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4. Kapitel.

Das Haus, vor dem der Schmied den Grafen gewürgt hatte, gehörte zu den dunkelsten Häusern von Paris. Es enthielt im Parterre eine Weinkneipe, deren Besitzerin zugleich die Gebieterin von ungefähr zwölf Mädchen war. Die Hübscheste unter ihnen führte den Spitznamen Mignon, den keines dieser Mädchen wurde bei seinem ursprünglichen Namen genannt.

Die zwölf Magdalenen saßen heute abend schön herausgeputzt in der Trinkstube zusammen, die sie Salon nannten. Es befand sich kein einziger Gast bei ihnen, und darum herrschte eine ungewöhnliche Stille im Gemach.

Doch diese Stille wurde plötzlich unterbrochen. Die Tür wurde geöffnet, und es trat ein junger Mensch ein, der zu den gewöhnlichen Gästen des Lokals gehörte. Die Mädchen sprangen alle auf ihn zu und umringten ihn.

»Ah, der Robert Barlemy!« riefen sie. »Willkommen, willkommen!«

Sie faßten ihn darauf von allen Seiten und wollten ihn zu einem Sitz drängen, er aber wehrte ihnen entschieden ab und sagte:

»Laßt mich, Mädels! Wir haben Notwendigeres zu tun.« – »Notwendigeres? Was?« fragten zwölf Stimmen. – »Kommt und helft mir. Draußen vor der Tür liegt ein Toter!« – »Ein Toter! Oh! Ah! Mein Gott!«

So erklangen zwölf Schreckensrufe durcheinander.

»Ist's wahr?« fragte die Wirtin erschrocken. – »Ja«, antwortete der Gast. »Ich fiel beinahe über ihn hinweg.« – »So muß man zur Polizei laufen. Der Tote muß fort!« – »Nein«, sagte der Mann. »Zunächst muß er hier hereingeschafft werden.«

Die Wirtin stieß einen Ruf des Entsetzens aus.

»Sind Sie verrückt!« rief sie. »Ein Toter zu uns? Was wollen wir mit ihm?« – »Es kann ja noch Leben in ihm sein; es schien zwar, daß er tot sei, aber man muß sich doch überzeugen, ob es wirklich so ist. Eine Blutung sah ich nicht; im übrigen war er sehr fein gekleidet. Er scheint den höheren Ständen anzugehören.« – »So mag man ihn bringen, aber nicht herein in den Salon, vielmehr nach dem hinteren Zimmer.« – »Nein«, sagte Mignon, die ein mitleidiges Herz besaß, »man trage ihn nach meiner Stube.«

Der Gast trat mit dem Hausknecht hinaus auf die Gasse und hob mit Hilfe desselben den Grafen auf. Sie trugen ihn herein und nach dem kleinen Zimmer, das Mignon bewohnte. Dahin folgte die Wirtin mit den Mädchen.

»Er ist wirklich nicht verwundet«, sagte sie. – »Wie hübsch er ist«, meinte eins der Mädchen. – »Und noch so jung«, ein zweites. – »Und so elegant«, ein drittes. – »Man muß nach einem Arzt schicken«, sagte die Wirtin. – »Halt!« rief der Gast. »Er lebt.« – »Er lebt?« schrien alle zugleich. – »Ja. Er ist warm, und sein Puls geht.« – »Mein Gott, er schlägt die Augen auf, rief Mignon. Alfonzo kam allerdings jetzt zu sich und öffnete die Augen.

»Ja, er lebt! Er ist gerettet! Er sieht uns!« ertönte es rundum im Kreis der Mädchen.

Alfonzo mußte sich erst besinnen, was geschehen war, dann fragte er

»Wo bin ich?«

Seine Stimme klang ganz rauh von dem Würgen.

»Sie sind in sehr guten Händen, Monsieur«, antwortete die Wirtin. »Wünschen Sie etwas?« – »Um einen Schluck Wein bitte ich.« – »Den sollen Sie sofort haben. Aber darf ich fragen, wer Sie sind?« – »Ich bin der Marchese Acrozza.« – »Ein Marchese? O mein Gott, holt schnell ein Glas Wein, ein Glas vom besten oder vielmehr eine ganze Flasche! Schnell, schnell!« gebot die Wirtin. »Aber, Monsieur le Marchese, wie kommen Sie in eine solche Lage?« – »Man hat mich gewürgt und niedergerissen.« – »Und niedergerissen! Vielleicht gar garottiert?« – »Was ist das?« fragte er. – »Man würgt die Passanten, um sie zu berauben.« – »Berauben, ah!« sagte er.

Erst jetzt bemerkte er, daß ihm die Handschuhe abgezogen seien. Er griff in die Taschen und erschrak.

»Sie erschrecken«, sagte die Wirtin. »Fehlt Ihnen etwas, Monsieur?« – »O ja, leider«, stöhnte er. »Es fehlt mir alles. Meine Brillantringe, Uhr und Kette sowie meine Börse mit einigen hundert Franken; dann auch mein Portefeuille, das achtzehnhundert Franken enthielt.« – »Das ist ja ein ganzes Vermögen«, jammerten die Anwesenden. – »Ich möchte dies gern verschmerzen«, sagte er, »aber es enthielt auch ein Notizbuch mit sehr kostbaren Bemerkungen, die mir ganz unersetzlich sind.« – »Welch ein Unglück! Aber da kommt der Wein. Trinken Sie, Monsieur.«

Alfonzo nahm das Glas, und nun erst während des Trinkens ließ er sein Auge forschend über die Umgebung schweifen. Er bemerkte sofort, in welch einem Haus er sich befand, und fragte:

»Wie komme ich zu Ihnen, Madame?« – »Sie lagen vor unserer Tür.« – »Und Sie haben sich meiner angenommen?« – »Ja. Dieser Herr fand Sie.« – »Ich danke Ihnen. Wem gehört dieses Zimmer?« – »Mir«, antwortete Mignon. – »So bleiben Sie hier, während ich mich ein wenig erhole. Die anderen aber bitte ich, sich nicht länger zu bemühen.«

Die Mädchen verschwanden sofort mit der Wirtin und dem ersten Gast, und Alfonzo befand sich nun mit Mignon allein, die ihm gegenübersaß. Er verfiel in ein finsteres Nachdenken. Die Bemerkungen seines Notizbuchs waren zwar nicht so unersetzlich, wie er gesagt hatte, aber sie enthielten gewisse Enthüllungen, die er unter Umständen fürchten mußte.

»Grämen Sie sich nicht, mein Herr«, bat das Mädchen nach einer Weile. »Vielleicht ist es möglich, den Täter zu entdecken.« – »Wer sollte ihn entdecken?« – »Die Polizei. Oh, wir haben in Paris eine sehr schlaue Polizei.« – »Wohin müßte man sich da wenden?« – »An die Mairie des Arrondissements; sie liegt gleich hier an der Straße St. Honoré« zwischen der Straße de l'Arbre sec und der Rue du Roule.« – »So werde ich dort Anzeige machen. Aber ich glaube nicht, daß es etwas hilft. Dieser Garotteur wird sich nicht fangen lassen.« – »So lassen Sie sich einen Vorschlag machen, Monsieur. Sie sagen, daß es Ihnen meist um das Notizbuch zu tun ist. Machen Sie in einigen Blättern bekannt, daß Sie den Diebstahl nicht verfolgen werden, wenn der Dieb wenigstens das für ihn nutzlose Taschenbuch an Ihre Adresse sendet.« – »Ah«, rief Alfonzo, »der Gedanke ist gut!« – »Ich glaube, daß Sie auf diese Weise Erfolg haben werden, denn diese Garotteurs sind zwar sehr gewalttätig, aber oft sonst gute Menschen.« – »Meinen Sie?« – »Ja«, sagte sie. »Ein Garotteur ist ehrenhafter als ein Taschendieb oder Einbrecher.«

Das war nun allerdings eine eigentümliche Ansicht, und darum sagte Alfonzo mit einem leichten Lächeln:

»Das dürfte schwer zu beweisen sein.« – »Nein, das ist leicht, wenn ich nur wollte.« – »Ah! Erklären Sie sich, Mademoiselle.« – »Nun«, entgegnete sie, leicht errötend, »Sie wissen vielleicht nicht, in welch einem Haus Sie sich gegenwärtig befinden.« – »Ich ahne es«, antwortete er. – »So werden Sie auch glauben, daß hier Männer aller Stände verkehren, sogar Verbrecher, auch Garotteurs.«

Mignon dachte dabei an Gerard, ihren Geliebten, von dem sie ganz genau wußte, daß er sich durch die Garotte seinen Unterhalt erwarb.

»Und das sind gute Menschen?« lächelte er. – »Wenigstens einer von ihnen. Er ist gut und treu, tapfer und verschwiegen. Er ist ein braver Kamerad, der zwar weiß, wie man einen festen Griff oder einen Hieb anzubringen hat, aber der Freund kann sich auf ihn verlassen!«

Alfonzo horchte auf. Bei den Worten des Mädchens kam ihm ein Gedanke. Dieser Mensch war vielleicht mit anderen Garotteurs bekannt und konnte ihm zu seinem Notizbuch verhelfen. Ja, noch weiter. Dieser Mensch war vielleicht auch später zu gebrauchen.

»Kennen sich die Verbrecher untereinander?« fragte er. – »Meist, und die Garotteurs sicher. Eine jede Abteilung kennt ihre Angehörigen genau.« – »Vielleicht könnte der, den Sie meinen, mir behilflich sein, mein Notizbuch zu erlangen?« – »Ah, Monsieur, das ist sehr leicht möglich.« – »Wenn ich ihn nur einmal sprechen könnte. Kommt er öfter zu Ihnen?« – »Ja, aber heute nicht, denn er war erst gestern da.«

Alfonzo blickte das Mädchen schweigend an, dann sagte er:

»Aber, Mademoiselle, Sie sind unvorsichtig.« – »Inwiefern, Monsieur?« – »Weil Sie mir solche Geheimnisse anvertrauen. Wie leicht könnten Sie sich selbst, Ihrem Haus und auch dem betreffenden Menschen schaden.«

Sie lächelte unbesorgt und entgegnete:

»Sie irren sich, mein Herr. Auch die Polizei kennt diese Leute, aber sie weiß, daß ein Garotteur nur bestraft werden kann, wenn er ertappt oder überführt wird.« – »Wann wird dieser Mann wieder zu Ihnen kommen?« – »Das ist unbestimmt.« – »Ah, wenn ich wüßte, wo er zu treffen ist« – »Hm. Werden Sie ihn für seine Mühe belohnen?« – »Ja. Ich gebe ihm hundert Franken für das Portefeuille, und Ihnen gebe ich fünfzig, wenn Sie mich zu ihm bringen.« – »Monsieur, soll ich Sie führen?« – »Ja, jedoch sogleich?« – »Das ginge wohl, aber es ist mit Schwierigkeiten verknüpft, denn Madame läßt so spät kein Mädchen fort.« – »Auch nicht gegen eine Belohnung?« – »Dann vielleicht.« – »So rufen Sie die Frau.«

Das Mädchen ging und brachte die Wirtin mit.

»Was wünschen Sie, Monsieur?« fragte diese. – »Würden Sie mir diese junge Dame für eine kurze Zeit anvertrauen? Sie soll mich zu einer Person bringen, die ich kennenzulernen wünsche.« – »Zu wem?« – »Zu Gerard l'Allemand«, antwortete Mignon. – »Ah«, sagte die Wirtin. »Du weißt ja, wo er zu finden ist. Ich werde es erlauben, Monsieur, wenn Sie dreißig Franken zahlen.« – »Ich zahle sie.« – »Aber Sie sind ja ausgeraubt worden!« – »Ich habe meine Hauptkasse im Hotel. Ich werde mit dieser Demoiselle zunächst nach meinem Hotel fahren, um mich mit Geld zu versehen.« – »Welches Hotel ist es?« – »Hotel d'Aigle in der Rue de la Barillerie.« – »Gut, ich vertraue und gebe meine Erlaubnis.«

Als die Frau gegangen war, fragte Mignon:

»Aber wie steht es mit der Anzeige auf der Mairie?« – »Diese werde ich unterlassen in der Hoffnung, daß Ihr Freund mir nützlich sein wird. Wie nannten Sie ihn?« – »Gerard l'Allemand.« – »L'Allemand? Ist er denn ein Deutscher?« – »Nein, sondern er spricht deutsch. Seine Mutter war eine Deutsche.«

Alfonzo horchte auf. Ein Garotteur war ein sehr brauchbarer Mann für ihn, und da dieser Garotteur des Deutschen mächtig war, so hielt er es für einen glücklichen Zufall, mit ihm bekannt zu werden. Von der Anzeige auf der Polizei sah er ab, denn die Wertsachen konnte er verschmerzen, und es wäre ihm sehr peinlich gewesen, seine Notizen in den Händen der Behörde zu sehen. Dort hätten sie ihm leicht gefährlich werden können.

»Sind Sie bereit, mit mir zu gehen?« fragte er. – »Ja. Ich brauche nur einen Mantel überzuwerfen.« – »So bitte ich Sie, eine Droschke holen zu lassen.«

Mignon tat es, und bald rollten sie der Rue de la Barillerie zu, wo die Droschke vor dem Hotel d'Aigle halten mußte. Dort stieg Alfonzo aus und begab sich nach seinem Zimmer. Hier öffnete er seinen Koffer, um ihm neuen Geldvorrat zu entnehmen, und steckte zugleich auch einen Revolver für den Fall ein, daß er abermals in Gefahr geraten sollte.

Hierauf setzte er mit Mignon seine Fahrt nach der Rue de Carmes fort.

»Wo werden wir Ihren Freund finden?« erkundigte er sich. – »In einer Schenke.« – »Da wird man aber gar nicht ungestört mit ihm sprechen können.« – »Keine Sorge, Monsieur. Es ist dafür gesorgt, daß Sie nicht beobachtet werden.«

Mignon ließ den Wagen an der Rue des Noyers halten und führte Alfonzo dann zu Fuß nach der Branntweinschenke. Sie war hier bekannt, denn ihr Geliebter hatte sie oft mit dorthin genommen. Darum klopfte sie an den Schrank und trat, als derselbe sich bewegte, ohne Scheu in die verborgene Stube.

»Donnerwetter, die Mignon!« rief der Wirt, als er sie erblickte. – »Weiß Gott, die Mignon!« stimmte auch Gerard bei.

Doch im nächsten Augenblick erbleichte er, denn er erkannte Alfonzo, den von ihm Garottierten, und sein erster Gedanke war natürlich, daß dieser auf irgendwelche Weise erfahren habe, wer der Täter sei und wo man denselben finden werde.

»Alle Teufel, woher noch so spät?« fragte der Wirt. – »Direkt von Haus.« – »Und mit – mit einem Fremden?«

In dem Ton und Blick des Wirts lag ein Vorwurf. Mignon aber sagte rasch:

»Keine Sorge, Etienne Lecouvert! Dieser Monsieur sucht meinen Gerard l'Allemand.« – »Was will er von mir?« fragte Gerard, indem sein Auge halb besorgt, halb drohend glänzte. – »Das sollst du sofort erfahren. Setze dich zu uns. Dieser Monsieur, der ein Marchese d'Acrozza ist, wird dafür sorgen, daß wir nicht dürsten.« – »Ja«, meinte Alfonzo mit einem verbindlichen Lächeln. »Sie erlauben, daß ich dies tue.«

Gerard nickte stumm. Er konnte noch nicht klug werden. Dieser Marchese tat allerdings nicht so, als ob er wisse, wer ihn beraubt habe.

»Haben Sie Wein?« fragte Alfonzo den Wirt. – »Nein«, sagte dieser. »Bei mir trinkt man Absinth oder ein Glas Bier aus dem Elsaß. Aber wenn dem Herrn Marchese der Wein lieber ist, so werde ich welchen besorgen!«

Der Wirt hatte allerdings Wein im Keller, verleugnete es aber, um ihn teurer anzubringen.

»Wird dies nicht zu schwierig sein?« fragte Alfonzo. – »Nein. Wir haben eine Weinstube in der Nähe, die wohl noch offen ist. Welche Sorte wünschen Sie, mein Herr?« – »Was gibt es?« – »Am liebsten trinkt man dort einen roten Rousillon.« – »Nun gut so lassen Sie ein Dutzend holen. Was wir nicht trinken, wird trotzdem nicht verderben. Hier sind fünfzig Franken.«

Alfonzo zog die Börse und entnahm ihr die angegebene Summe.

Gerard Mason erstaunte. Woher hatte dieser Mann das Geld? Hatte er zwei Börsen einstecken gehabt? Der Wirt gab das Geld seinem Türsteher, der dabei einen heimlichen Wink bekam, was er zu tun habe. Der Mensch begab sich nun in den eigenen Keller und setzte in einen Korb zwölf Flaschen eines Rotweins, den Etienne Lecouvert gewöhnlich für achtzig Centimes verkaufte.

Unterdessen hatten sich die Gäste an einen der Tische gesetzt, und auch der Wirt nahm bei ihnen Platz.

»Also du suchtest mich?« fragte Gerard die Geliebte, den es drängte, so bald wie möglich Klarheit zu erhalten. – »Ja«, erwiderte sie. »Dieser Grundbesitzer möchte mit dir über ein Geschäft sprechen. Willst du dir hundert Franken verdienen, Schatz?«

Gerard zeigte lachend seine weißen Zähne.

»Oh, tausend, wenn es sein kann«, sagte er. – »Einstweilen nur hundert. Dieser Herr wird sie dir zahlen. Übrigens gibt er mir bereits fünfzig Franken dafür, daß ich ihn zu dir gebracht habe.«

Mignon blickte Alfonzo dabei schalkhaft, aber erwartungsvoll an, so daß dieser schnell in die Tasche griff.

»Ah, Mademoiselle, ich hatte das fast vergessen«, sagte er. »Hier, nehmen Sie.«

Er legte ihr die Summe auf den Tisch.

»Ich danke Ihnen«, entgegnete sie. »Ein prompter Zahler wird auch gut bedient. Sie werden sich auf Gerard l'Allemand verlassen können.« – »Das sage ich selbst auch«, meinte der Schmied. »Aber darf ich erfahren, um was es sich handelt? Es naht bald die Stunde, in der die Stammgäste kommen, und dann sind wir nicht mehr ungestört.« – »Die Sache ist nämlich die, daß dieser Herr garottiert worden ist«, sagte Mignon. »Vor vielleicht einer Stunde geschah es in der Rue de la Poterie.« – »Das ist ja dort, wo du wohnst, Mignon!« – »Allerdings. Es ist sogar gerade vor unserer Tür geschehen.« – »Nicht möglich!«

Gerard spielte den Erstaunten sehr gut. Der Wirt zog die Brauen zusammen und warf ihm einen unbemerkten Blick zu, der gar nicht sprechender sein konnte.

»Nicht möglich, sondern sogar wirklich«, fuhr Mignon fort. »Er lag ohne Leben vor der Tür, und wir haben ihn nach meinem Zimmer geschafft.« – »Welche Barmherzigkeit!« meinte der Wirt ironisch. – »Und man hat ihn unbarmherzig bestohlen.« – »Das muß man anzeigen!«

Da wandte sich Gerard an Alfonzo:

»Aber, mein Herr, wie kam es, daß man Sie überfiel?« – »Es war kein Mensch auf der Straße«, antwortete der Gefragte, »und ich bin hier fremd. Ich hatte keine Ahnung, daß mir Gefahr drohen könne.« – »Des Nachts muß jeder vorsichtig sein, das müssen Sie sich merken. Sie wurden plötzlich überfallen?« – »Nein. Es kam ein Passant hinter mir her, ich hörte ihn kommen, also eigentlich plötzlich ist es nicht geschehen.« – »So waren Sie sehr unvorsichtig. Des Nachts blickt man sich um, wenn man von jemandem verfolgt wird. Was geschah weiter?« – »Ich ging zur Seite, um ihn vorüber zu lassen, aber er faßte mich bei der Gurgel und drückte sie so zusammen, daß ich den Atem und die Besinnung verlor.« – »Alle Teufel!« sagte der Wirt. »Das ist ein kräftiger, resoluter Kerl gewesen.« – »Ja, Kraft hatte er«, nickte Alfonzo und schloß dann seinen Bericht. »Als ich erwachte, befand ich mich in dem Zimmer dieser Demoiselle und bemerkte, daß ich beraubt worden sei.« – »Was hat man Ihnen genommen?« fragte der Wirt lauernd. – »Meine fünf Ringe, dann die Uhr mit Kette, die Börse, die über zweihundert Franken enthielt, und endlich das Portefeuille, das achtzehnhundert Franken in Staatsscheinen barg.«

Der Wirt sperrte vor Erstaunen den Mund auf.

»Dieser Halunke!« rief er. »Zweitausend Franken in Geld! Und wer weiß, wie er den armen Kerl, an den er die Pretiosen verkauft, drückt und schindet. Der Teufel soll ihn holen!«

Er warf einen ärgerlichen Blick auf den Schmied, den aber zum Glück weder Alfonzo noch das Mädchen bemerkten.

»Aber, was hat dies mit mir zu tun?« fragte Gerard gespannt. – »Ich wollte erst Anzeige machen ...«, meinte Alfonzo. – »Ganz recht. Wird nur nicht viel nützen.« – »Das dachte ich auch. Übrigens kann ich das Geld verschmerzen, aber um das Portefeuille ist es mir zu tun. Es enthält sehr wertvolle Notizen. Darum werde ich in einigen Blättern den Garotteur auffordern, mir wenigstens das Portefeuille zuzustellen. Er kann dies ja ganz ohne Gefahr für sich tun, und das übrige mag er behalten.« – »Hm!« brummte der Wirt. »Ohne Gefahr es tun zu können, daran glaube ich nicht. Wie sollte dies möglich sein?« – »Er braucht es ja nur zur Post zu geben!« – »Ja. Und die Postbeamten haben Ihre Annonce auch gelesen und werden, sobald sie die Adresse sehen, den Überbringer festhalten. Denn in Briefform könnte die Tasche doch nicht in den Kasten geworfen werden.« – »Das ist richtig«, meinte Alfonzo nachdenklich. »Aber er könnte sie mir doch direkt senden.« – »Durch einen Boten, den Sie vielleicht festhalten.« – »Das werde ich nicht tun.« – »Das wird er nicht glauben. Solche Leute pflegen sehr mißtrauisch und vorsichtig zu sein.« – »Er kann ja einen Boten wählen, der ihn gar nicht kennt!« – »Der ihn aber möglicherweise wiedererkennen wird! Nein, ich glaube nicht, daß er so unvorsichtig sein wird.« – »Ich glaube es auch nicht«, stimmte der Schmied bei. »Er wird sich den Teufel daraus machen, ob Sie das Portefeuille brauchen oder nicht.« – »Nun, so bleibt mir noch ein letzter Weg. Mademoiselle hat mir gesagt, daß Sie vielleicht imstande seien, gewisse Erkundigungen einzuziehen ...« – »Ah!« machte der Schmied mit einem finsteren Blick auf das Mädchen. – »Ja, daß Sie vielleicht besser als ein Polizist imstande seien, den Täter zu erfahren.« – »Und Ihnen anzuzeigen?« fragte Gerard rasch. – »Nein, das verlange ich nicht. Vielleicht aber könnten Sie mir mein Portefeuille verschaffen.« – »Hm! Wieviel ist es Ihnen wert?« – »Hundert Franken.« – »Das ist zu wenig. Wenn ich den Mann ja finden sollte, so wird er erfahren, daß das Buch Wert für den Besitzer hat. Er wird mehr als hundert Franken von mir fordern. Was bleibt mir dann für meine Mühe?« – »Gut, so wollen wir zweihundert sagen!« – »Das mag eher sein, obgleich ich meine gewissen Gründe habe, anzunehmen, daß ich den Mann nicht entdecken werde.« – »Darf man diese Gründe erfahren?« – »Ja. Der Hauptgrund ist, daß ich nicht nachforschen kann.« – »Warum nicht?« – »Ich muß arbeiten, um zu leben; zum Nachforschen aber gehört Zeit und Geld, und ich habe keins von beiden.« – »So werde ich Ihnen hundert Franken auf Abschlag zahlen.« – »Das läßt sich hören«, lachte Gerard. – »Hier sind sie!«

Der Schmied steckte das Geld gleichmütig ein und sagte:

»So werde ich bereits morgen früh sehen, was sich tun läßt. Wohin habe ich meine Nachrichten zu bringen?« – »Nach dem Hotel d'Aigle, Rue de la Barillerie.« – »Schön. Versprechen kann ich Ihnen nichts, aber Mühe werde ich mir geben.«

Damit war die Angelegenheit genügend besprochen, und man begann nun, dem Wein sein Recht zu geben. Es war auch Zeit gewesen, da sie nicht länger allein blieben.

Es begann jetzt nämlich die Zeit, in der die Industrieritter verschiedenster Art zu Etienne Lecouvert kamen, um ihre nächtliche Beute zu verwerten. Alfonzo sah sie kommen, einen nach dem anderen, und wußte nun, in welch ein Lokal er geraten sei. Es wollte ihm in dieser Gesellschaft etwas ängstlich werden, und darum brach er bald auf, mußte aber dem Wirt versprechen, das Geheimnis seines Lokals nicht zu verraten.

Als er fort war, wandte sich der Schmied an sein Mädchen:

»Dummkopf, was fällt dir ein, diesen Kerl hierher zu bringen!« – »Er dauerte mich«, sagte sie. – »Der?« – »Ja. Er sieht so vornehm und anständig aus.« – »Vornehm und anständig? Hahaha! Ich sage dir, daß er ein Spitzbube ist, zehnmal gefährlicher als ich und hundert andere.« – »Das ist nicht zu glauben!« – »Oh, doch! Ich habe ihn bei Papa Terbillon gesehen.« – »Unmöglich! Bei Papa Terbillon verkehren ja nur ...«

Sie stockte.

»Nur Spitzbuben – willst du sagen?« lachte er. »Du hast recht, und dieser sogenannte Marchese d'Acrozza ist auch einer, weil er falsche Haare, falschen Bart und falschen Teint trägt. Sogar seine Züge sind verändert worden. Er ist ursprünglich nicht schwarz, sondern dunkelblond.« – »Das hat ihm Papa Terbillon gemacht?« – »Ja, und diesen Menschen führst du zu mir!« – »Oh, ich ahnte doch nicht...« – »Sei still. Du hast ihm sogar gesagt, daß ich ein Garotteur bin.« – »Gerard ...« – »Gestehe es! Du hast ihm gesagt, daß ich den Täter entdecken werde, weil ich als ein Garotteur sämtliche Kameraden kenne.« – »Vergib mir! Ich wollte mir gern die fünfzig Franken verdienen und wollte auch haben, daß du die hundert bekommst. Ah, da fällt mir ein, daß er mir die dreißig Franken für Madame nicht gegeben hat!« – »Madame forderte dreißig?« – »Ja. Was tue ich, um sie zu erhalten?« – »Ich werde sie dir geben und sie morgen von ihm zurückverlangen.« – »Ich danke dir! Wird es dir Schaden machen, daß ich ihn zu dir geführt habe?« – »Hm, das muß erst noch abgewartet werden!«

In diesem Augenblick winkte der Wirt ihn zu sich hin an den Schenktisch.

»Weiß Mignon alles?« fragte er ihn. – »Nein.« – »Also du selbst bist es gewesen, Halunke! Was dachtest du, als er eintrat?« – »Hm, ich glaube fast, daß ich für den ersten Augenblick erschrocken war, dann aber stand es fest: Ich hätte ihn kaltgemacht, wenn er gewußt hätte, daß ich es war, der ihn erleichterte.« – »Ich traue es dir zu. Ich traue dir überhaupt seit heute abend alles, jede Schlechtigkeit, ja, jeden Verrat gegen Freunde zu!« – »Habe ich dich verraten?« – »Nein, aber betrogen im höchsten Grad!« – »Du willst doch nicht sagen, daß du mir für die Sachen zu viel bezahlt hast?« – »Ja, gerade das will ich sagen!« – »So gib sie mir wieder heraus, du erhältst dein Geld sofort zurück!« – »Das will ich dir nicht antun«, sagte der Wirt verlegen. – »Oh, bitte, tue es getrost«, antwortete der Schmied. »Es wird mein Schade ganz und gar nicht sein.« – »Du solltest mit tausend Franken zufrieden sein.« – »Fällt mir gar nicht ein!« – »Du hast ihm ja über zweitausend Franken bar abgenommen!« – »Das hat mich Arbeit gekostet!« – »So gib wenigstens die hundert Franken, die er dir vorhin auszahlte.« – »Welches Recht hast du daran?« – »Als dein Mitwisser, ein Wort von mir hätte dich verraten.« – »Und dich mit, Alter! Nein, nein, von mir bekommst du keinen Centime heraus. Ich liebe die glatten Geschäfte. Übrigens hast du an deinem Wein vierzig Franken verdient, abgerechnet auch, daß wir nur drei Flaschen getrunken haben, und du also, den heutigen Preis gerechnet, für fast vierzig Franken übrigbehältst. Gute Nacht! Ich muß Mignon nach Hause bringen.« – »Wann kommst du wieder?« – »Vielleicht morgen.« – »Dann gute Nacht, Geizhals!«


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