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21. Kapitel.

Flora fragte sich, ob sie zurückkehren solle, und doch schritt ihr Fuß vorwärts; sie zitterte vor der Begegnung, und so sah sie ihn bereits vor sich. Er hatte ihr Kommen bemerkt und sich vom Sitz erhoben, um ihr einige Schritte entgegenzugehen. Er grüßte sie ehrfurchtsvoll; er bemerkte die Röte ihrer Wangen, und da er diese der Anstrengung des Weges zuschrieb, sagte er:

»Sie echauffieren sich, Señorita, und das ist bei dieser scharfen Seeluft nicht geraten. Hüllen Sie sich in Ihre Mantille und nehmen Sie Platz.«

Er gab ihr den seidenen Umhang über den Kopf und führte sie zum Sitz. Sie hatte ihn nur mit einer Verneigung begrüßt; es war ihr unmöglich, zu sprechen. Auch er saß neben ihr und hatte lange Zeit den Blick wortlos auf die See gerichtet Was dachte er? Auf seinen Zügen war kein Wechsel der Gedanken geschrieben, aber seine schweren, fast halb geschlossenen Augenlider ließen erraten, daß die gegenwärtige Stimmung seines Inneren keine glückliche sei.

Endlich ließ er das Auge von der See hinweg auf seine schöne Nachbarin gleiten und sagte mit leiser, vibrierender Stimme, aus der sich auf große innere Erregung schließen ließ:

»Sehen Sie diese Wogen, Señorita? Vorgestern war die See ruhig, gestern gab es Sturm, und heute grollt die Flut noch immer. Wird sie sich beruhigen? Wird es einen neuen Sturm geben? So ist es im Leben, und so ist es im Herzen. Und wie vielen Genezarethseelen fehlt der Heiland, der seine Hand erhebt, den Sturm zu beschwören!«

Das war ein verfängliches Thema; es wäre besser gewesen, nicht zu antworten, Flora fühlte das, aber dennoch fragte sie ganz unwillkürlich:

»Bedürfen Sie eines solchen Heilands?« – »Ja, ich bedarf seiner!« seufzte er. – »Ich auch«, hauchte sie unbedachtsam. – »Sie auch? Ja, ich habe es Ihnen sofort, als ich Sie zum ersten Mal erblickte, angesehen, daß Sie an einem Leid tragen. Aber tragen Sie es allein? Haben Sie keinen Menschen, der Urnen diese Last wenigstens zum Teil abnehmen könnte?« – »Keinen!« antwortete sie. – »Das ist traurig. Stehen Sie so einsam in der Welt?«

Flora hob den niedergesunkenen Blick zu ihm empor und antwortete:

»So kennen Sie mich nicht?« – »Sie meinen Ihren Namen? Denn Ihr Herz, Ihr Gemüt, Ihre Seele sind mir nicht unbekannt. Nein, ich kenne Sie nicht Ich gehöre nicht zu den Leuten, die Anhänger der gesellschaftlichen Neugierde sind. Ich stand allein in der Welt mit einem großen Kummer im Herzen. Der Gram vereinsamt den Menschen, ich zog mich zurück und suchte Trost und Frieden nur am Herzen der Natur. Da erschienen Sie mir. Es war, als ob der Glanz eines versöhnenden Gedankens mich umleuchte, und darum floh ich Sie nicht, wie ich andere fliehe. Ich sah Sie wieder und tat einen Blick in Ihr reines Wesen, einen Blick, der mir den verlorenen Glauben an die Menschheit brachte. Ich war glücklich in Ihrer Nähe, zum ersten Mal seit langer Zeit. Ich hätte vor Ihnen niederknien und Ihnen sagen mögen, daß Sie meine Madonna sind, zu der ich beten möchte. Wenn ich hier auf Sie wartete, so fragte jede Faser meines Inneren, ob Sie auch kommen würden, und wenn Sie dann nahten, so war meine Seele ein einziges großes Dankgefühl. Sie sind meine Sonne geworden. Ich weiß, daß diese Sonne mir untergehen wird, aber ich werde trotzdem nicht in finstere Nacht versinken, denn den Wahrheitsstrahl Ihrer Augen werde ich nie vergessen, sie werden mir leuchten jetzt und immerdar; sie werden die Sterne sein, die meine Erinnerung erhellen und mich das Glück im Angedenken genießen lassen, das mir in der Wirklichkeit versagt ist. Ihre Seele ist mein geistiges Eigentum geworden, und etwas anderes als dies können Sie mir nicht sein. Darum habe ich nicht gefragt, wer und was Sie sind, darum habe ich Sie nicht um Ihren Namen gebeten, und darum habe ich mich nicht einmal erkundigt, wo Sie wohnen.«

Er hatte sich in seiner Erregung erhoben, er stand vor ihr mit über der Brust gekreuzten Armen. Es sprühte aus seinen Augen keine versengende Liebesglut, seine Worte enthielten ja auch nicht eine Liebeserklärung im gewöhnlichen Sinn, aber es lag auf seinem Gesicht eine Helligkeit, eine Verklärung, deren Ursache nicht die Sonne sein konnte, eine Verklärung, die ihre Strahlen auch auf Flora warf. Ihr Herz bebte, und ihr Busen wogte. Sie hob das Auge zu ihm empor und erwiderte leise bebend:

»Mit ging es ebenso.«

Diese Worte durchzuckten ihn wie ein elektrischer Schlag.

»Auch Ihnen ging es so?« fragte er. »Mit wem? Sagen Sie, mit wem?« – »Mit Ihnen«, hauchte sie.

Da machte er eine Bewegung, als wolle er sich ihr zu Füßen stürzen, aber er beherrschte sich, wandte sich ab und sandte seinen umflorten Blick weit hinaus auf die See. Dann hob er den Arm und zeigte nach dem Meer.

»Sehen Sie da draußen die englische Jacht, Señorita«, sagte er. »Sie kämpft mit den Wogen und wird doch die schützende Bucht erreichen. Ich aber habe keinen Hafen, ich habe keinen Vater, keine Mutter, weder Bruder noch Schwester, ich habe nicht einmal einen Namen, den ich tragen darf, ich bin verfemt und verflucht und darf es nicht wagen, die Hand nach einem Herzen auszustrecken, das mir gehören will. Ich bin wie der junge Adler, den die Alten aus dem Nest werfen, denn anderen gehören die Firnen und der Äther, er aber soll da unten im Abgrund jammervoll verschmachten. Und selbst wenn er nicht verdirbt, so sind ihm die Schwingen gebrochen, und er hockt einsam und verlassen zwischen den Felsen.«

Das war nicht eine leere Tirade, sondern das waren schrille Schmerzensschreie, die aus der Tiefe einer gequälten Brust erschollen. Flora fühlte das, sie ahnte, daß sein Weh ein ungewöhnliches, wahres sei, und das Leid macht die Menschen ebenbürtig. Auch sie erhob sich, legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte:

»Sie sind ein Mann, Señor, wollen Sie verzweifeln?« – »Sehe ich aus wie ein Verzweifelnder?« fragte er mit einem stolzen, aber doch auch wehmütigen Lächeln. – »Nein. Ich wollte sagen zweifeln, anstatt verzweifeln. Sie dürfen sich nicht absondern. Es gibt kein Herz, das nicht ein anderes fände, und wenn Sie keinen Vater und ...« – »Nein, ich habe keinen, obgleich er noch lebt«, unterbrach er sie in einem Ton, dem man einen tiefen Groll anzuhören vermochte. – »Keinen? Und doch lebt er?« fragte sie. »Wie soll ich das verstehen?«

Er zuckte die Achseln, es war, als ob ein tiefer Zorn ihm die Lippen zusammenpressen wolle, aber er besiegte diese Regung, so daß seine nächsten Worte nur bitter erklangen:

»Oh, sehr einfach, Señorita: Ich bin der verlorene Sohn im Evangelium. Ich war dem Vater ungehorsam, und darum verstieß er mich. Er verbot mir sogar, seinen Namen zu tragen. Ich führe denjenigen meiner verstorbenen Mutter, die dies ihrem einzigen Kind verzeihen wird.«

Seine Augen füllten sich mit Tränen, es waren Mannestränen, die doppelt tief brennen. Kein fühlendes Weib bleibt dabei ungerührt.

»Verstoßen? Unmöglich!« rief Flora. »Sie sind kein verlorener Sohn! Alles glaube ich Ihnen, nur dieses nicht! Eher nehme ich an, daß Sie einen Rabenvater besitzen! Was haben Sie getan, daß er Ihnen sogar den Namen genommen hat, der Ihr Eigentum ist, den Sie berechtigt sind zu tragen?«

Es war nicht Neugierde, die ihr diese Frage diktierte, er wußte das, und darum antwortete er:

»Ich bin ein Deutscher. Mein Vater war Offizier und bekleidet jetzt die Stelle eines Oberförsters in Rheinswalden bei Mainz. Ich darf seinen Namen nicht führen, aber nennen kann ich Ihnen denselben, er heißt Kurt von Rodenstein. Er war ein heftiger, strenger Mann, ob jetzt noch, weiß ich nicht. Auch ich sollte Offizier werden. Ich besuchte die Kriegsschule. Da entwickelte sich während des Zeichenunterrichts mein Talent, das man mir bisher nicht zugemutet hatte, und meine Lehrer waren überzeugt, daß ich zum Maler geboren sei. Sie machten meinem Vater Vorstellungen, und ich vereinte meine Bitte mit ihren, er aber hörte nicht darauf. Ich mußte beim Mordhandwerk bleiben, und er drohte mir mit seinem Fluch, wenn ich nicht gehorsam sei. Ich gehorchte, bestand mein Examen und wurde Offizier. Ich tat meine Pflicht, aber während jeder freien Stunde saß ich an der Staffelei. Ich hätte es für eine Sünde gehalten, mein mir von Gott gegebenes Talent nicht auszubilden. Lange Zeit wagte ich mich nicht an die Öffentlichkeit, endlich aber gab mir das Zureden meines Professors den Mut dazu. Ich fertigte ein Bild und bat den Vater, es zur Ausstellung senden zu dürfen, er verbot es mir. Da überredeten mich die Freunde, dies doch zu tun; sie glaubten, einer vollendeten Tatsache gegenüber werde der Vater nachgeben müssen; auch ich glaubte es, da alle Kenner überzeugt waren, daß ich mich meines Werkes nicht zu schämen haben werde. Lassen Sie mich kurz sein, Señorita. Ich sandte es ein, es wurde vom Komitee angekauft, und ich erhielt den ersten Preis, zu gleicher Zeit aber auch vom Vater einen Brief, in dem er mir verbot, die Heimat wieder zu betreten.« – »Mein Gott, wie hart, wie grausam!« rief Flora. – »Ich richte ihn nicht, er ist mein Vater! Trotz seines Verbots eilte ich zu ihm. Ich versprach, nie wieder ein Bild öffentlich auszustellen, aber alles half nichts; ich hatte in dieser nach seiner Ansicht hochwichtigen Angelegenheit seinem Befehl entgegengehandelt, ich hatte meinen Offizierscharakter, meine Ehre verleugnet, war unter das Volk der Künstler getreten, ich war also seiner nicht mehr würdig. Er verbot mir abermals sein Haus, verbot mir, seinen Namen zu tragen, und als ich nicht sogleich ging, ließ er mich durch seine Diener vor das Tor führen. Da stand ich wie vom Schlag gerührt. Die Diener weinten, aber sie verschlossen das Tor, ich klopfte daran, erst leise bittend, dann laut im Grimm – es öffnete sich mir niemals wieder. Ich mußte gehen. Ich kam um meinen Abschied ein und erhielt ihn. Ich warf mich nun der Kunst ganz in die Arme, und sie war nicht so grausam gegen mich wie der Vater, sie schmückte mich mit Ruhm, sie brachte mir Gold und Unabhängigkeit, aber mein Herz blieb erschrocken, wie damals, als ich an der Tür des Vaterhauses stand, vergeblich wieder Einlaß begehrend, ein ausgestoßenes Menschenkind, das kein Recht hat auf das Glück dieses Lebens.«

Da umfaßte sie in heißer Aufwallung ihrer Gefühle seine Hand und sprach:

»Kein Recht, Señor? O doch, Sie sind nicht rechtlos. Ein jeder Mensch hat von Gott die Erlaubnis erhalten, glücklich zu sein. Fassen Sie getrost zu! Folgen Sie mutig der Stimme Ihres Herzens! Diese Stimme wird Sie ganz gewiß nicht täuschen!«

Er hielte ihre Hand fest und antwortete:

»Señorita, wissen Sie, was Sie sagen? Ahnen Sie, was ich tun müßte, um dieser Stimme zu gehorchen?«

Sie antwortete nicht, aber der vertrauensvolle Blick, mit dem ihr Auge in dem seinen ruhte, sagte ihm, daß sie nicht nur ahne, sondern wisse.

»Ich müßte Sie, ja Sie, Señorita, an mein Herz nehmen und nimmer davon lassen«, fuhr er fort. »Ich müßte Sie festhalten, damit meine Sonne nicht untergehe und meine Sterne mir nicht nur in der Erinnerung, sondern in der Nähe leuchten. Habe ich denn die Erlaubnis dazu, Señorita?«

Es traten ihr schwere Tränentropfen in die Augen, sie schlang, ihrer nicht mehr mächtig, die Arme um seinen Nacken und antwortete:

»Ja, du heißgeliebter Mann, du hast das Recht dazu, ich gebe es dir, denn ich bin dein, ich kann nicht anders!«

Da drückte er sie an sich, fest und innig, und im lauten Jubelton rief er:

»Herrgott, ich danke dir! Jetzt wird mein Leben hell, jetzt weicht der Alp von mir, der auf mir lastete, nicht zentner-, sondern bergeschwer! Und meine Erlöserin bist du, du, die ich liebe mit jedem Gedanken meines Innern, für die ich tausend Leben geben würde, und die ich anbete, wie man zu einer Gottheit betet! Sage mir, du herrliches Wesen, wie ich dich nennen soll!« – »Flora!« flüsterte sie erglühend. – »Flora, meine süße, herrliche Flora, hast du mich lieb, wirklich lieb?« fragte er, sich zu ihr niederbeugend, in jenem unbeschreiblichen Ton, dessen nur die Liebe fähig ist.

»Sehr, so sehr!« lispelte sie. – »Und du willst mein eigen sein und bleiben, trotzdem der Vater mich verstieß?« – »Ich werde dir ihn und die ganze Welt ersetzen, mein ...« – »Otto«, ergänzte er. – »Mein Otto!«

Sie blickte innig zu ihm auf, ihre Augen waren halb geschlossen, und ihre vollen Lippen schwollen ihm gewährend entgegen. Da legte er seinen Mund auf den ihren zu einem langen, langen, heißen Kuß. Sie tranken Seligkeit voneinander und hatten alles um sich her vergessen, bis ein lauter Kanonenschuß sie aus ihrem Entzücken erweckte. Sie blickten hinab nach der Bucht. Dort kräuselte sich noch das Rauchwölkchen des Pulverdampfs.

»Siehst du«, sagte Otto, »die Jacht hat die Bucht glücklich erreicht, sie hat einen braven Kapitän. Auch ich werde nun einen Hafen erreichen, und meine Liebe soll der Führer sein, der mich zu demselben leitet. Nur ihr will ich leben, nur ihr und dir ganz allein!« – »So hast du also keinen Menschen, dem du dich angeschlossen hättest?« – »Nein. Ich habe nicht nach Freunden gesucht. Und doch, einen habe ich, einen einzigen. Und dieser ist ein Freund im vollsten, edelsten und wahrsten Sinn des Wortes.« – »Wer ist es, mein Otto? Ich werde ihn auch lieben, aus Dankbarkeit dafür, daß er dein Freund gewesen ist.« – »Er heißt Karl Sternau. Wir lernten uns auf dem Gymnasium kennen. Sein Vater war Professor, starb aber bald. Dann ging Karl zur Universität, ich aber zur Kriegsschule, doch sahen wir uns noch weiter. Unsere Freundschaft hatte zur Folge, daß seine Mutter als Witwe zu meinem Vater gerufen wurde, um dessen Hauswesen vorzustehen. Er ist jetzt einer der berühmtesten Ärzte. Er hat fremde Erdteile bereist und sich mit wilden Tieren und Menschen herumgeschlagen, jetzt erkämpft er seine Siege mit dem Messer und der Lanzette. Er wird der berühmteste Operateur werden, davon bin ich überzeugt.« – »Weiß er, daß dein Vater sich von dir trennte?« – »Ja. Er befand sich damals in Algier, und ich schrieb es ihm. Als er zurückkehrte, konnte er nichts für mich tun, denn er wurde in Paris festgehalten, aber schrieb seiner Mutter oft und bat sie, für mich zu wirken. Sie hat den Versuch gemacht, ist aber auf so furchtbaren Widerstand gestoßen, daß sie fliehen mußte. Mein Vater hat ein für allemal befohlen, mich nie mehr zu erwähnen. Wer es dennoch zu tun wagt, der wird augenblicklich fortgejagt. Ob Sternau sich noch in Paris befindet, das weiß ich nicht. Ich war jetzt längere Zeit in Ägypten und hielt mich weit oben bei den Nilkatarakten auf, wo eine Korrespondenz sehr erschwert ist.« – »Ich möchte ihn wohl einmal sehen.« – »Er ist ein herrlicher Mann, hoch und stolz gewachsen. Und wie sein Äußeres ist, so ist auch sein Inneres. Und ein sonderbares Spiel der Natur muß ich dabei erwähnen. Ihr beide seht nämlich einander ganz ähnlich. Das fiel mir sogleich auf, als ich dich zum ersten Mal erblickte, und diese Ähnlichkeit mit dem einzigen Freund, den ich habe, ist es wohl auch gewesen, die die erste Ursache war, daß ich nicht vor dir geflohen bin.«

Sie standen Arm in Arm auf der Höhe und konnten die ganze Bucht überblicken. Sie sahen, daß die Jacht Anker warf, und gleich darauf gingen zwei Männer von Bord an Land. Man konnte die Gesichter nicht erkennen, denn die beiden hatten sehr breitkrempige Hüte auf, aber die Gestalten waren deutlich sichtbar.

»Schau den einen!« sagte Otto zu Flora. »Gerade so eine hohe, stolze Gestalt wie er ist auch Sternau, auch sein Gang ist so sicher und elegant. Befände ich mich nicht in diesem abgelegenen Winkel der Erde, so würde ich behaupten, daß dieser Mann kein anderer sei als Sternau.«

Er hatte recht, die beiden Männer waren Sternau und Helmers. Sie waren gekommen, um Kohlen einzunehmen und gingen nach der Stadt, um den betreffenden Kauf abzuschließen. Otto von Rodenstein kannte natürlich auch den Steuermann, den jetzigen Kapitän der Jacht ›Rosa‹, denn dieser wohnte ja in Rheinswalden. Aber die Entfernung zwischen den beiden Paaren war zu bedeutend, als daß ein Erkennen möglich gewesen wäre.

Das unerforschliche Schicksal bereitete hier eine jener Begegnungen vor, die ganz unerwartet eintreten und doch für die Zukunft der Betreffenden von außerordentlichen Folgen sind.

Die beiden Menschen saßen noch lange droben auf der Bank und flüsterten ganz glücklich sich jene Fragen, Antworten, Beteuerungen und Versicherungen zu, die für Liebende von hoher Bedeutung sind, während ein dritter darüber lächeln würde.

Endlich aber entwand Flora sich den Armen Ihres Geliebten und sagte:

»Verzeih, Otto, meine Zeit ist längst abgelaufen, und mein Vater wird mich mit Sehnsucht erwarten.« – »Dein Vater ist hier?« fragte er. »Nicht auch deine Mutter, mein Leben?« – »Nein. Ich habe nur den Vater. Und«, fügte sie mit einer plötzlich hervorquellenden Träne hinzu, »ich werde ihn nicht lange mehr haben, vielleicht nur noch wenige Tage.« – »Mein Gott, er ist krank?« fragte Otto erschrocken. – »Ja, sehr«, meinte sie. »Er ist zu Tode krank.« – »Vermögen die Ärzte nichts zu tun?« – »Gar nichts, denn er leidet an Schwindsucht, die unheilbar ist.« – »An Auszehrung! Eine fürchterliche Krankheit, in der der Patient mit vollem Bewußtsein den Tod Schritt um Schritt sich nähern sieht. Wie bedauere ich ihn und dich, mein Herz! Wäre ich ein Arzt, so stellte ich mich an das Krankenbett, um mit dem Tod zu kämpfen mit allen Mitteln der Wissenschaft. Aber da fällt mir ein, wir sprachen von Sternau. Kann ein Mensch helfen, so ist er es. Ich werde sofort an seine Mutter schreiben und mir seine Adresse geben lassen. Nein, ich werde telegrafieren und ihn dann telegrafisch herbeirufen.« – »Es ist zu spät, Otto! Ach, während ich hier an deinem Herzen die Wonnen der Liebe genoß, liegt mein Vater auf dem Sterbelager, und der Notar ist bei ihm, um das Testament aufzusetzen. Welch eine schlechte Tochter bin ich.« – »Tröste dich! Auch die Liebe hat ihre unveräußerlichen Rechte, selbst in so ernsten Stunden. Ich werde aber jedenfalls telegrafieren, und zwar sogleich!« – »Wird Sternau aber kommen?« – »Sicher. Er wird alles im Stich lassen, um die Bitte des Freundes zu erfüllen. Ich eile. Aber, mein Herz, darf ich deine Wohnung wissen? Ich möchte in diesen trüben Stunden nicht von deiner Seite weichen.« – »Ich danke dir, du Guter«, antwortete sie. »Wahrlich, ich bedarf des Trostes, und doch darf ich deinen Wunsch nicht erfüllen. Meine Wohnung sollst du wissen, sie ist im Haus des Schiffers Jean Foretier, aber deine Gegenwart ist dort noch nicht möglich.« – »Warum nicht, Flora?«

Sie blickte sinnend zur Erde, dann erhob sie das Auge zu ihm und fragte:

»Hast du Vertrauen zu mir, Otto?« – »Ja«, antwortete er mit einem Blick voller Aufrichtigkeit, »ich vertraue dir aus voller, ganzer Seele.« – »So erfülle mir meine erste Bitte: Frage mich jetzt noch nicht, wer ich bin, erkundige dich auch nicht in der Stadt nach uns. Du sollst es bald erfahren, aber nur aus meinem eigenen Mund. Es bang mir, es dir zu sagen, denn ich fürchte, dich dann doch noch zu verlieren. Aber glaube mir, der Grund liegt in dir und nicht in mir. Ich habe mich meiner Verhältnisse nicht zu schämen, ja, ich bin überzeugt, daß sie deinem Vater reichlich Veranlassung geben werden, seine Härte zu bereuen und sich mit dir auszusöhnen. Willst du?« – »Ja«, nickte er. »Du hast den Ausgestoßenen an dein reines Herz genommen, und ich werde nicht fragen, sondern ruhig warten, bis du selbst sprichst. Aber wenn Sternau kommt darf ich ihn zu euch senden?« – »Ja, sogleich. Wir treffen uns wie immer hier. Ich werde, wenn es mir möglich ist, niemals fehlen. Jetzt lebe wohl, mein Geliebter!« – »Lebe wohl, mein Engel, mein Trost, mein Glück, mein ein und alles auf der Erde!«

Eine lange, heiße Umarmung vereinte ihre Herzen, die warm aneinanderschlugen, noch ein Kuß, noch einer und abermals einer, dann trennten sie sich.

Flora schritt den Berg hinab, und Otto stand oben, um ihr nachzublicken, so lange er sie zu sehen vermochte, dann ging er nach der Stadt direkt nach dem Telegrafenamt. Dort gab er seine an Frau Sternau gerichtete Frage auf, fügte seine Adresse bei und bat um sofortige Beantwortung. Sein Herz war zum Zerspringen voll, er fühlte ein Glück, wie noch nie in seinem Leben. Er hielt die ganze Welt nicht für würdig, den Ausdruck der Seligkeit auf seinem Gesicht zu sehen. Er ging nach seinem Gasthaus und schloß sich in seinem Zimmer ein.

Dort öffnete er seine Mappe, nahm ein Blatt heraus und lehnte es auf dem Tisch gegen die Wand, so daß der Strahl des Lichtes voll darauf fiel. Es enthielt das sprechend ähnliche Porträt Floras. Das war ihr reiches Haar, ihre reine, hohe Stirn, die sanft geborene Nase, das waren die großen, sprechenden Augen, das volle, lieblich geschweifte Lippenpaar, der schön aufgesetzte Hals, die volle, schwellende Büste. – Er trat mit verschlungenen Armen einen Schritt zurück, betrachtete das Bild mit strahlender Miene und sagte, als ob das Original vor ihm stände:

»Ja, so bist du, meine Flora! So habe ich dir im stillen einen Kultus gewidmet, ohne daß du es ahnen solltest, und nun bist du doch mehr als bloß im Geist mein geworden. Deine Liebe hat mich gefangengenommen, sie umwebt mich wie ein magisches Fluidum, sie leuchtet in das Dunkel meines Lebens hinein, nicht ernst und düster wie ein Nordlicht sondern warm, freundlich und erlösend wie der belebende Blick der Morgensonne. Du gibst mir meinen Gott, meinen Glauben und mein Vertrauen wieder, darum sollst auch du an mich glauben und mir vertrauen dürfen, trotzdem ich dich noch nicht kennen darf.«

Es war dem Glück ein braver Mensch zurückgewonnen. Die Liebe kommt von Gott, darum führt sie auch zu Gott. Sie ist die Tochter des Himmels, ohne welche unsere Erde ein Jammertal sein würde.

Der Tag verging, es wurde Abend, ja, es wurde Nacht. Es war im Gasthaus still geworden, es hatte sich alles zur Ruhe begeben. Nur Otto wachte, er erwartete mit fieberhafter Ungeduld die Beantwortung seiner Anfrage. Die Minuten wurden ihm zu Stunden, da endlich, endlich läutete unten die Hausglocke. Der Portier öffnete, und gleich darauf trat der Bote des Telegrafenamts ein.

Otto fertigte den Mann schnell ab und öffnete, als sich der Bote entfernt hatte, das Kuvert. Doch als er die wenigen Worte las, ließ er die Hand, welche die Depesche hielt, entmutigt sinken. Die Antwort lautete:

»Mein Sohn ist in England. Wo, weiß ich nicht. Kehrt erst nach langer Zeit zurück.«

Das war ein harter Schlag für den Maler, der gehofft hatte, in dem Freund einen Retter für den Vater der Geliebten zu finden. Es trieb ihn mit bangen Schritten im Zimmer auf und ab. Er konnte keine Ruhe finden und suchte erst mit dem grauenden Tag sein Lager auf.

Darum war es sehr spät, als er erwachte, sich erhob, Toilette machte und in die Gaststube hinabging, um sich den Morgenkaffee geben zu lassen. Hier war nur ein einziger Gast zugegen, er trug Seemannskleider und saß vor einem großen Glas Rum. Als Otto ihn erblickte, traute er seinen Augen kaum.

»Ist's möglich!« rief er. »Helmers, Steuermann Helmers! Sehe ich recht?«

Helmers erhob sich, ebenso überrascht, wie es der Sprecher war.

»Herr von Rodenstein!« rief er. »Herr Otto! Ja, ich bin es! Welch ein Zusammentreffen!«

Sie eilten aufeinander zu und schüttelten sich die Hände.

»Was tun Sie hier in Avranches, hier in diesem Haus?« fragte der Maler. – »Hier in diesem Haus habe ich heute nacht geschlafen, hier in diesem Zimmer trinke ich soeben ein Glas Rum, und hier in Avranches will ich Kohlen einnehmen, damit meine Jacht weiterdampfen kann.« – »Ihre Jacht? So sind Sie gestern nachmittag hier angekommen?« – »Ja.« – »Da hätte ich mir meine Depesche ersparen können!« – »Welche Depesche?« – »Ich telegrafierte an Frau Sternau, um zu erfragen, wo sich Doktor Sternau befindet.« – »Ach, wunderbar. Was antwortete sie?« – »Daß er wahrscheinlich in England sei, sie weiß aber nicht, wo. Ich sah die Jacht in die Bucht laufen. Hätte ich gewußt, daß Sie an Bord waren, so wäre ich mit Dampfesgeschwindigkeit den Berg hinuntergerannt.« – »Den Berg? Ah, Sie standen oben auf der Höhe?« – »Ja.« – »Sapperlot, das hätte ich wissen sollen! Wir sahen einen Herrn und eine Dame ...« – »Das war ich!« – »Die hatten sich gepackt und umschlungen, als ob kein Mensch in der Nähe wäre.« – »Ja«, wiederholte Otto lächelnd, »das war ich. Wir sahen, als die Jacht kaum Anker geworfen hatte, zwei Männer an Land und in die Stadt gehen.« – »Das war ich.« – »Und der andere?« – »Ha!« antwortete Helmers mit einem fröhlichen Spiel seiner Mienen. »Das war der Eigentümer der Jacht.« – »Er war gerade wie Sternau gebaut.« – »Glaube es. Er heißt auch so.« – »Was? Wie?« rief Otto rasch. »Das ist doch nur ein Zufall!« – »Nein«, meinte Helmers mit einem lustigen Augenzwinkern, »der Name eines Mannes ist niemals Zufall. Ein Zufall ist es eher, daß wir gerade hier in Avranches Kohlen einnehmen. Wir hätten dies auch in Cherbourg, Morlaix oder Brest tun können. Aber jedenfalls ist es nun nicht nötig, daß Sie den Herrn Doktor Sternau in England suchen!« – »Mein Gott! Ist's wahr? Ist er hier, er selbst?« – »Freilich«, lachte Helmers.»Die Jacht ist ja sein.« – »Wo ist er? Schnell! Wo finde ich ihn?« – »Auch er wohnt hier im Haus. Er ist erst spät schlafen gegangen und wird wohl noch im Bett – o nein, da kommt er ja.«

In diesem Augenblick hatte sich die Tür geöffnet und Sternau trat ein. Er erkannte den Freund, der ihm entgegeneilte, sofort und öffnete seine Arme, ihn zu empfangen.

»Otto, du hier?« fragte er. – »Ja, Karl. Welch ein Zufall! Welch ein Glück! Ich habe gestern nach dir telegrafiert und heute triffst du hier ein. Das muß Gottes Schickung sein!« – »Du wohnst in diesem Haus?« – »Ja.« – »So hättest du mich bereits gestern sehen können.« – »Ich habe dies soeben von Helmers erfahren. Aber es soll alles nachgeholt werden, denn es ist noch Zeit genug vorhanden. Komm mit auf mein Zimmer, wir haben uns sehr viel zu erzählen.« – »Gewiß, Otto, jedenfalls aber ich dir mehr, als du mir.«

Die Freunde zogen sich jetzt aus dem nicht verschwiegenen Gastzimmer zurück, so daß Helmers in der sehr angenehmen Lage war, noch ungestört einige Glas Rum trinken zu können.


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