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35. Kapitel.

Es war zwei Wochen später, da saß drüben in Mexiko ein wunderhübsches Mädchen in ihrer Hängematte und hielt zwei Briefe in der Hand. Den einen hatte sie bereits gelesen, und der andere, auf dem jetzt ihr schönes Auge ruhte, lautete:

 

»An Miß Amy Lindsay, Mexiko.

Teure Miß!

Es waren sehr eigentümliche Verhältnisse, unter denen Sie Rodriganda verließen, und da ich wohl annehmen darf, daß Sie die Entwicklung derselben zu hören wünschen, so glaube ich, auf Ihre Verzeihung rechnen zu können, wenn ich mich zum Berichterstatter anbiete.

In der Anlage erhalten Sie, da ich jetzt Muße besitze, eine ausführliche Darstellung aller Ereignisse bis auf den heutigen Tag, und Sie werden aus dem Schluß ersehen, daß ich diese Zeilen hier in Greenock auf einem Ihrer Wohnsitze und als Gast des Herrn Advokaten Millner schreibe. Morgen reise ich ab, und so Gott will, finde ich die Spur des Herrn von Lautreville, der sich als Gefangener an Bord der ›Pendola‹ befindet.

Da Sie heute die gegenwärtige Adresse von Rosa erfahren, so darf ich vielleicht hoffen, daß Rosa ein freundliches Lebenszeichen von Ihnen erhält. Sobald ich nur einigen Erfolg habe, wird Ihnen derselbe gemeldet von

Ihrem ergebenen
Karl Sternau.«

 

Dies war der Begleitbrief. Nun begann sie die Einlage zu lesen. Sie erfuhr daraus alles, was sich seit ihrer Abreise von Rodriganda ereignet hatte, auch die Vermählung ihrer Freundin mit Sternau, und dies brachte sie dann wieder auf die trüben Gedanken über das unerklärliche Verschwinden ihres Geliebten.

Wie oft hatte sie an diesen gedacht, und nun erfuhr sie, daß er als Gefangener mitgeschleppt werde, hinaus in die weite Welt, hinaus auf das unendliche Weltmeer! Warum? Was hatte er verbrochen? Warum besaß er so grausame Feinde? Würde es Sternau, diesem braven, starken, kühnen Mann, gelingen, ihn zu befreien? Amy saß und sann und merkte gar nicht, daß ihr dabei eine Träne um die andere aus den schönen Augen perlte.

Da wurde sie aus ihrem trüben Sinnen gestört. Die Dienerin erschien und meldete ihr Señorita Josefa Cortejo.

Sie wischte schnell die verräterischen Tränen fort und hatte noch nicht Zeit, die Briefe wegzulegen, als bereits die Angemeldete erschien.

Die beiden Damen hatten sich in einer Tertulia kennengelernt. Unter einer Tertulia versteht man in Mexiko eine gesellige Zusammenkunft von Herren und Damen, die nur den Zweck der Unterhaltung hat. Bei dieser Gelegenheit war Josefa Cortejo ihr vorgestellt worden und hatte sich nicht wieder von ihrer Seite fortbringen lassen.

Josefa Cortejo mit den unangenehmen Eulenaugen war Miß Amy Lindsay gleich im ersten Moment widerwärtig; sie hatte sie daher auch gar nicht aufmunternd behandelt, war aber von ihr bei ähnlichen Zusammenkünften immer wieder von neuem aufgesucht worden, und gestern hatte Señorita Josefa sogar um die Erlaubnis gebeten, Miß Amy besuchen zu dürfen. Amy konnte diese Bitte nicht abschlagen, ohne ganz und gar unhöflich zu sein, und die Folge war der jetzige Besuch.

Als die Angemeldete eintrat, erhob sie Amy mit einem Lächeln, das zwar höflich, aber nicht sehr freundlich war. Diese Josefa war förmlich zudringlich, trotzdem Amy sich nicht einmal erkundigt hatte, wer oder was ihr Vater eigentlich sei. Sie pflegte das bei Personen, die ihr gleichgültig oder gar unsympathisch waren, niemals zu tun.

»Sie verzeihen, beste Miß, daß ich störe«, sagte Josefa mit einer Verneigung, die verbindlich sein sollte, zu der aber ihre Gestalt nicht die nötige Eleganz besaß. – »O bitte, ich heiße Sie willkommen«, lautete die kühle Antwort.

Als ihr ein Sitz angewiesen war, fuhr Josefa fort:

»Ich würde von der mir gestern gewährten Erlaubnis so baldigst keinen Gebrauch gemacht haben, wenn mir nicht ein Besuch meines Vaters die Gelegenheit dazu geboten hätte. Er befindet sich gegenwärtig bei Don Lindsay.« – »Ach, Ihr Vater ist bei dem meinigen?« fragte Amy verwundert – »Ja. In einer Geschäftsangelegenheit, die mein Vater mit dem Ihrigen als dem Vertreter Englands zu besprechen hat. Ich schloß mich ihm an, weil ich mich freue, die Bekanntschaft einer Dame von wirklicher Distinktion gemacht zu haben. Man ist in dieser Beziehung hier nur auf sich selbst angewiesen.«

Amy warf einen verwunderten Blick auf die Besucherin; diese kam ihr doch gar nicht so vornehm und distinguiert vor.

»Ich denke doch, daß Mexiko sehr viele hervorragende Familien zählt«, bemerkte sie. – »Hm, vielleicht«, entgegnete Josefa mit einem widerwärtigen Naserümpfen. »Hervorragende allerdings, aber doch nicht wirklich vornehme. Ich als Braut des reichsten Grundbesitzers Mexikos habe in der Wahl meiner Freundinnen vorsichtig zu sein.«

Soeben erschien die Dienerin und brachte die in Mexiko gebräuchliche Schokolade. Als sie sich wieder entfernt hatte, setzte Amy das Gespräch mit der Frage fort:

»Sie sind verlobt?« – »Öffentlich noch nicht, da diplomatische Gründe zu berücksichtigen sind.« – »Ach, Ihr Verlobter ist Diplomat?« – »Eigentlich nicht«, antwortete Josefa mit einiger Verlegenheit, »aber ich durfte diesen Ausdruck gebrauchen, da meinem Erwählten drüben im Vaterland eine bedeutende Zukunft offensteht, die er gerade jetzt im Begriff steht, anzutreten.« – »Dann gratuliere ich.« – »Ich danke, Miß Lindsay. Sie haben von dem Grafen de Rodriganda gehört?« – »Von dem Grafen de Rodriganda?« fragte Amy überrascht. – »Ja. Der Name scheint Sie zu frappieren.«

Amy hatte sich schnell gefaßt und antwortete:

»Ich habe eine Freundin dieses Namens.« – »Eine Spanierin?« – »Ja. Rosa de Rodriganda y Sevilla. Ihr Vater war der Graf Emanuel de Rodriganda.«

Die Eulenaugen Josefas zogen sich zusammen wie die eines Raubtiers. Sie fragte: »Wo lernten Sie Rosa kennen?« – »In Madrid. Später besuchte ich sie auf Rodriganda.« – »Wann?«

Dieses »Wann« war in einem förmlich inquisitorischen Ton ausgesprochen worden. Er berührte Amy unangenehm, und darum gab sie unwillkürlich nicht die Zeit an, sondern sagte nur:

»Einige Zeit nach unserem ersten Zusammentreffen.« – »Wann war dies, Miß?«

Der Ton dieser Frage war streng. Amy war keine Politikerin, auch kein polizeiliches Talent, aber sie hatte soeben brieflich von Sternau erfahren, was vorgegangen war, und so kam ihr der Gedanke, hier vorsichtig sein zu müssen. Darum erlaubte sie sich eine kleine Unwahrheit, indem sie antwortete:

»Vor ungefähr sechs Monaten.« – »Es muß später gewesen sein«, behauptete Josefa zudringlich.

Amy errötete, aber nicht vor Scham, sondern vor Ärger über den Ton, in dem dieses Mädchen zu sprechen sich erlaubte.

»Woraus schließen Sie das?« fragte sie kurz. – »Weil Sie vorhin von jener Rosa sagten, ihr Vater war Graf Emanuel.« – »Vor sechs Monaten ist er es noch gewesen. Ich erfuhr erst später, daß er tot sei.« – »Wann?« – »Heute.« – »Heute? Ah, Miß Lindsay, von wem?« – »Von einem Freund.« – »Und wer ist dieser Freund?«

Das war Amy denn doch zu viel. Sie erhob sich und sagte mit ihrem kühlsten Ton:

»Señorita, rechnet man es hier in Mexiko zu den Höflichkeiten, sich in einer so – polizeilichen Weise nach Privatverhältnissen zu erkundigen?«

Das Mädchen mit den Eulenaugen ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Es antwortete:

»Man rechnet es hier zu den Beweisen der Teilnahme.« – »So nehmen auch Sie es als Teilnahme, wenn ich frage, wer Sie sind?« – »Ich wurde Ihnen vorgestellt, Miß.« – »Einfach als Señorita Josefa.« – »Mein Name ist Cortejo.« – »Das erfuhr ich allerdings nachträglich. Aber wer ist Señor oder Don Cortejo?« – »Er ist Sekretär des Grafen Ferdinando gewesen und ist dasselbe heute noch bei Graf Alfonzo.« – »Sekretär? Also Schreiber!« entgegnete Amy, indem sie einen Schritt zurücktrat. »Wissen Sie, was ein englischer Lord bedeutet?« – »Ganz genau.«

Da blitzten die schönen Augen Amys erzürnt auf, sie trat wieder einen Schritt näher und sagte:

»Und Sie wissen, daß mein Vater ein solcher ist?« – »Ja, Miß Amy.« – »Und Sie, die Tochter eines Schreibers, wagten es, sich mir vorstellen zu lassen und mich zu besuchen? Aber das mag sein, das erlaube ich dem einfachsten Mädchen, wenn ich es leiden kann. Aber Sie wagen es, mich auszufragen wie ein spanischer Alkalde eine Zigeunerin? Was fällt Ihnen ein? Bitte, verlassen Sie meine Wohnung.«

Josefa wurde kreidebleich. Sie griff nach ihrer Mantille, die sie abgelegt hatte, und fragte:

»Das ist Ihr Ernst, Miß?« – »Ja, mein voller Ernst. Ist Ihr Vater mit Gasparino Cortejo in Rodriganda verwandt?« – »Ja, sie sind Brüder und außerdem die innigsten Freunde.« – »So ist meine Antipathie gegen Sie doch begründet gewesen. Ich habe Sie stets nur mit Widerwillen sehen können. Ihr Oheim Gasparino ist ein Bösewicht, dem man das Handwerk legen wird. Er macht Grafen und Gräfinnen wahnsinnig; er läßt Menschen verschwinden, um sie über das Meer zu versenden, der ... ah, gehen Sie! Ich mag Sie nicht mehr sehen.«

Amy wandte sich und verließ das Zimmer, Josefa stand allein, fast steif vor Überraschung und Wut. Der Grimm wirkte wie ein Starrkrampf auf ihre Glieder, aber endlich bewegte sie sich doch, ballte die Fäuste, erhob sie drohend gegen die Tür, hinter der Amy verschwunden war, und knirschte:

»Das sollst du mir büßen, du stolzes Weib! Und zwar bald!«

Als sie das Zimmer verlassen hatte, kehrte Amy zurück. Sie war durch die Unterredung mit der Mexikanerin zornig aufgeregt, beruhigte sich aber bald wieder, als sie schaukelnd in der Hängematte lag und an ihre Freundin Rosa dachte, die jetzt so glücklich verheiratet war.

Nach einiger Zeit trat die Dienerin abermals ein und meldete den Lord. Lindsay befolgte auch seiner Tochter gegenüber die Höflichkeit, sich bei ihr stets anmelden zu lassen. Sie ging ihm entgegen und empfing ihn mit einem Kuß.

»Wie gut, daß du kommst, Pa!« sagte sie.

Pa ist die Abkürzung für Papa, ebenso wie man Mama in Ma abkürzt. Diese Zärtlichkeitsform wird besonders häufig in Amerika, aber auch in England angewandt.

»Hast du mich erwartet?« fragte er. – »Nein; doch wird deine Gegenwart mich wieder aufheitern. Ich habe mich sehr geärgert.« – »Du?« fragte er lächelnd. »Worüber?« – »Über diese Josefa Cortejo.« – »Ihr Vater war bei mir. Er sagte mir, daß seine Tochter bei dir sei. Ist sie deine Freundin?« – »Nein. Sie wollte es sein; sie ist mir verhaßt, diese Tochter eines – Schreibers.«

Der Lord machte eine Gebärde komischen Erstaunens.

»Wie kommt es denn, daß meine gute Amy plötzlich so stolz geworden ist?« fragte er. – »Stolz? Stolz bin ich nicht, aber leiden kann ich sie nicht. Sie drängte sich stets an mich heran, ließ sich nicht zurückweisen, machte mir heute sogar einen Besuch und wagte es dabei, mich nach ganz privaten Dingen auszufragen wie ein Schulmeister!« – »Was tatest du?« – »Ich wies ihr die Tür.« – »Ganz so, wie ich es mit ihrem Vater getan habe«, sagte der Lord. – »Du hast ihn fortgejagt?« – »Ja.« – »Warum?« – »Er wollte mich betrügen. Er hat gehört, daß ich die Absicht habe, mich in Mexiko anzukaufen; da bot er mir kürzlich eine große Besitzung an, die im Norden liegt, eine Hazienda, ›Del Erina‹ heißt sie, und ein gewisser Pedro Arbellez sollte dort Inspektor sein. Heute kam er wieder, um meinen Bescheid zu hören.« – »Und da hast du ihn fortgejagt?« – »Ja, denn ich habe unterdessen erfahren, daß die Hazienda diesem Arbellez gehört; Cortejo hat gar nicht das Recht, sie im Auftrag des Grafen Rodriganda zu verkaufen.« – »Sie hat dem Grafen Rodriganda gehört?« – »Ja, und dieser hat sie Arbellez geschenkt. Aber, weshalb ich zu dir komme: du reist gern?«

Amy horchte auf.

»Ja, das weißt du doch«, antwortete sie. – »Du hast bereits sehr weite Reisen ganz allein unternommen; ich weiß, daß ich um dich keine Sorge zu tragen brauche, jetzt aber kann ich mich doch nicht so leicht entschließen.« – »Hast du eine Reise für mich, Pa?« – »Ja. Ich habe dem Gouverneur von Jamaika sehr wichtige Depeschen zu überbringen, die einen solchen Wert haben, daß ich sie gar nicht fremden Händen anvertrauen darf. Es liegt ein Kriegsschiff im Hafen von Verakruz, das sie überbringen soll, aber ich darf sie dem Offizier desselben nicht geben, denn er ist kein Diplomat. Ich weiß kein anderes Mittel, als dich zu senden. Zwar hat eine Dame eigentlich keinen Zutritt auf einem Orlogschiff, aber man muß hier eine Ausnahme machen, wenn ich es wünsche.«

Da sprang Amy auf.

»Vater, ich reise! Überlaß diese Sendung getrost mir!« – »Gut«, nickte er. »Ich vertraue dir und dachte nur, dir beschwerlich zu fallen. Aber ich sehe, daß du eine echte Engländerin bist, die sich vor einem solchen Ausflug nicht fürchtet. Doch ist die Angelegenheit eine dringende. Wann kannst du fertig sein?« – »Bereits morgen früh.« – »So mach dich bereit. Ich werde dich bis nach Verakruz begleiten und auf das Schiff bringen. Der Gouverneur von Jamaika ist mein Freund, an den ich dir einen Privatbrief mitgebe. Er wird dich hoch willkommen heißen, darauf kannst du dich verlassen.«


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