Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Zehntes Kapitel.

Melvillehouse.

Achtzehn Jahre waren verstrichen. Deren vier erste entfielen auf einen so brudermörderischen Krieg, wie nur je einer einen ganzen Kontinent erschütterte und zerriß. Melvillehouse stand noch. Wer die Plantage aber früher sah, hätte sie kaum wiedererkannt. Das Herrenhaus wie die Negerhütten und übrigen Gebäude schienen dem Verfall geweiht zu sein. Unkraut wucherte in den Gartenpfaden; es verwilderten Baum, Strauch und Rasen in ungehemmtem Wuchs. Niedergebrochen waren zum Teil die Einfriedigungen wie die Balustrade der Veranda. Einzelne Fenster mit zersprungenen und zersplitterten Scheiben hingen, ein Spiel jedes beliebigen Luftzuges, lose in ihren Angeln. Hinter denselben lagen öde und leere Räume. Die Gardinen waren verschwunden; nur noch wenige verwitterte Möbel zeugten von entschwundenem Glanze. Weiter abwärts erstreckten sich die brachen Felder. Hier und da fristete eine entartete Baumwollstaude oder Tabakspflanze, vom Zufall angesät, ihr kümmerliches Dasein. Trostlose Vereinsamung war überall an Stelle des früheren regen Lebens getreten.

Ein Mann näherte sich der verödeten Plantage. Aus dem Schatten einer verwilderten Allee tretend, blieb er auf dem Punkt stehen, von dem aus er einen vollen Anblick des Herrenhauses und eines Teils des Negerdorfes gewann. Sich schwer auf einen ihm fast bis zur Schulter reichenden Wanderstab stützend, betrachtete er traurig das Bild einer grenzenlosen Vernachlässigung und Verwüstung. Obgleich gebeugt, verriet seine lange Gestalt noch immer Kraft und Zähigkeit. Das Gewicht des in Wachstuch eingeschlagenen umfangreichen Ballens, der seinen Rücken beschwerte, schien er ebensowenig zu empfinden, wie die Wirkung der bereits hochstehenden Sonne. Bekleidet war er der Jahreszeit entsprechend. Ein Anzug von leichtem grauem Sommerzeug umhüllte den hageren, knochigen Körper. Sein Haupt beschattete ein breitrandiger Strohhut von grobem Gewebe. Unter demselben quoll stark ergrautes braunes Haar hervor und fiel ihm beinahe bis auf den Nacken nieder. Zwei große blaue Augen schauten schwermütig darein, so schwermütig, wie es kaum im Einklang stand mit dem Gewerbe eines Pedlars oder Hausierers, der darauf angewiesen ist, von Ort zu Ort zu wandern, heute hier, morgen da sein Heim zu wählen, seine Waren mit heiteren Scherzreden anzupreisen und etwaigen Käufern gewissermaßen mundgerecht zu machen. Ja, sehr schwermütig, indem sie nach der Veranda hinübersahen und langsam von Fenster zu Fenster schweiften. Auf den zwei letzten ruhten sie etwas länger, als hätten sie in das dahinterliegende Gemach hineinspähen mögen. Beide standen offen, waren aber von innen mit Topfgewächsen geringen Wertes verstellt worden, offenbar, um zwischen ihnen hindurch den wüsten Vorgarten jederzeit unbemerkt übersehen zu können. Außerdem waren verblichene rotseidene Gardinen sichtbar und die hohe Lehne eines Polsterstuhls, über die ein Umschlagetuch nachlässig geworfen worden war.

In seinem trüben Sinnen störte den Pedlar eine durch die Entfernung gedämpfte krächzende Stimme, die in unwirschem Schmälen eine überaus üble Laune verriet. Unwillkürlich folgte er der Richtung des Schalles mit den Blicken: noch einmal sah er nach den Fenstern des einzigen bewohnten Hausteiles hinüber, und den langen Stab über die rechte Schulter unter den Tragriemen des Hausierballens schiebend, begab er sich nach dem verödeten Negerdorf.

Als er in die zwischen den beiden Hüttenreihen hinlaufende breite Straße einbog, wurde er einer alten Negerin ansichtig, die, ein Urbild aller Häßlichkeit, mit unbeholfenen Bewegungen mehrere frischgewaschene Zeugstücke über eine ausgespannte Leine hing. Ihre grollenden Worte galten einem hinfälligen Negergreise, der im Schatten einer weitverzweigten Sykomore auf einem einfach gezimmerten Lehnstuhl saß und eine kurze, braungebrannte Tonpfeife rauchte.

»Ich sage dir, Pompy« – eine Abkürzung für das klassische Pompejus – erklärte die Alte gesprächig, »und du wirst's nicht leugnen, daß einer von uns zuerst sterben muß. Möchtest du nur den Anfang machen, alter Gentleman; denn träf's mich zuerst, da würdest du bald genug einsehen, was die Welt ohne die alte Dina ist. Bei Gingo, ich möchte den Buchweizenkuchen sehen, den du mit deinen morschen Knochen anfertigtest. Besäßest du überhaupt noch 'nen Zahn im Munde, so bissest du ihn dir schneller aus, als jemand mit den Augen zwinkert, so hart wäre er gebrannt.«

»Einer muß der erste sein,« bestätigte Pompy grämlich, und mit der linken Hand die Pfeife aus dem zahnlosen Munde nehmend, kratzte er mit der anderen verzweiflungsvoll die seinen schwarzen kahlen Scheitel umkränzende weiße Wolle, »ja, Dina, einer der erste. Ich kalkulier, wir hätten gescheiter getan, davonzugehen, als wir noch das Beinwerk dazu hatten.«

»Gehen, alter Gentleman?« fiel Dina spöttisch ein, »gehen kann jeder sagen; aber wohin? Waren schon damals zu alt, um noch viel ums Leben arbeiten zu können; und unsere Kinder und Kindeskinder, die alle davonliefen in den grausamen Krieg, die macht keiner mehr lebendig. Wer weiß, wo die ihr Ende genommen haben. Hätte die Susanna nicht 'nen kürzeren Fuß gehabt – Gott segne sie dafür – daß ihr's Laufen schwer wurde, so säßen wir ganz allein. Überhaupt ein erstaunliches Glück, daß wir nicht von hier vertrieben wurden und ungestört eine Kleinigkeit Buchweizen und Kürbisse bauen dürfen –«

»Und Tabak,« meinte der offenbar schon kindische Greis.

»Ja, Tabak,« wiederholte die Alte geringschätzig, »wüchse der nicht wild, sollten wir's Pflanzen und Ernten wohl bleiben lassen. Und dabei ist's schlechtes Zeug. Bei Gingo, brennt's mir doch auf der Zunge wie roter Pfeffer, wenn ich mehr als 'n halb Dutzend Pfeifen hintereinander rauche. Miß Sarah ist aber froh, daß sie selber nichts hat, aber sie möchte uns hin und wieder einmal ein Pfund echten Pflocktabak zukommen lassen.« – Sie wurde des Hausierers ansichtig, und ihre dürren Arme im Erstaunen hoch emporhebend, rief sie laut aus: »Bei Gingo, Pompy, da kommt jemand, und ein Pedlar obenein. Der muß seinen Weg verfehlt haben, oder er hätte sich nicht hierher gefunden.«

»So wollen wir ihm abkaufen, was wir gebrauchen,« versetzte Pomyp, sein breites, zu einem fahlen Grau verblichenes Antlitz dem Fremden zukehrend, »ich gebrauche 'nen neuen Hut, ein rotes Flanellhemde, ein Paar Stiefel –«

»Wohl gar 'ne Kutsche und Wiegenstuhl,« fiel Dina heiser lachend ein. »Bei Gingo, Pompy, kaufe immerhin, wenn's ohne Geld was zu kaufen gibt. Armer Junge du; hab's immer gesagt, mit deinem Gedächtnis geht's zu Ende. Du vergißt noch eines Tages, die eigenen Beine mitzunehmen. Halloh, Fremder, seien Sie willkommen, wenn Sie weiter nichts verlangen, als 'nen Sitz im Schatten da neben meinem alten schwarzen Gentleman, und 'nen Trunk kühles Obstwasser. Denn was Besseres möchten Sie auf sechs Meilen in der Runde nicht finden.«

»Das ist gerade so viel, wie ich gebrauche,« antwortete der Pedlar. Er ließ seinen Ballen zur Erde gleiten und nahm auf dem zur Hand stehenden Schemel Platz, worauf er fortfuhr: »Gerade genug für meine Bedürfnisse, und umsonst verlange ich nichts. Wenn ich gehe, will ich deinem alten Gentleman ein Pfund Tabak schenken, wie er nie kräftiger in Pflöcke zusammengepreßt wurde, und dir selber, alte Lady, ein neues rotes Kopftuch.«

»Dank Ihnen, Herr,« erwiderte die Alte, ihr turbanartig um den Kopf geschlungenes zerfetztes Tuch flüchtig betastend, »aber schlechte Geschäfte werden Sie machen, wenn Sie mit den Waren um sich werfen, als wären's abgekörnte Maiskolben.«

»Die Zeiten ändern sich,« versetzte der Pedlar ruhig, »und ich setze voraus, Ihr habt Tage kennen gelernt, die besser waren als die jetzigen.«

»Bessere, Herr, bei Gingo, viel bessere,« beteuerte Dina, »aber sie hörten auf, als der grausame Krieg ausbrach. Ja, Herr, da hätten Sie unser Dorf sehen sollen. Da lebte es drinnen, wie in 'nem Bienenkorb – ich sag' Ihnen, ausgesucht schönes farbiges Volk – und jetzt sind der Pompy und ich und unsere Enkelin Susanna die einzigen. Was nicht in den grausamen Krieg geschickt wurde, um Erde aufzuschütten, Tote zu begraben und selber begraben zu werden, das lief davon, und als die Farbigen erst ganz freigesprochen waren, gab's kein Halten mehr. Was rennen konnte, rückte aus mit Weib und Kind, mit Sack und Pack.«

»Ich seh es, ich seh es,« sprach der Pedlar auf die Klagen des Negerpaares etwas lebhafter, wie unter dem Eindruck peinlicher Rückerinnerungen, »das Dorf liegt so still, wie ein Kirchhof. Doch auch das Herrenhaus scheint verödet zu sein; ich vermute, es wurde nicht erbaut, um nur Spinnen und Fledermäusen ein Obdach zu gewähren.«

»Sicher nicht, Herr,« erklärte die alte Dina eifrig, und etwas aufmerksamer betrachtete sie das vernarbte Antlitz des Pedlars, sah aber alsbald wieder gleichmütig von ihm fort, »sondern für eine Familie, wie man nicht leicht eine schönere findet. Alt und jung wie aus 'nem Ei geschält, der Kolonel Melville, wie seine Lady und die Kinder. Aber es war nicht von Dauer. Der Krieg hat alle umgebracht. Die alte Lady starb lange vor dem grausamen Krieg. Dann wurde der Kolonel irgendwo totgeschossen; war auch sein Bestes, denn die Leute sagten, von der Plantage habe ihm kein Grashalm mehr gehört. Und was ist 'ne Plantage ohne Farbige? Ja, ja, die guten alten Zeiten sind zu Ende und wir mögen ihnen nachsingen.«

»Aber die Kinder, was ist aus ihnen geworden?« fragte der Pedlar wie beiläufig, und doch arbeitete es auf seinem vernarbten Antlitz, als hätte es ihn unsägliche Mühe gekostet, die Worte hervorzubringen.

»Ja, die Kinder,« wiederholte die Alte, und in der Voraussicht, ihrer Neigung zum Erzählen endlich einmal wieder nach Herzenslust fröhnen zu können, kauerte sie sich auf den Rasen nieder, »ja, die beiden Kinder, Gott habe sie selig,« und nicht achtend, daß der Pedlar bei diesen Worten die Farbe wechselte, dann aber, wie in verhaltenem Schmerz, die Lippen fester aufeinander legte, fuhr sie redselig fort: »Auf diesen meinen Armen hab ich sie getragen, und liebe Kinder waren's obenein; die hingen an der schwarzen Dina mit erstaunlicher Liebe. War selber damals noch in meinen besten Jahren. Die armen Dinger, jetzt sind sie längst tot, und ihre eigene Schuld ist's obendrein. Was brauchten sie sich um den schrecklichen Krieg zu kümmern? Da war der Gilbert, der stand seine drei Ellen in den Schuhen; bei Gingo, ein schöner Mann und eine verwegene Natur. Dem ward's auf dem Lande zu enge, da ging er zu Schiff als ein großer Offizier. Bevor der Krieg ausbrach, heiratete er eine nördliche Lady, solch süßes liebes Herz, und alle meinten, sie seien erstaunlich glücklich. Aber der grausame Krieg hat's auch ihnen angetan, denn als der noch nicht lange wütete, und der Gilbert war draußen auf dem Wasser, da hieß es, seine Lady – Edith war ihr Name – halte es mit den Nördlichen, und sie mußte ins Gefängnis. Was aus ihr geworden, ich weiß es nicht. Manche wollten behaupten, sie sei geflüchtet; da mag sie mit ihrem kleinen Kinde auf der Landstraße gestorben sein. War der Gilbert daheim, kam's vielleicht anders. Doch auch ihn traf's. Der ist nämlich mit seinem Schiffe zugrunde gegangen, und das hörte die Susanna von dem Mr. Slowfield, als der es der Miß Sarah erzählte, und die Susanna hat Ohren wie ein Opossum.«

Hier entfernte Dina mit dem Rücken der knöchernen Hand zwei große Tränen von ihren schwarzen, runzeligen Wangen; sie gewahrte also nicht, hätte es auch wohl kaum bemerkt, daß bei Nennung des Namens Slowfield des Pedlars Antlitz in Gehässigkeit sich verfinsterte. Nach kurzer Pause nahm sie indessen, offenbar glücklich, ihrer Redseligkeit freien Spielraum geben zu können, ihre Mitteilungen wieder auf: »Ja, unser Gilbert, wer hätte das gedacht, wenn ich ihn hier auf meinen Knien hielt; Herr, ein prächtiger Junge,« sprach sie begeistert, und etwas schärfer sah sie wieder auf das geneigte Antlitz des Pedlars, »ein prächtiger Junge und ein herziger Mann – aber Herr, indem ich Sie betrachte, meine ich, Ihnen schon früher begegnet zu sein.«

»Richtig, alte Lady, der Jahre fünf oder sechs mag's her sein, da kam ich hier vorüber,« antwortete der Pedlar eintönig, »damals fand ich noch ein Dutzend Farbige vor. Ich verhandelte ihnen einige Kleinigkeiten, auch du kauftest mir eine Schnur Glasperlen ab und ein schönes rotes Tuch –«

»Bei Gingo, Herr, das stimmt,« fiel Dina mit gurgelndem Lachen ein, »Sie ließen es mir erstaunlich billig. Einen Kupferzent zahlte ich dafür. Ganz schenken wollten Sie, es nicht, auf daß ich nicht zu danken brauchte –«

»Ich hatte an dem Tage auf einer anderen Stelle gute Geschäfte abgeschlossen,« unterbrach der Pedlar ihren Redefluß, »da konnte ich mir erlauben, solch ehrenwerter alter Lady den Preis zu ermäßigen.«

Und noch schärfer prüfte Dina das von Narben entstellte Antlitz. Zweifelnd schüttelte sie den Kopf, worauf sie bemerkte: »Aber auch schon damals kamen Sie mir bekannt vor; ich erinnere mich jetzt –«

»Es ergeht mir häufig so,« versetzte der Pedlar etwas lebhafter, um die gesprächige Alte auf andere Gedanken zu bringen; »blatternarbige Menschen laufen nicht zu Dutzenden auf der Straße umher. Trifft man einen, so betrachtet man ihn genauer und glaubt, ihn nicht zum ersten Male zu sehen.«

»So wird's sein,« erklärte Dina nunmehr gänzlich befriedigt, »ja, so ist's; ich könnte drei, vier blatternarbige Menschen aufzählen, und die sehen einander ähnlich, wie die Eier in 'nem Korbe – aber da wollte ich von unserem zweiten Kinde erzählen, ebenfalls mein Liebling, ein Mädchen mit Kirschenlippen und so schön wie die Sonne da. Marianne hieß sie, ein Ebenbild ihrer schönen Mutter. Die heiratete nämlich einen gewissen Stocton, einen stolzen Offizier, einen Mann, wie's nicht leicht 'nen feineren gibt. Drei Kinder hatten sie, aber in einer fernen Stadt lebten sie, daß ich das kleine süße Volk, leibhaftige Engel, nicht oft sah. Gott mag wissen, wo die alle ihr Ende nahmen. Seit vielen Jahren hörte man nichts von ihnen; mögen ebenfalls längst tot und begraben sein – aber Herr, die Sonne hat's Ihnen angetan, daß Sie so bleich dreinschauen, wie 'ne Kalkwand – hält ich nur ein oder zwei Tröpfchen Whisky zur Hand –«

»Nein, nein,« unterbrach der Pedlar sie rauh, »wohl hat die Sonne es mir angetan, allein dagegen hilft nichts schneller, als ein Trunk frischen Wassers –«

»Auf der Stelle,« rief Dina aus, und sich erhebend, schlurfte sie in die Hütte, aus welcher sie nach kurzer Frist mit der gefüllten Schale eines Flaschenkürbis zurückkehrte und sie dem Pedlar darreichte. »Da, Herr,« sprach sie dabei, »das ist so gutes Wasser, wie's nur je aus 'nem kühlen Brunnen heraufgeholt wurde. Trinken Sie ordentlich, da wird Ihnen frischer ums Herz.«

»Ja,« bestätigte der Pedlar, nach einigen tiefen Zügen die Kürbisschale zurückgebend, »das erquickt in der Tat. Jetzt noch ein Weilchen der Rast, und ich laufe meine vier Stunden mit Bequemlichkeit. Rede ich selber nicht viel, so laß dich dadurch in deinem Erzählen nicht stören; ich höre gern Geschichten aus alten Zeiten.«

»Ja, die alten Zeiten,« versetzte Dina klagend, »die haben keinem viel Gutes gebracht. O, der Krieg! Kam der nicht, möchten wir heut noch alle miteinander unseren lustigen Tag leben, möchte heut noch die Zuckermaschine gehen und der Wind nicht durchs Herrenhaus und die leeren Ställe und Magazine pfeifen. Plantage und Menschen, alles zugrunde gegangen, und der erste, den's traf, war der gute Kapitän Stocton, nämlich unser Schwiegersohn. Der hielt's mit den Nördlichen; da gerieten die im Herrenhause in große Wut, auch Marianne, die gerade zum Besuch gekommen, und die verschwor sich, ihrem Manne so lange gram zu sein, wie er's mit den Nördlichen halte. Armes süßes Ding; in ihrem Kopf hatten solche argen Gedanken sonst keinen Platz. Aber ihr Vater, der hatte sich nämlich wieder als Kolonel einreihen lassen, der redete auf sie ein Tag und Nacht, und Miß Sarah da drüben machte es nicht besser. Miß Sarah hat ebenfalls ihr ganzes Geld hingegeben, damit der Kapitän Stocton und alle Nördlichen von der Welt gefegt würden, und jetzt lebt sie zum Lohn in Armut. Der Kapitän Stocton ist tot an die fünfzehn Jahre oder länger. Den sollen die Cherokesen umgebracht haben, so erzählte der Mr. Slowfield der Miß Sarah, daß Susanna es hörte. Es ist erstaunlich, wie es in der Welt zugeht. Und nun kommt noch einer, ein prächtiger Junge war's –«

»Aber die Marianne, die Frau des Kapitäns, was ist aus ihr und den Kindern geworden?« fragte der Pedlar einfallend, und ein aufmerksamer Beobachter hätte entdeckt, wie schwer ihm die Frage wurde.

»Richtig, Herr,« lenkte die Alte sofort ein, »beinah hätt' ich's vergessen – die Jahre tun's, daß es mit dem Gedächtnis schwach wird. Ja, die Mrs. Stocton, meine kleine süße Marianne. Die sah ich nur noch einmal wieder, und das war, als es mit dem Krieg beinah zu Ende. Da kam sie eines schönes Tages hier an, aber sie hielt sich nicht auf. Sie wechselte mit Tante Sarah einige harte Worte; dann kam sie hierher, um mir Lebewohl zu sagen. Und wir beide weinten, daß wir nicht reden konnten; ich verstand nur, daß sie sagte: ›Gute Dina, lebe wohl, wir sehen uns nicht wieder; meine Füße tragen mich nie mehr hierher‹.Darauf ging sie und wiedergesehen hab' ich sie wirklich nicht – Herr, jetzt packts Sie's wieder; ich seh's Ihnen an,« schaltete Dina hier ein und sie griff wieder nach der Kürbisschale, »da, trinken Sie, Mann, trinken Sie.«

Und der Pedlar, als sei der Negerin Rat ein Befehl für ihn gewesen, führte das Gefäß an den Mund, gab es indessen, nachdem er kaum die Lippen befeuchtet hatte, wieder zurück.

»So,« sprach er heiser, »der Anfall ist überstanden, alte Lady; nun erzähle weiter und achte nicht auf mich, wenn die Hitze mich abermals übermannen sollte. Das kommt und geht, hat aber nichts zu bedeuten.«

»Ja, Herr, das war ein trauriger Abschied von der süßen Marianne, das Herz möcht mir heut noch brechen, wenn ich daran denke. Schrecklich, schrecklich; der grausame Krieg hat alles Unglück verschuldet, und besser wird's nimmer.«

»Hörtest du nichts mehr von ihr?« fragte der Pedlar eintönig, und sein entstelltes Antlitz hatte einen Ausdruck angenommen, als ob er eben dem Grabe entstiegen wäre.

»Nur einmal noch, Herr; das war bald nach dem Kriege. Da kam nämlich der Slowfield, und was Miß Sarah selber nicht verriet – die war nämlich verschlossen wie 'ne eiserne Truhe – das erlauschte die Susanna. So hatte sie auch herausgehört, daß der Slowfield unsere Marianne heiraten wollte« – die Alte stockte in ihren Mitteilungen und sah befremdet auf den Pedlar, der sich mit einer heftigen Bewegung erhoben hatte, aber sogleich auf seinen Sitz zurückgesunken war.

»Weiter, weiter,« sprach er gleich darauf zwischen den fest aufeinander ruhenden Zähnen hindurch, »weiter, gute alte Lady. Kümmere dich nicht um mich, wenn's zuweilen in meinem alten Körper bohrt und die Pein mich erregt. Weiter, ich hör dich gerne reden; das beruhigt mein erhitztes Blut.«

»Nun ja, Herr,« hob Dina beschwichtigt wieder an, »heiraten wollte er unsere Marianne, das hatte Susanna deutlich herausgehört, als er mit der Tante Sarah drüber sprach; bevor es aber soweit kam, war sie samt ihren Kindern verschwunden. Noch öfter war später die Rede auf sie gekommen, und da hieß es jedesmal, daß Slowfield trotz seines vielen Kundschaftens nie eine Spur von ihr entdeckte, und so ist's geblieben, bis auf den heutigen Tag. Arme süße Marianne, sie wird wohl an Herzeleid gestorben sein, und wer weiß, in welche Hände die armen Kinder geraten sind. Doch was sich ereignet haben mag: Miß Sarah und der Slowfield haben alles auf dem Gewissen. Und der Slowfield ist ein erstaunlicher Schurke. Der ist mir ein Greuel erster Klasse, seitdem ich ihn dazu lachen sah, als mein jüngster Sohn vor den Augen seiner eigenen Kinder die Peitsche erhielt, und das nur, weil er den Slowfield mit seinem Schandmaul über das farbige Volk arg bedrohte.«

»So verkehrt Slowfield jetzt noch hier?« fragte der Pedlar mit sichtbar schwer errungener Ruhe.

»Von Zeit zu Zeit kommt er, um Miß Sarah etwas Geld zu bringen,« antwortete Dina bereitwillig, »auch zu heut hat er sich wieder einmal angemeldet, denn Susanna hat ein Huhn schlachten und frisches Maisbrot backen müssen. Wär's nicht von wegen der Miß Sarah, der Schwester des Kolonels – bei Gingo, so möchte sie ihm lieber ein Gemüse von giftigen Kräutern anfertigen.«

Der Pedlar war ein wenig tiefer in sich zusammengesunken und starrte wie geistesabwesend vor sich nieder.

»Es ist, als ob ein Fluch auf dem Hause der Melvilles gelastet habe,« entwand es sich dumpf, wie unbewußt, seinen Lippen.

»Ja, Herr, ein Fluch,« hieß es redselig zurück, »ein arger Fluch, und der ist gewachsen aus dem Jammern, wenn der Aufseher die Peitsche auf farbiges Fleisch legte, wenn Müttern die Kinder genommen und auf den Markt gebracht wurden. O, ich kenne das. Ich hab's erlebt an Kindern und Kindeskindern, und keins sah ich wieder. Ja, Herr, der Fluch ist heut noch nicht gestorben; der sitzt da drinnen im Herrenhause. Es ist nur keiner mehr da, den's treffen könnte. Ich kalkulier, die Plantage wird allmählich wieder 'ne Wildnis, dann sind wir alle vergessen.«

»Alle vergessen,« wiederholte Pompy, der so lange mit stumpfen Ausdruck seine Pfeife geraucht hatte.

»Alle vergessen,« sprach auch der Pedlar wie unbewußt und er atmete tief auf. »Verschollen und vergessen.« Er schüttelte sich, wie von einem Schauder durchrieselt, und der alten Dina sich zukehrend, auf deren gerunzeltem Antlitz nicht zu unterscheiden war, welcher Art die Regungen, die ihr Grinsen erzeugten, fuhr er fort: »Wohin ich kommen mag, und ich rühre an die alten Zeiten, da höre ich nicht viel Gutes. Doch ein weiter Weg liegt noch vor mir und erholt habe ich mich ebenfalls, so daß die Sonnenglut mir keine Beschwerden mehr bereitet.«

Er öffnete den Ballen, entnahm demselben ein Paket Tabak und legte es auf die Knie des erstaunt dareinschauenden Greises. Dina überreichte er zwei rote Kopftücher, deren eines er für die im Herrenhause beschäftigte Enkelin bestimmte.

»Bezahlt ist alles zehnfach mit der Rast unter diesem Baum, mit dem kühlen Trunk und den vielen Neuigkeiten, mögen sie immerhin böse gewesen sein,« sprach er, als er gewahrte, daß Dina ungläubig und doch entzückt zu ihm aufsah; und seinen Ballen wieder zuschnürend, fragte er anscheinend gleichmütig: »Also da drüben wohnt Miß Sarah Melville?«

»Lassen Sie die,« riet Dina dringend, »die hat's im Blick, daß sie niemand Gutes einträgt.«

»Was sollte sie mir?« fragte der Pedlar mit einem unbeschreiblich gehässigen und zugleich wehevollen Lächeln zurück, »Dank müßte sie es mir wissen, wenn ich ihr meine Waren anbiete – freilich, ihr schenke ich nichts,« und scharf klangen seine Worte, indem er sie zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurchpreßte.

Wie von heimlicher Furcht beseelt, sah Dina abermals auf ihn hin. Ihre mit braunem und rotem Geäder übersponnenen Augäpfel schienen etwas weiter aus den Höhlen hervorzuquellen. Sie suchte offenbar in der Vergangenheit, schüttelte aber ihr Haupt, wie einen fruchtlosen Versuch aufgebend. Der Pedlar war unterdessen mit dem Ordnen seines Ballens fertig geworden. Schweigend hob er ihn auf den Schemel. Auf seine Bitte legte Dina mit Hand an, und rückwärts herantretend, nahm er ihn mit Leichtigkeit auf die Schultern. Nachdem er ihn durch einige kurze Schwingungen in eine günstige Lage gebracht hatte, schob er den langen Stab wieder unter den Trageriemen und mit kurzem Gruß entfernte er sich.

Festen Schrittes begab er sich nach der Veranda des Herrenhauses hinauf, und dumpf dröhnte das verwitterte, schwammige Holzwerk, indem er nach den beiden Blumenfenstern hinüberschritt. Bevor er dort eintraf, trat aus einer der auf die Veranda sich öffnenden Glastüren eine in verschlissene Seide gekleidete, hoch und schlank gewachsene, jedoch infolge ihrer Hagerkeit jeder Reize entbehrende Frauengestalt ihm entgegen. Ob sie die Begegnung absichtlich herbeiführte, war nicht zu unterscheiden; es erzeugte indessen den Eindruck, als hätte sie die ihr vielleicht selten gebotene Gelegenheit zum Einkauf einzelner ihr fehlender Gegenstände benutzten wollen.

»Wie steht es, meine verehrte Dame,« redete der Pedlar sie höflich an, und indem er in das regungslose, gelblich bleiche, hagere Antlitz sah, schien sein Blick sich zu verschärfen; »ich führe mancherlei bei mir, was auf den Nähtisch einer Lady gehört; doppelt soll es mich freuen, wenn Sie dazu beitragen, meine Last, wär's auch nur um eine Kleinigkeit, zu erleichtern.«

Hatte Miß Sarah Melville, und keine andere war es, bis dahin ihre starre, gleichsam zurückweisende hochmütige Haltung bewahrt, so schien nach den ersten Worten des Pedlars ihre immerhin noch zarte Haut plötzlich den äußeren Charakter von Pergamentleder anzunehmen. Jeder Blutstropfen war aus derselben zurückgetreten. Die schmalen Lippen legten sich fest aufeinander, daß sie beinah verschwanden, während ihre dunklen, gleichsam exotisch glühenden Augen in zweifelndem Erstaunen sich vergrößerten und deren Blicke sich in die des Pedlars förmlich einbohrten.

Eine Antwort stand ihr nicht gleich zu Gebote, sie sann auch nicht auf eine solche. Wenn aber je tödliche Feindschaft in Physiognomien sich ausprägte, so geschah es hier, indem die beiden so verschiedenen Gestalten sich gegenseitig stumm betrachteten, einer in des anderen Augen zu lesen suchte. Bei dem Pedlar konnte kein Zweifel über die vor ihm Stehende walten. Wenn aber Miß Sarah dem entstellten Antlitz gegenüber ihrer Sache nicht gewiß war, so genügte ihr schon allein eine entfernte Ähnlichkeit oder vielmehr eine traumhafte Mahnung, sogar einem Fremden feindliche Gesinnungen zu verstehen zu geben.

»Ich erlaube mir, meine Frage zu wiederholen,« brach der Pedlar endlich das Schweigen, und seine Stimme klang eigentümlich hart, »sind Sie um dieses oder jenes benötigt, so bin ich bereit, meinen Ballen zu öffnen.«

Miß Sarah richtete sich noch straffer empor. Jede Linie ihres Antlitzes war an Verachtung grenzende Geringschätzung, indem sie erzwungen teilnahmslos fragte: »Nach den Beschreibungen meiner Leute müssen Sie schon vor Jahren einmal hier gewesen sein. Warum gaben Sie mir damals keine Gelegenheit zu Einkäufen?«

»Sie waren nicht zu Hause,« antwortete der Pedlar gelassen, »und zum Warten fehlte mir die Zeit. Seitdem habe ich die ganzen Vereinigten Staaten abgewandert, bis der Weg mich endlich wieder einmal hierher führte.«

»Und fanden nicht, was Sie suchten?« fragte Miß Sarah, und um ihre schmalen Lippen zuckte es wie böser Hohn.

»Ich verstehe Ihre Frage nicht. Ich suchte meinen Broterwerb und fand ihn,« erklärte der Pedlar, ohne die Blicke von den sprühenden dunklen Augen abzuziehen, »was könnte ein Hausierer sonst suchen? Sollte er etwa die alten Schlachtfelder nach den Gebeinen unschuldig Gemordeter durchwühlen?«

Miß Sarah zuckte die Achseln. Ihre Gesichtsfarbe war um eine Schattierung fahler geworden: neue ernste Zweifel verrieten sich in ihren Zügen, indem sie erwiderte: »Das Blut unschuldig Gemordeter fällt auf die Häupter derjenigen zurück, die sie dem Leben erhalten konnten, jedoch vorzogen, sie ihrem Schicksal zu überlassen.«

»Unzweifelhaft,« versetzte der Pedlar leidenschaftslos, »diesen Ausspruch vertrete ich mit ganzer Seele, verschärfe ihn aber dahin, daß kein Verbrecher seinem Richter entgeht, am wenigsten der, der ruchlos voneinander trennte, was Gott zusammenfügte, und dadurch Tod und Verderben um sich her verbreitete.«

Und noch leichenähnlicher wurde Miß Sarahs Antlitz, während ein seltsames Lächeln des Hasses sich auf ihre Lippen stahl.

»Ich bin mit allem versehen,« sprach sie hochmütig, »fehlt mir dieses oder jenes, so beziehe ich es aus der Stadt, wo mir eine größere Auswahl geboten wird.«

»Gut,« antwortete der Pedlar, durch eine kurze Bewegung der Schultern den Ballen etwas höher auf den Rücken hinaufschwingend, »ist es heute nichts mit meinem Geschäft, so macht es sich vielleicht später. Und einmal erlaube ich mir noch hier vorzusprechen, wenn auch erst nach Jahren. Dann gibt's sicher einen kurzen Handel und eine endgültige Abrechnung.«

Die letzten Worte, obwohl ruhig gesprochen, klangen so unheimlich drohend, und seine Augen blickten so unversöhnlich, daß Miß Sarah einen Schritt zurücktrat. Sie öffnete die Lippen zu einer Erwiderung, bevor sie aber einen Laut hervorzubringen vermochte, schritt der Pedlar von der Veranda hinunter. Starr, wie eine Bildsäule, blickte sie ihm nach. Dann schrak sie auf. Sie mochte erwägen, daß er sich noch einmal nach ihr umsehen würde, denn hastig trat sie in das Haus zurück. Gleich darauf stand sie hinter dem einen Blumenfenster. Zwischen Blättern und Blüten hindurch spähte sie über den verwilderten Vorgarten hinweg dem Pedlar nach, der langsam seinen Weg verfolgte.

»Wie verändert, wie verändert, wenn er es wirklich war,« lispelte sie unbewußt über die noch ineinander ruhenden Hände hin, »einst ein Bild männlicher Schönheit und Kraft, und heute eine Ruine – nein, unmöglich – er kann es nicht gewesen sein. Die Stimme ist eine andere; aber die Augen, der Blick des Hasses – ich kann mich nicht getäuscht haben; die bedeutungsvollen Worte, sie können nicht vom Zufall geboren sein. Und wenn er es war, wie müßte er gelitten haben! Alles hätte anders kommen können, aber er wollte nicht. Ich – ich hätte mich nie von ihm getrennt – wäre ihm gefolgt –«

Wie ein tödliches Geschoß schien der letzte Gedanke auf sie einzuwirken. Mit einer heftigen Bewegung stieß sie das vor ihr stehende Arbeitstischchen zurück, daß es umfiel und die auf demselben befindliche Wasserflasche und Trinkglas zertrümmerten. Ihr Antlitz hatte sich wieder in das einer Mänade verwandelt.

»Und er wagte, mir zu drohen,« spann sie ihre gehässigen Betrachtungen weiter, »gut; gleichviel, wen das entstellte Antlitz birgt; wir wollen sehen, wessen Haß der ausgiebigere, wessen Feindschaft die gefährlichere ist.«


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