Wendung zum Guten in dem Befinden der geliebten Verwandten die schwerste Besorgnis von seiner jungen Seele genommen worden.


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