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5. Kapitel.

Der Schmied verließ mit seiner Geliebten das Lokal. Unterwegs fragte er sie:

»Mignon, wieviel bist du deiner Madame schuldig?« – »Gegen vierhundert Franken.« – »Wenn du die bezahlst, so bist du frei?«

Das Mädchen blieb vor Erstaunen stehen und blickte ihn an:

»Wie kannst du so fragen!« sagte es. »Du weißt ja, daß ich dich sehr liebhabe!« – »Und daß du dich sehnst, ein braves Mädchen werden zu können?« – »Ja. Ich gäbe viel, sehr viel darum, wenn ich von Madame fort könnte. Ich kann nähen, häkeln und sticken, ich kann waschen und bügeln, ich würde nicht Hunger zu leiden brauchen. Ich würde Tag und Nacht arbeiten, damit auch du die gefährliche Garotte nicht mehr brauchtest. Aber woher diese vierhundert Franken nehmen!« – »Und du würdest mich wirklich liebbehalten und mir nicht nachtragen, daß ich ein Garotteur gewesen bin?« – »Ich würde nicht daran denken, denn du sollst ja auch vergessen, was ich war.« – »Nun wohl, Mignon, ich habe die vierhundert Franken.« – »Ist's wahr, ist's möglich?« fragte sie ungläubig. »Aber von wem?« – »Von diesem Marchese Acrozza.« – »Du scherzt! Er hat dir ja nur hundert gegeben.« – »Nein, er hat mir viertausend gegeben.«

Mignon blieb abermals stehen, sie war beinahe starr vor Erstaunen.

»Das begreife ich nicht«, sagte sie. – »Habe ich dir nicht erzählt, daß ich ihn bei Papa Terbillon gesehen habe?« – »Allerdings.« – »Nun, dort sah ich auch seine Kette, seine Ringe und die Banknoten, die er bei sich trug.« – »Weiter, weiter«, bat sie dringend. – »Papa Terbillon hatte mich als Garotteur engagiert für täglich zehn Franken; er gebot mir, diesen Marquis oder Marchese nicht aus den Augen zu lassen ...« – »Oh, nun ahne ich alles. Du selbst hast ihn vor unserem Haus niedergeschlagen. Hätte ich das gewußt!« »Ich habe ihm sein Geld abgenommen und seine Pretiosen bei Etienne Lecouvert verkauft; ich bin im Besitz von viertausend Franken.« – »Mein Gott, welch ein Glück!«

Das Mädchen dachte nicht daran, daß dieses Glück eine sehr verbrecherische Grundlage habe.

»Ich werde morgen kommen und dich loskaufen.«

Mignon fiel ihm entzückt um den Hals.

»Gerard ich schwöre dir, daß du es nie bereuen sollst«, sagte sie. – »Auch ich werde nichts Böses mehr tun«, gelobte er. – »O mein Gott, wie gut das ist!« – »Ja. Auf diesen Gedanken hat meine Schwester Annette mich gebracht. Ich habe dir bereits erzählt daß sie in den Fluß sprang. Jetzt ist sie wieder gesund. Heute war ich bei ihr. Sie wohnt bereits bei Professor Letourbier, und ich habe eingesehen, daß es viel besser und vorteilhafter ist dem Laster Adieu zu sagen.« – »Das habe ich längst gedacht. Aber – Papa Terbillon gehören doch eigentlich die viertausend.« – »Hm, er mag sie sich holen.« – »Er wird sich rächen.« – »Vielleicht erfährt er gar nicht, daß mir der Überfall gelungen ist.« – »Oh, er ist schlau, er erfährt alles.« – »Nun, ich fürchte ihn dennoch nicht. Er wird mich allerdings verfolgen, aber ich werde Paris verlassen, so daß er mich nicht findet. Du gehst mit mir.« – »O Gerard, welche Seligkeit! Wohin wirst du gehen?« – »In die Provinz. Du wirst dort meine kleine Frau sein. Du wirst für die Leute nähen und sticken, und ich werde als Schmied in die Fabrik gehen. Annette soll nicht sagen, daß sie einen Bruder habe, dessen sie sich schämen muß.« – »Und dein Vater?« – »Der geht mit uns.« – »Gerard, werden wir dies wagen dürfen?« – »Ja. Mein Vater war ursprünglich gut. Der Gram um den Tod der Mutter hat ihn haltlos gemacht und der Schnaps trug das übrige dazu bei. Ich werde streng mit ihm sein, und so wird er tun müssen, was ich will.« – Ich füge mich in alles, mein Gerard, nur bitte ich dich, mich wirklich aus diesem Haus zu holen, ich halte es da nicht länger aus.« – »Habe keine Sorge; ich komme noch am Vormittag.«

Während dieses Gesprächs waren sie bereits über die Isle de la Cité hinübergekommen, und bald standen sie vor der Wohnung des Mädchens. Es war noch Licht im Salon, denn in diesen Häusern pflegt man erst spät schlafen zu gehen.

»Gehst du mit herein?« fragte sie. – »Nein. Ich sehne mich nach Ruhe.« – »Ich werde nicht ruhen können. Ich gehe sogleich auf mein Zimmer und schließe mich ein, um ungestört an unser Glück denken zu können.«

Sie nahmen Abschied.

Gerard hatte einen weiten Weg, um seine Wohnung zu erreichen. Er fand dort seinen Vater vollständig betrunken auf der Matratze liegen und legte sich neben ihn, ohne ihn zu wecken. Er war bereits früh wieder munter und ging vor allen Dingen, um der Geliebten sein Wort zu halten. Sie hatte wirklich nicht geschlafen und empfing ihn mit großer Freude.

»Ist's denn wirklich wahr, daß ich frei sein soll?« fragte sie. – »Ich komme ja deshalb.«

Sie fiel ihm um den Hals, und dabei hatte sie ein ganz anderes Aussehen als früher. Sie erschien ihm so lieblich, so züchtig, daß er sich ganz glücklich zu fühlen begann.

»Wo ist Madame?« fragte er. – »Sie schläft noch, wecken darf man sie aber nicht, sie wird sehr zornig.« – »So warten wir«, erklärte er.

Sie setzten sich darauf nebeneinander und begannen von der Zukunft zu sprechen.

»Du wirst gleich jetzt das Geld bezahlen und mich auch sofort mitnehmen?« fragte sie ihn. – »Natürlich! Wirst du überall hingehen, wohin ich dich führe?« – »Ja, gewiß.« – »So höre, was ich mir ausgesonnen habe: Wir können noch nicht zusammen wohnen.« – »Nein«, sagte sie verschämt. – »Einesteils weil es sich nicht schickt, und sodann auch aus Vorsicht vor Papa Terbillon.« – »Ja, er wird dich suchen.« – »Und wenn er bemerkt, daß wir zusammenziehen, so wird er wissen, daß ich den Marchese garottiert habe. Übrigens wollen wir ja nach der Provinz gehen, und da muß ich vorher hin, um mir Wohnung und Arbeit auszumachen. Da muß ich dich an einem Ort unterbringen, wo ich dich sicher weiß, doch denke ich, daß du nicht gern hingehst.« – »Ist der Ort schlimm?« – »Nein, gut. Nur für die Bösen ist er schlimm.« – »So sage es, ich fürchte mich nicht.« – »Hast du einmal von den Häusern gehört, in denen Mädchen aufgenommen werden, die von der Sünde nichts mehr wissen wollen?« – »Ja. Man nennt sie Magdalenenhäuser.« – »Und weißt du, wie das Leben in diesen Häusern ist?« – »Es soll ernst sein. Die Zöglinge arbeiten und beten.« – »Ja, aber sie sind dort sicher vor allen Verfolgungen und Versuchungen. Würdest du dich vor einem solchen Haus fürchten?« – »Nein. Wer es ernst mit seiner Besserung meint, der braucht sich doch nicht zu fürchten.« – »Nun wohl, in einem solchen Haus sollst du wohnen, bis ich eine Heimat für uns gefunden habe.« – »Gerard, ich will. Ich freue mich auf ein so stilles Leben.«

Sie sah ihn so aufrichtig und gut an, daß er sie an sich zog und herzlich küßte.

»Wir werden sehr glücklich sein, denn wir werden uns viel zu vergeben haben«, sagte er.

In dieser Weise unterhielten sie sich fort, bis die Madame kam. Sie wunderte sich, den Schmied schon bei sich zu finden.

»Mignon ist gestern gar nicht in den Salon gekommen, sondern gleich schlafen gegangen«, sagte sie. »Wie steht es mit meinen dreißig Franken?« – »Hier sind sie«, sagte das Mädchen, indem sie das Geld auf den Tisch legte. – »Hast du dir auch etwas verdient?« fragte die Wirtin. – »Ja, einen Führerlohn von fünfzig Franken.« – »Teufel, das ist viel!« – »Ja, und Gerard hat gar hundert bekommen dafür, daß er den Garotteur entdecken helfen soll.« – »Wenn das so fortgeht, so werdet ihr reich, und du wirst nicht mehr bei mir bleiben wollen.« – »Das kann möglich sein.« – »Ah, du sehnst dich fort?« fragte die Madame einigermaßen beleidigt – »Wir möchten gern Mann und Frau werden.« – »Das hat gute Weile. Verdient euch erst das Geld dazu. Heiraten ist teuer. Mir allein hast du dreihundertachtzig Franken zu zahlen, ehe du von mir fortdarfst.« – »Dreihundertachtzig?« fragte Gerard rasch.

Er wußte, daß er sie jetzt schnell beim Wort halten müsse, da später die Rechnung jedenfalls eine weit höhere geworden wäre. So aber ahnte die Wirtin nicht, daß das Mädchen wirklich schon im Begriff stehe, fortzugehen, und darum antwortete sie:

»Ja, dreihundertachtzig.« – »Das ist wohl zu viel, Madame!« sagte der schlaue Schmied, ich bitte, mir es vorzurechnen.« – »Ah, Sie glauben, daß ich meine Mädchen übervorteile?« – »Nein, aber ich möchte gern wissen, wie eine solche Summe zusammenkommen kann.« – »Sie werden es gleich erfahren.«

Die Wirtin holte ein Buch herbei und zog aus demselben alle das Mädchen betreffenden Posten aus.

»Nun, addieren Sie selbst!« sagte sie.

Der Schmied rechnete genau nach und entgegnete dann:

»Wirklich, es stimmt, genau dreihundertachtzig Franken.« – »Nicht wahr?« sagte die Wirtin triumphierend. »Glauben Sie nun, daß ich ehrlich bin?« – »Oh, Madame, das habe ich stets geglaubt. Also sobald Mignon diese Summe bezahlen könnte, wäre sie frei und könnte sofort gehen?« – »Gewiß.«

Da griff Gerard in die Tasche, zog ein Portemonnaie hervor und sagte:

»Nun gut, so wollen wir sogleich bezahlen.«

Die Wirtin riß die Augen vor unendlichem Staunen weit auf.

»Bezahlen?« rief sie, als ob sie ein Wunder sähe. »Aber das ist ja gar nicht möglich, denn woher wollen Sie das viele Geld haben?« – »Oh, wir haben es, das ist genug.« – »Aber, ich begreife nicht ...« – »Es ist genug, wenn ich es begreife, Madame! Ich hatte bereits etwas gespart, dann bekam ich gestern hundert, und Mignon bekam fünfzig Franken, das machte die Summe voll. Hier ist sie.«

Er zählte das Geld auf den Tisch.

»Mein Gott«, rief sie. »Sie will also fort, wirklich fort? Mein liebstes, hübschestes Mädchen!« – »Eben deshalb heirate ich sie, weil sie hübsch ist.« – »Das kann ich nicht zugeben«, zürnte sie, »denn Sie haben mich überrascht, überrumpelt. Sie haben mich überlistet. Ich hatte keine Ahnung davon, daß sie fort wollte.« – »So wissen Sie es nun jetzt.« – »Ja, aber die Rechnung wird anders, und zwar höher. Ich habe hier viel zu wenig angerechnet.« – »Sie werden es aber doch gelten lassen müssen«, sagte der Schmied bestimmt. – »Wer will mich zwingen?« fragte sie, indem sie sich drohend erhob. – »Ich, Madame!« antwortete er ruhig. – »Und wie, wenn ich fragen darf?« – »Das will ich Ihnen erklären: Sie betreiben ein verbotenes oder höchstens sehr ungern geduldetes Gewerbe. Ein jedes Mädchen, das wünscht, Sie zu verlassen, steht unter dem Schutz der Polizei. Sie müssen ein jedes Mädchen trotz aller Schulden sofort entlassen. Ich nun aber will ehrlich sein und Sie bezahlen. Nehmen Sie das Geld nicht, so zwingen Sie mich, unter zwei Wegen denjenigen zu wählen, der mir der vorteilhafteste zu sein scheint.« – »Ah! Welche wären diese Wege?« – »Entweder lasse ich Ihre Rechnungen gerichtlich prüfen, und das würde nur von großem Nachteil für Sie sein, da die Herren vom Gericht manche Angabe streichen oder wenigstens reduzieren würden.« – »Und der andere Weg?« – »Ich zahle Ihnen gar nichts, nehme Mignon mit und stelle sie unter polizeilichen Schutz. Sie erhalten dann keinen Centime!«

Die Wirtin sah ein, daß er recht hatte, aber sie ergab sich doch noch nicht.

»Sie sind schlecht!« rief sie grollend. – »Und Sie unklug.« – »Ich werde mich rächen. Ich werde Ihnen bei der Polizei zuvorkommen.« – »Womit?« fragte er lächelnd. – »Ich werde verraten, daß Sie ein Garotteur sind.« – »Oh, Madame, das weiß die Polizei bereits sehr gut. Man wird sich freuen, daß ich im Begriff stehe, ein ehrlicher Mann zu werden und auch meine Geliebte zu einer ehrlichen, braven Frau zu machen. Nehmen Sie das Geld oder nicht?« – »Ich nehme es nicht«, trotzte sie. – »So stecke ich es wieder ein und nehme trotzdem Mignon mit!«

Er tat, als wolle er die Summe wieder einziehen, da aber griff sie schnell zu und strich das Geld in ihre Tasche.

»Halt!« sagte sie. »Ich sehe, daß Sie keinen Verstand annehmen, und darum werde ich großmütig sein. Aber eins müssen Sie noch bezahlen. Der Marchese hat gestern seine Flasche Wein nicht bezahlt, die kostet zehn Franken.« – »Ich gebe fünf.« – »Zehn!« – »Gut, so gehen Sie selbst zu ihm. Mich geht das nichts an.« – »Gerard Mason, Sie haben keine Bildung!« rief sie. »Wissen Sie nicht, wie man eine Dame behandelt?« – »Man gibt ihr, was sie verlangt, dennoch handle ich in diesem Fall aber lieber ohne Bildung.« – »Gut, so zahlen Sie fünf.« – »Hier sind sie. Mignon, packe ein.«

Gerard legte das Fünffrankenstück auf den Tisch, und das Mädchen ging, um ihre Effekten in den Koffer zu legen.

»Wo werden Sie mit ihr hingehen?« fragte ihn die Wirtin.

Er zuckte die Schultern.

»Das werde ich Ihnen nicht sagen«, antwortete er. – »Warum nicht?« – »Mignon geht von hier fort, und mit diesem Schritt hat sie mit der Vergangenheit gebrochen und ein neues Leben begonnen. Es sollen alle Fäden zerrissen sein.« – »So wird man sie niemals wiedersehen, und Sie auch nicht?« – »Nein.« – »Dann sind Sie ein Undankbarer, und ich werde Sie ganz und gar zu vergessen suchen!« – »Tun Sie das; ich bitte darum!«

Gerard ging, um eine Droschke zu holen. Als diese kam, war Mignon fertig. Sie luden den Koffer auf, stiegen ein und fuhren fort, ohne dem Haus der Sünde nur einen einzigen Blick zuzuwerfen.


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