Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Unerwarteter Besuch.

Mit dem letzten Wort, das Gregor vorlas, faltete er das Schriftstück zusammen, behielt es aber in der Hand. Es war ersichtlich, der Inhalt, obwohl mit demselben vertraut, hatte ihn tief ergriffen, so daß er eine Pause eintreten lassen mußte, um zur Fortsetzung der Verhandlung seine Gedanken zu sammeln. Dann fuhr er nach kurzem Zögern fort:

»So lautet also der letzte Wille des Kolonels, niedergeschrieben in Vorahnung seines in der Tat bald darauf erfolgten Endes. Er zeugt von rührender Liebe und treuer Fürsorge, die in ihrer Kundgebung wohl durch politische Grundsätze beeinflußt, jedoch nie erstickt werden konnten.«

Wie eine Gegenbemerkung erwartend, ließ er eine kurze Pause eintreten; dann nahm er seine Mitteilungen wieder auf:

»Den beiden Erben oder deren Vertretern, also Charles Stocton und Frank Stocton, steht es mithin frei, sich nach der Havanna zu begeben und das betreffende Vermögen flüssig zu machen. Es bleibt mir also nur noch eine endgültige Auseinandersetzung mit Mr. Slowfield anzustreben.« Und zu diesem gewendet: »Sind Sie bereit, in ebenso bündiger Weise, wie bisher alles abgesponnen wurde, Rechenschaft abzulegen? Ich füge hinzu, daß wir hier nicht um Dollars feilschen, sondern eingedenk sind des Vertrauens, das der Kolonel in Sie setzte.«

Slowfield atmete auf. Einige Sekunden sann er nach, worauf er zögernd bemerkte: »Ohne Hilfe meiner Bücher ist eine genaue Rechenschaftsablegung mir freilich unmöglich. Pflichtgetreu vermittelte ich zwischen der Behörde und den Erben; ebenso gewissenhaft verteilte ich die Zinsen gegen doppelte Quittungen.« »Bis zu welchem Betrage bezogen Sie Gelder aus der Havanna?«

»Ich wiederhole, ohne die Bücher bin ich nicht imstande, die ganze Summe auch nur annähernd zu nennen.«

»Aber ich bat in meinem Briefe darum, Sie möchten zu der vorläufigen Vereinbarung sich einigermaßen vorbereiten. Doch vielleicht erzielen wir auch ohne das eine Einigung. Auf alle Fälle kennen Sie die Höhe der Summe, mit der Sie an der Plantage beteiligt sind?«

»Laut des mir von dem Kolonel ausgestellten Empfangsscheines hundertundzwanzigtausend Dollars. Hinzuzurechnen wären noch die ausgefallenen Zinsen.«

»Gut. Kolonel Melville opferte sein eigenes ganzes Vermögen. Sie dagegen, der Sie ihm stets zur Seite standen, dieselben Grundsätze mit ihm vertraten, wollen gänzlich ungeschädigt aus den Wirren hervorgehen? Ich verarge es Ihnen nicht. Eine Prüfung Ihrer Forderungen werden Sie sich indessen gefallen lassen müssen.« Und zu dem Prokuristen gewendet: »Ich darf darin wohl auf Ihre gütige Unterstützung rechnen.«

Dieser verneigte sich zustimmend.

Gregor sandte einen besorgten Blick zu Miß Sarah hinüber. Diese verharrte noch immer in ihrer Teilnahmlosigkeit. Was gesprochen wurde, schien für sie ungehört zu verhallen. Dann kehrte er sich Stuart mit den Worten zu: »Wollen Sie die Güte haben, die Summe zu nennen, die die Erben im Laufe der Jahre durch Vermittlung Slowfields von dem Hause Romero bezogen?«

Stuart öffnete eine stark gefüllte Brieftasche, und nach kurzem Blättern bemerkte er mit geschäftlicher Kürze: »Nach den vorliegenden Quittungen belaufen die gezahlten Zinsen sich in runder Summe auf vierundsechzigtausend Dollars.«

Bei dieser Ankündigung sahen Stocton und Marianne erschrocken empor. Sogar Miß Sarah sandte einen Blick des Erstaunens von unten herauf zu Slowfield hinüber, um alsbald wieder in sich zusammenzusinken. Als hätte er seinen Sinnen nicht getraut, starrte Slowfield auf den Prokuristen; nur mühsam brachte er hervor: »Unmöglich – es muß ein Irrtum walten –«

»Unmöglich sind nur Irrtümer in dem Hause Romero & Comp.,« schnitt Stuart mit eigentümlicher Schärfe ab, was Slowfield in seiner Bestürzung hinzufügen wollte.

Gregor, des Zwischenfalls nicht achtend, wendete sich an den Prokuristen mit den Worten: »Mr. Stuart, legen Sie gefälligst Mrs. Stocton ihre Quittungen vor.«

»Nie stellte ich eine Quittung aus, nie empfing ich Geld,« versetzte Marianne erregt, »ich weigerte mich sogar standhaft, das Geringste anzunehmen. Mr. Slowfield weiß es; ihm teilte ich meine Gründe dafür mit.«

»Und dennoch sind hier deine Quittungen,« erklärte Gregor. Er nahm ein ihm von dem Prokuristen überreichtes Paketchen Papiere, anscheinend Wechselformulare, und schritt zu Marianne hinüber. Das oberste Blatt zurückschlagend und es Marianne vor Augen haltend, fragte er: »Ist das deine Unterschrift?«

Verstört betrachtete Marianne ihren Namen; dann sprach sie mit einem Blick unsäglichen, verachtungsvollen Erstaunens auf den nunmehr völlig ratlosen Slowfield: »Ich würde sie für die meinige halten, wüßte ich nicht zu genau, daß nie ein derartiges Papier von mir unterzeichnet wurde.«

»Gut,« versetzte Gregor, »diese Quittung lautet über den Empfang von zweitausend Dollars an jährlichen Zinsen. Die anderen sechzehn unterscheiden sich nicht von der ersten. Wir wollen daher das Verfahren nach Möglichkeit abkürzen und zwar in Erinnerung der uns von dem Kolonel anempfohlenen Rücksichten für seinen vertrauten Freund.« Er wendete sich an Frank: »Wie hoch belaufen sich die an deinen Onkel Gilbert gezahlten Zinsen?«

»Tausend Dollars jährlich,« antwortete Frank lebhaft.

»Hier stehen ebenfalls zweitausend,« bemerkte der Prokurist, Gregor ein zweites Päckchen überreichend.

»Alle richtig vollzogen,« erklärte dieser, die Formulare flüchtig durchblätternd, »und wie hoch beläuft sich die an Miß Sarah gezahlte Pension?«

»Auf achthundert Dollars,« antwortete Stuart.

»Entsetzlich – dreihundert –« rief Miß Sarah mit eigentümlich veränderter Stimme aus. In ihrer Bestürzung wollte sie sich erheben, sank aber, wie von Schwäche übermannt, wieder zurück.

»Kleine Irrtümer sind ja überall möglich,« suchte Gregor sie zu beruhigen, und zu Slowfield: »Sie räumen das gewiß gern ein, wenn auch nur, um des Kolonels Andenken zu ehren.«

Slowfield verneigte sich zustimmend. Angesichts der erdrückenden Beweismittel schien nur noch das Leben eines künstlich geschaffenen Holzgebildes in ihm zu wohnen.

»Mr. Stuart,« kehrte Gregor sich diesem wieder zu, »wie hoch berechnen Sie die Differenz zwischen den gezahlten Geldern und den irrtümlich vermerkten Summen?«

»Auf nahe an vierzigtausend Dollars,« hieß es gelassen zurück, »eine genauere Berechnung muß ich mir vorbehalten.«

»Es wird nicht nötig sein, wenn ich Mr. Slowfield richtig beurteile,« wendete Gregor ein, »ich gehe nämlich von dem Grundsatz aus, daß man dem zurückweichenden Feinde Brücken bauen soll. Ist Mr. Slowfield damit einverstanden, so verdoppeln wir die Summe auf Grund der erwähnten Kursdifferenzen, und ziehen also achtzigtausend Dollars von der Schuldforderung ab, wogegen der Rest zu seiner Zeit in Gold ausgezahlt werden soll. Um einige hundert oder tausend Dollars feilschen wir nicht. Was meinen Sie dazu, Mr. Slowfield?«

»Einverstanden,« antwortete dieser sichtbar erleichtert, »wohl aber möchte ich um Gelegenheit bitten, eine Erklärung für die Irrtümer –«

»Überflüssig,« unterbrach ihn Gregor, und zum erstenmal mit einem Ausdruck tiefster Verachtung, »wir haben uns vor Zeugen geeinigt, und Ihnen bleibt nur, das Dokument über die an den Kolonel geleisteten Vorschüsse an mich zu übermitteln. Und nun, meine Herrschaften, was jetzt noch zu besprechen, erledigen wir wohl besser im engsten Familienkreise, und damit wäre der auf mich entfallende Teil unserer gemeinschaftlichen Aufgabe für heute erfüllt.«

Slowfield erhob sich. Die Zufriedenheit, von einem milden Richter abgeurteilt zu sein, wurde erhöht durch das Bewußtsein, immer noch keinen Schaden erlitten zu haben. Mit höflichem Gruß entfernte er sich.

In diesem Augenblick wurde die Aufmerksamkeit aller auf Miß Sarah hingelenkt. Nach einem langen Blick unsäglicher Trostlosigkeit auf Stocton war sie plötzlich in sich zusammengebrochen. Nur das Hinzueilen Mariannes und Franks hinderte, daß sie von ihrem Stuhl zur Erde glitt. Zugleich hatte Leichenblässe ihr Antlitz überzogen; kaum verständlich klang ihre Stimme als sie bat, in ihr Schlafzimmer geführt zu werden. Mit äußerster Vorsicht wurde ihr Wunsch erfüllt; willig duldete sie, daß Kapitän Stocton selber sie in ihren Bewegungen unterstützte. Nur Gregor, Slowfield und der Prokurist waren in dem Wohnzimmer zurückgeblieben. »Meine Aufgabe hier ist wohl erfüllt,« bemerkte letzterer, als Gregor ihm durch einen Händedruck für seinen Beistand dankte; dann begab er sich hinaus, um in der Nähe des Baldachins in Thusneldas Gesellschaft das Weitere zu erwarten.

Gleich darauf erschien Stocton, gefolgt von seinem Sohne, mit der beruhigenden Versicherung, daß nur eine ohnmachtähnliche Erschöpfung Miß Sarah unfähig gemacht habe, den ferneren Verhandlungen beizuwohnen, und Mariannes alleinige Pflege genüge.

Kurz darauf kam auch Marianne. »Ist er fort?« fragte sie eintretend und spähte besorgt um sich.

»Gegangen, um uns nie wieder unter die Augen zu treten,« antwortete Stocton.

»Gott sei Dank, Charles. Ich habe gebebt, solange er in meiner Nähe weilte. Und den nannte der Vater seinen Freund und Vertrauten.«

»Und doch hast du ihn nicht ganz kennen gelernt,« versetzte Gregor düster, »das Strandhaus deines Bruders war nicht minder ein Feld für seine verbrecherische Tätigkeit. Sein Arm reichte weit, seine Gewissenlosigkeit noch weiter. Freilich, er arbeitete um hohen Lohn.«

»Gregor,« erwiderte Marianne flehentlich, »in dieser ernsten Stunde verzeihst du gewiß eine Frage an dein Herz. Bist du denn gänzlich unversöhnlich? Bedenke, was der arme Gilbert erduldete! Um seiner Leiden willen gönne ihm, daß der nur einzig denkbare Lichtblick seinen Lebensabend erhelle.«

Gregors Antlitz hatte sich verfinstert.

»Marianne, Marianne, laß ab davon, immer wieder die alten Wunden aufzureißen,« sprach er rauh, »mein Lebensweg wurde mir vom Geschick vorgezeichnet, und von dem weiche ich nicht ab. Was ich beschlossen habe, es bleibt bestehen. Nicht an mich denke ich, sondern an Thusneldas Seelenfrieden –-«

Er lauschte auf die Veranda hinaus, wo Schritte sich der Haustüre genähert hatten.

»Ich kenne den Weg noch,« glaubte er zu verstehen, und zwar in einem Tone gesprochen, der das Gefühl in ihm erzeugte, als ob eine erkältende giftige Strömung durch seinen Körper gerieselt wäre. Bestürzt kehrte er sich Frank zu, der, nicht minder erschrocken, auf die an ihn gerichtete stumme Frage antwortete: »Unmöglich! Es kann nicht sein. Alle nur denkbaren Vorkehrungen traf ich, ihn trotz seiner dringenden Einwendungen fern zu halten –« Er brach ab. Gleich den Übrigen heftete er die Blicke auf die Tür, auf deren anderer Seite schlürfende Schritte sich näherten, denen sich im langsamen Takt der Fall schwer bekleideter Füße zugesellte.

Endlich öffnete sich dieselbe und über die Schwelle schritt, auf der einen Seite seinen Stab benutzend, auf der anderen liebreich geführt von Thusnelda, Gilbert Melville. Hinter ihm wurden die kurze breitschulterige Gestalt des entzückt vor sich hin grinsenden Kit Kotton und die jungfräulich zarte Floras sichtbar, denen Wasp bedächtig auf dem Fuße nachfolgte. Frohlocken spiegelte sich auch auf Gilberts Zügen, die dadurch, daß sie in fieberhafter Erregung glühten, sich gewissermaßen verjüngt hatten. In Thusneldas Augen glänzten Tränen. Wehmut und Freude verliehen dem holden Antlitz einen unbeschreiblichen Liebreiz. Nicht für ihre Umgebung hatte sie Sinn, sondern allein für den Vater, dessen schwerfällige Bewegungen sie nach besten Kräften zu erleichtern suchte. Anders Flora. Jungfräuliche Befangenheit lugte aus ihren sonst so fröhlichen Augen, indem diese nach allen Richtungen schweiften; tiefer erglühten ihre Wangen, als sie Franks ansichtig wurde und einen unzweideutigen Ausdruck freudigen Erstaunens auf seinem Antlitz entdeckte.

Schweigen herrschte unter den in dem Zimmer Anwesenden. Ihn, den man in weiter Ferne wähnte, plötzlich vor sich zu sehen, die Furcht vor der Wirkung des ungeahnten Ereignisses auf Gregor, erzeugten ein gewisses Gefühl der Erstarrung. Die Eintretenden im Auge, wagte niemand zu ihm aufzuschauen. Als die Tür sich öffnete, war er, wie vor einem Abgrunde zurückschaudernd, bis nach der anderen Seite des Zimmers hinübergeschwankt. Dort stand er, als ob das Leben im Begriff gewesen wäre, ihn zu verlassen. Die breite Brust hob und senkte sich, wie bei einem Erstickenden. Totenbleich war sein männlich schönes Antlitz. Starr betrachtete er Gilbert, der vorsichtig darauf achtete, wohin er seine Füße stellte und daher nur flüchtig um sich spähte. Mit derselben Starrheit sah er auf Thusnelda. Alle Liebe, die unerschütterliche Anhänglichkeit, geboren und erstarkt auf dem Boden treuer Fürsorge vieler Jahre, schien plötzlich in ihm gestorben zu sein. Die Ähnlichkeit Thusneldas mit ihrer Mutter, zumal in der weiblich zarten fürsorglichen Haltung, rief ihm überwältigend ins Gedächtnis zurück, welchen Qualen die arme Dulderin ausgesetzt gewesen, bevor sie in ferner Wildnis ihr einsames Grab fand. Ein dumpfes Gefühl, daß er vor einem Wendepunkt seines Lebens stehe, beschlich ihn, die Empfindung, daß alles, was ihn bisher in seinem Tun und Denken leitete, seine Kraft wie seinen Willen stählte, ihn erfreute, noch eine letzte Probe von Zugänglichkeit für andere Menschen in ihm wach hielt, nunmehr unwiderruflich und auf ewig für ihn verloren sei.

Da brach, nachdem sie mit ihrem Vater bis in die Mitte des Zimmers vorgeschritten war, Thusnelda das dumpfe Schweigen.

»Gregor!« rief sie klagend aus, und zum schneidenden Vorwurf verwandelte ihre Stimme sich in dessen Ohren, »Gregor, du wußtest, daß mein Vater lebte, du sahst – du sprachst ihn!«

Gregor hörte es, aber er rührte sich nicht. Verloren gingen für ihn die gleichsam beschwörenden Blicke Mariannens und Stoctons, die vergeblich seine Augen suchten.

»Gregor, mein Kind hast du gerettet; du hast es beschützt und beschirmt. Gott segne dich, du lieber, lieber Gregor!« fügte Gilbert mit einem unbeschreiblichen Ausdruck der Dankbarkeit und Wehmut hinzu.

Da richtete Gregor sich mit einer Heftigkeit empor, daß Gilbert und Thusnelda unwillkürlich stehen blieben, und weder Marianne noch Stocton in ihrer tiefen Besorgnis daran dachten, den nach so vielen Jahren wieder vor sie hintretenden Totgeglaubten verwandtschaftlich zu begrüßen. Ihre Blicke hingen wie gebannt an Gregors Lippen. Sie wagten kaum zu atmen.

»Ja,« sprach dieser nunmehr mit einer Ruhe, welche unheimlich zu der Erregtheit der übrigen Anwesenden kontrastierte, »dein Kind rettete und beschützte ich. Ich nahm es aus den Armen seiner toten Mutter, des armen Opfers fluchwürdiger Ränke und unnatürlicher Lieblosigkeit. Deine Frau bettete ich in tiefer Wildnis in die Erde; den Schwur aber, den ich über die geliebte Tote hinsprach, den habe ich getreulich gehalten. Die Opfer, die es mich kostete, ich kenne sie allein, keinen anderen kümmern sie. Nach besten Kräften überwachte ich das mir anvertraute junge Wesen. Freilich, weit reichten meine Mittel nicht. Ich konnte Thusnelda nur nach mir selbst ausbilden, nämlich zu einer abenteuernden Kunstreiterin. Gefällt dir das nicht, so bist du allein verantwortlich dafür.«

Nach dieser von zügelloser Gehässigkeit zeugenden Kundgebung neigte Gilbert das Haupt. Furchtsam schmiegte Thusnelda sich an ihn an. Ihre Augen suchten entsetzt die ihres alten Beschützers. Bis ins Mark hinein erbebte sie. Denn so hatte sie ihn noch nie gesehen, ihn noch nie, wie zurzeit gefürchtet. Sie besaß nicht einmal den Mut, ihrer Angst Ausdruck zu verleihen, die Gewalt ihrer Stimme, ihrer freundlichen Vorstellungen zu versuchen, vor denen er doch so oft, wenn sie seine düstere Stimmung zu verscheuchen trachtete, sich willenlos beugte.

Da trat Kit Kotton, gefolgt von Flora, verstörten Antlitzes auf die andere Seite Gilberts. Ihn aufmerksam überwachend, war ihnen nicht entgangen, daß die Kräfte ihn verließen. Indem sie ihn gemeinschaftlich mit Thusnelda unterstützen wollten, belebten Stocton und Marianne sich wieder. Sie eilten zu ihm hinüber; ihn mit freundlichen Grüßen und Worten des Trostes und der Ermutigung überhäufend, führten sie ihn vorsichtig nach Miß Sarahs Lehnstuhl, auf den sie ihn sanft niedergleiten ließen. Gilbert ließ alles willenlos mit sich geschehen. Nur gedämpfte Stimmen vernahm man noch, indem Marianne und Stocton ermunternd zu ihm sprachen. Thusnelda hatte keine Worte. Die stand neben ihrem Vater; während sie schmerzlich bewegt auf ihn niedersah, rollte Träne auf Träne über ihre Wangen. Gregor verharrte dagegen noch immer auf seiner alten Stelle. Man schien ihn vergessen zu haben. Hin und wieder eilte ein dunkler Schimmer über sein bleiches Antlitz hin. Undurchdringliche Verschlossenheit prägte sich in Haltung wie Zügen aus. Konvulsivisch arbeitete zuweilen seine Brust; dann war es, als ob unter den dicht zusammengezogenen Brauen hervor Blitze des Hasses und bitterer Enttäuschung nach allen Richtungen gesprüht hätten.

Flora, von niemand beachtet, beängstigt durch das, was um sie her vorging, hatte sich in erster Ratlosigkeit an Franks Seite geflüchtet. Dort fühlte sie sich nicht länger verlassen und vereinsamt; es kehrte zurück ihr unversiegbarer Jugendmut.


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