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Sechzigstes Kapitel

Es war ein klarer Tag und blau wie Stahl. Luft und See konnte man in dem alles durchdringenden Azurblau kaum auseinanderhalten. Die nachdenkliche Luft war durchleuchtend und so rein und sanft wie der Blick einer Frau. Das Meer dünte in seiner männlichen Stärke mit seinen langen und starken Atemzügen und hob sich wie Simsons Brust im Schlaf.

Ahab ging von der Luke aus langsam über Deck, lehnte sich über die Reling und sah zu, wie sein Schatten im Wasser vor seinen Blicken sank, je mehr er in die Tiefe eindringen wollte. Aber die lieblichen Düfte in der Zauberluft vertrieben schließlich einen Augenblick anscheinend das Krebsgewächs in seiner Seele. Die muntere und glückliche Luft und der liebliche Himmel streichelten ihn schließlich, und die Stiefmutter Welt, die solange grausam gewesen war, warf nun ihre liebevollen Arme um seinen widerspenstigen Nacken. Es schien so, als ob sie vor Freude über ihn weinte, wie über einen, der nach eigensinnigem Umherschweifen den Weg zu ihrem Herzen, zu seiner Rettung und zu seinem Segen gefunden hat. Da fiel unter dem Hut Ahabs eine Träne in die See; vielleicht enthielt der ganze Stille Ozean nichts, was so wertvoll war wie dieser Tropfen Leid. Starbuck sah den Alten dastehen. Er sah, wie er sich schwerfällig über die Reling beugte. Und es schien so, als ob er in seinem treuen Herzen das maßlose Schluchzen vernähme, das sich mitten aus der fröhlichen Welt um ihn herum hervorwagte. Er hütete sich, ihn anzurühren oder von ihm erkannt zu werden, aber er mußte sich ihm nähern, und so stand er da. Ahab wandte sich um.

»Starbuck!« –

»Kapitän?« –

»Ach, Starbuck! Es weht ein sanfter Wind und der Himmel sieht milde aus. Grad an solch einem Tage – es war gerade so mildes Wetter – tötete ich meinen ersten Wal. Ich war damals Harpunier, ein Junge von achtzehn Jahren. Das war vor vierzig – ja vierzig Jahren! Vierzig Jahre lang bin ich nun ununterbrochen auf der Waljagd! Vierzig Jahre lang habe ich Entbehrungen, Gefahren und stürmische Zeiten durchgemacht! Vierzig Jahre lang bin ich auf der See, die kein Mitleid kennt! Vierzig Jahre lang hat Ahab das friedliche Land verlassen, und vierzig Jahre lang hat er mit den Schrecken der Tiefe Krieg geführt.

Ja, ja! Was für ein Narr, was für ein großer Narr ist der alte Ahab in diesen vierzig Jahren gewesen! Wozu dieser Kampf bei der Jagd? Wozu diese Müdigkeit und wozu ist der Atem am Ruder, am Eisen und an der Lanze erlahmt? Ist Ahab nun dadurch reicher oder besser geworden? Sieh her, Starbuck! Ist mein Leid, an dem ich trage, nicht schwer, daß das eine Bein mir unter dem Leibe weggerissen ist? Streich mein altes Haar zur Seite! Es blendet mich, und es kommt mir so vor, als ob ich weinte. Wenn man solche grauen Haare hat, so können sie nur aus Asche entstanden sein! Aber sehe ich so alt, so furchtbar alt aus, Starbuck? Ich komme mir todesschwach, vor Alter gebeugt wie mit einem Buckel vor, als ob ich Adam wäre, der unter der Last von Jahrhunderten, die seit dem Paradiese verflossen sind, umherschwankte. Gott! Du lieber Gott, laß mein Herz zerbrechen und meine Stirn zerschellen! Welcher Spott, welch bitterer Spott, daß ich graue Haare habe! Habe ich denn Freude genug erlebt, um ihrer würdig zu sein? Und nun komme ich mir so unerträglich alt vor! Komm! komm dicht zu mir, Starbuck, laß mich in das Auge eines Menschen sehen. Es ist besser, als wenn man in die See oder in den Himmel sieht und besser noch, als wenn man in das Auge Gottes sieht. Bei der grünen Farbe des Landes, bei dem leuchtenden Schein des heimatlichen Herdes! Dies ist der Zauberspiegel! Mann, wenn ich in dein Auge sehe, so sehe ich mein Weib und mein Kind. Bleibe an Bord, nein, bleibe an Bord! Gehe nicht ins Boot, wenn ich es tue, wenn Ahab mit seinem Brandmal Moby-Dick jagt. Du sollst nicht diesem Wagespiel zum Opfer fallen! Nein, keinesfalls! Ich will nicht an die Heimat in der Ferne denken, wenn ich in das verruchte Auge sehe!« –

– »Mein lieber Kapitän! Hat man es denn nötig, daß man den verhaßten Fisch jagt! Fahr mit fort, laß uns aus diesen todesgeweihten Gewässern entfliehen! Laß uns nach Hause fahren! Auch Starbuck hat Weib und Kind. Und hat gerade so wie du in deinem liebebedürftigen Alter, als Vater nach Weib und Kind Verlangen. Laß uns fortfahren! Laß mich noch in diesem Augenblick den Kurs umstellen! In welcher Stimmung und in welcher Fröhlichkeit wollen wir dann auf unserem Weg dahinrollen, um das alte Nantucket wiederzusehen! Es kommt mir so vor, als ob sie in Nantucket gerade so sanfte, blaue Tage hätten, wie wir hier!«

–»Es ist so. Ich habe mal einige Sommermorgen erlebt. Um diese Zeit, wo man gerade seinen Mittagsschlaf hält, wacht der Junge mit seinem Strampeln auf. Richtet sich in seinem Bett auf, und die Mutter erzählt ihm von mir, dem alten Kannibalen, wie ich in der Fremde auf der tiefen See bin, und daß ich doch wiederkomme und ihn auf den Armen schaukeln werde.«–

»Genau so ist meine Mary. Sie hat mir gesagt, daß sie meinen Jungen alle Morgen nach den Dünen tragen würde, damit er als erster das Segel seines Vaters sehen sollte. Nun wollen wir aber nicht mehr daran denken! Wir wollen den Kurs nach Nantucket nehmen! Komm, Kapitän, nimm den richtigen Kurs und laß uns fortfahren!« –

Aber Ahabs Blick kehrte sich um; er schüttelte sich wie ein verdorrter Obstbaum und warf den letzten aschenfarbigen Apfel herab auf den Boden.

»Was für ein namenloses, unerforschbares und unirdisches Ding, was für ein betrügerischer, im Verborgenen wirkender Herr, und welcher grausame, gewissenlose Tyrann beherrscht mich? – Daß ich, allen natürlichen Gefühlen der Liebe und der Sehnsucht entgegen, fortwährend auf dem Sprunge bin und mich dazu dränge und mich auf die Dinge stürze! Daß ich mich unbekümmert zu dem bereit erkläre, was ich in meinem eigenen natürlichen Herzen nicht wagen dürfte? Ist Ahab denn wirklich Ahab? Bin ich es denn, lieber Gott, oder ist es ein anderer, der diesen Arm hochhebt? – Wenn die erhabene Sonne sich nicht aus eigener Kraft bewegt, sondern nur ein Wanderer am Himmelsgewölbe ist, und kein einziger Stern ohne Hilfe einer unsichtbaren Kraft sich um sich selbst drehen kann – wie kann dann dies kleine Herz schlagen und wie kann dieses kleine Gehirn denken, wenn nicht Gott im Herzen schlägt und nicht Gott im Gehirn denkt! Beim Himmel! Wir werden in dieser Welt herumgewirbelt, wie das Windspill dort drüben, und das Schicksal ist die Handspeiche. Und sieh die ganze Zeit den lächelnden Himmel und die bodenlose See an, sieh dir den Albicore da drüben an! Wer hat ihn gelehrt, den fliegenden Fisch zu jagen und zu fangen? Wie weit werden es noch die Mörder treiben, Mann! Wen soll man verurteilen, wenn der Richter selbst vor die Schranken des Gerichts geschleppt wird? Aber es ist ein sanfter, milder Wind, und der Himmel sieht recht ruhig aus. Die Luft duftet so, als ob sie von einer Wiese in der Ferne käme. Sie haben wohl irgendwo an den Abhängen der Anden Heu gemacht, Starbuck, und die Schnitter halten unter dem frischgemähten Gras ihren Mittagsschlaf? Arbeiten wir, solange wir können! Wir werden schließlich alle mal auf dem Felde schlafen. Und wir werden in dem grünen Gras einrosten, so wie die Sensen des vorigen Jahres zerklirren und in den halbgeschnittenen Grasschwaden liegenbleiben, nicht wahr, Starbuck!«

Aber Starbuck, der vor Verzweiflung bleich geworden war wie ein Leichnam, hatte sich inzwischen davongemacht.

Ahab ging über das Deck, um an der anderen Seite hinüberzusehen. Aber vor zwei nachdenklichen starren Augen, die in das Wasser sahen, fuhr er zurück. Es war Fedallah, der bewegungslos sich über dieselbe Reling lehnte.


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