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1. Kapitel.

Geht man in Paris am rechten Ufer der Seine vom Bassin du Canal St. Martin nach dem Boulevard Morland hinab, so kommt man nach den Quais des Célestins, des Ormes, de la Grève, Pelletier, de Gesvres und de la Mégisserie. Hinter dem letzteren zieht sich von Place des Louvres nach der Place du Châtelet als Fortsetzung der Rue des Prêtes die Straße St. Germain l'Auxerrois, an der sich die Mairie des vierten Arrondissements befindet. Gegenüber dieser Mairie, in der Rue de Lavande, Nummer 4, bewohnte Professor Letourbier die erste Etage.

Es war dies derselbe Professor, bei dem Doktor Karl Sternau assistiert hatte, ehe er nach Rodriganda ging. Er gehörte zu den berühmtesten medizinischen Größen der Metropole und hatte in Sternau ein Talent erkannt, in dem er einen würdigen Nachfolger finden konnte. Darum hatte er den Deutschen nicht gern nach Spanien gelassen und freute sich herzlich, als er ihn wiedersah.

Wir haben bereits gesehen, daß Sternau seinen Verfolgern in Spanien glücklich entkommen war; wir haben ihn sogar bereits in Rheinswalden bei dem Oberförster Rodenstein getroffen, wir wissen aber auch, daß er vorher in Paris bei Professor Letourbier war, um diesem seine geisteskranke Geliebte zu zeigen.

Zur Zeit dieses Aufenthalts in Paris war es, daß Sternau eines Abends ziemlich spät sich von dem Professor verabschiedete, um nach seinem Hotel zurückzukehren. Dieses lag in der Rue de la Barillerie, und er mußte daher durch die Saunerie über den Pont au Change gehen.

Die Brücke war infolge eines starken Nebels kaum notdürftig erleuchtet, so daß man Gesicht und Gehör anstrengen mußte, um Kollisionen zu vermeiden, und da sie jetzt nur von wenigen Passanten belebt wurde, erregte der einzelne mehr Aufmerksamkeit als zu einer bewegteren Tageszeit. Sternau hatte die Brücke fast überschritten, als er plötzlich vor sich eine halblaute Stimme hörte:

»Jesus, vergib mir!«

Von einer schnellen Ahnung getrieben, sprang er rasch vorwärts, aber er kam bereits zu spät. Eben als er den Mittelpunkt zwischen zwei Pfeilern erreichte, warf sich eine weibliche Gestalt von dem Geländer, das sie erstiegen hatte, hinab in die von dichten Nebeln überwallte Flut.

»Hilfe!« rief Sternau, so laut er vermochte.

Mehrere Stimmen antworteten vom Ufer und von der Brücke her.

»Es ist jemand von der Brücke gestürzt!« rief er ihnen zu.

Dann hatte er aber auch bereits Hut und Rock von sich geworfen und schwang sich nun seinerseits ebenfalls über das Geländer hinab.

Er war ein ausgezeichneter Schwimmer. Die Gewalt des Sprungs tauchte ihn tief unter die Oberfläche des Wassers, aber einige Augenblicke später schwamm er bereits oben, und da er sich denken konnte, daß die Unglückliche abwärts getrieben werde, gab er sich einige Stöße in dieser Richtung hin und hatte es gerade ganz außerordentlich gut getroffen, denn bald erschien vor ihm ein Frauenrock auf den Wogen. Er griff nach ihm und hielt ihn fest, warf ihn sich auf den Rücken, ließ sich treiben und zog den leblos scheinenden Körper an sich, um ihn dann quer über sich herüberzulegen.

»Holla, hier ist ein Kahn!« rief eine Stimme. »Gibt es noch Leben?« – »Hierher!« gebot er.

Am Ufer hatten sich bereits viele Neugierige versammelt. Der Kahn kam näher; es saß nur ein Mann darin.

»Ah«, sagte dieser, als er den Schwimmenden bemerkte, »das nenne ich Mut und Glück!« – »Bitte, nehmen Sie zunächst die Dame hinein«, bat Sternau. – »Natürlich, her damit!«

Die Frau wurde in den Kahn gehoben, und während der Ruderer sich auf der anderen Seite bestrebte, das Gleichgewicht zu halten, schwang sich auch Sternau hinein.

»Das ist gelungen!« meinte der Fremde. »Nun schnell an das Ufer!« – »Nein«, entgegnete Sternau. »Dort sind zu viele Leute!« – »Aber, das ist ja gut, mein Herr!« – »Unter diesen Umständen kaum, weil es eine Dame ist.« – »Sie sprang absichtlich in das Wasser?« – »Ja.« – »Dann haben Sie vielleicht recht. Man muß ihr die Beschämung ersparen. Aber die nächste Pflicht wäre es doch, für ihr Leben zu sorgen.« – »Ich bin Arzt!« – »Ach so, dann ist ja alles in Ordnung. Befehlen Sie also, daß ich abwärts fahre?« – »Ich bitte darum.«

Der Mann war ein Seinematrose. Während die Leute am Ufer auf die Befriedigung ihrer Neugierde warteten, lenkte er das Boot nach der Mitte des Stromarms und ließ es dort abwärts treiben. Unterdessen beschäftigte sich Sternau mit der Untersuchung der Geretteten. »Ist sie tot?« fragte der Matrose. – »Nein. Sie lebt; sie ist nur ohnmächtig.« – »Gott sei Dank! Das arme Kind hätte mir leid getan.« – »Wissen Sie nicht abwärts ein Haus, wohin wir es tragen könnten?« – »Ich weiß eins, mein Herr«, erwiderte der Matrose. »Da links am Quai Conti, gleich am Anfang der Straße Guénégaud wohnt unsere Mutter Merveille, die sicher ein kleines Stübchen zur Verfügung hat.« – »Wer ist diese Mutter Merveille?« – »Sie hat einen Kaffeeschank für ärmere Leute und ist eine sehr gute und anständige Frau.« – »So führen Sie uns zu ihr.«

Der Matrose lenkte nun nach dem linken Ufer des Flusses, wo er sein Boot befestigte. Sternau nahm das Mädchen auf den Arm und ließ sich von dem Mann führen.

Sie traten in ein Haus in der angegebenen Straße. Eine Parterrehälfte desselben wurde von dem Kaffeelokal eingenommen. Der Matrose bat den Arzt, einen Augenblick zu warten, und ging in die Küche. Bald trat die Wirtin heraus, einen Schlüssel und ein Licht in den Händen.

»Mein Gott!« sagte sie. »Ist es möglich! Eine Ertrunkene!« – »Nein, sie lebt noch, Madame«, erwiderte Sternau. »Haben Sie nicht ein Bett übrig?« – »Gern, sehr gern, mein Herr!« versetzte sie mit der eifrigsten Bereitwilligkeit. »Kommen Sie nach hinten; dort ist das Schlafzimmer meiner Tochter.«

Der Matrose wollte sich anschließen, wurde aber von Mutter Merveille abgewiesen.

»Bleib, Gardon«, sagte sie. »Wir sind genug, der Herr Doktor und ich; deine Gesellschaft ist bei einer kranken Dame ganz überflüssig.«

Sternau hatte seine Gerettete noch gar nicht genauer betrachtet. Jetzt, als er sie in dem kleinen Zimmer zunächst auf das Sofa legte, damit sie von der Wirtin entkleidet werde, konnte er ihre Züge deutlich erkennen.

»Wie schön!« sagte Mutter Merveille. »Gebe Gott, daß sie wirklich lebt.« – »Sie lebt; sie wird genesen«, versicherte er, ergriffen von dem Ausdruck der sanften, bleichen Züge. »Legen Sie sie in das Bett.« – »Was mag sie veranlaßt haben, in das Wasser zu springen?«

Diese Frage wurde im Ton innigster Teilnahme, aber nicht in dem der Neugierde ausgesprochen.

»Ich vermute es«, sagte Sternau. »Vielleicht ist sie vom Vater ihres Kindes verlassen worden.« – »Ah«, sagte die Wirtin mit einem verständnisvollen Nicken. »Sie vermuten –? Hm, Sie sind Arzt; Sie werden das wissen. Armes Kind! Was ist jetzt zu tun?« »Sorgen Sie für eine Tasse Fliedertee. Ich werde bei ihr bleiben.« – »Aber, Monsieur, Sie sind ja durch und durch naß. Wo haben Sie Ihren Rock?« – »Ah, daran denke ich jetzt erst! Wie heißt der Matrose, der mich zu Ihnen brachte?« – »Gardon.« – »Senden Sie ihn nach dem Pont au Change, von welchem ich in den Fluß sprang. Dort warf ich Rock und Hut ab. Die Uhr und das Portemonnaie steckte ich in eine Tasche des Rocks. Ich vermute, daß man diese Sachen respektiert hat.« – »Sicher. Er soll eilen.«

Die Frau ging, und noch war sie kaum eine Minute fort, so begann das Gesicht der Geretteten sich zu röten. Ihre Hände bewegten sich, sie öffnete auch bald die Augen und blickte zunächst verwundert um sich.

»Was ist's?« fragte sie leise. »Wo bin ich?« – »Sie sind bei guten Leuten, Mademoiselle«, antwortete Sternau. »Wie befinden Sie sich?« – »Ich? Mich?« fragte sie langsam und sinnend.

Dann erschien ihr das Geschehene einzufallen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und weinte. Er ließ sie gewähren und saß bei ihr, ohne ein Wort zu sagen.

»Oh, warum bin ich nicht tot!« sagte sie endlich. – »Ist es Ihnen so leicht geworden, in den Tod zu gehen?« fragte er in mildem Ton.

Sie sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an. »Leicht? Oh, schwer, so schwer!« – »Und dennoch taten Sie es!« Wieder legte sie ihr Gesicht in die Hände, um in ein erschütterndes Schluchzen auszubrechen.

»Oh, Monsieur, hätten Sie mich doch sterben lassen!« sagte sie. – »Der Mensch soll erst sterben, wenn Gott ihn ruft. Und Sie, wissen Sie nicht, daß Sie im Begriff standen, nicht nur sich selbst, sondern auch noch ein zweites Leben zu töten?« – »Oh, woher wissen Sie das? Sie kennen mich!« – »Nein. Ich bin Arzt. Ich habe Sie im Wasser gehalten und hierher getragen.«

Sie erglühte.

»Mein Herr, ich weiß, daß ich im Begriff gestanden habe, eine große Sünde zu begehen«, sagte sie, »aber mein Mut ist dahin.« – »Fassen Sie Vertrauen! Gott ist gut; er läßt keinen Menschen verlorengehen.« – »Ja, Gott ist gut; aber die Menschen, die Menschen ...!« – »Haben Sie bereits so schlimme Erfahrungen gemacht?« – »So schlimme, daß es nur noch den Tod gab.« – »Gab es keine Hilfe, keine Rettung?« – »Keine«, erwiderte sie dumpf. – »Mein Kind, das ist ja eine wirkliche Verzweiflung, zu der Sie jedenfalls das Recht nicht haben.« – »Nicht? Oh, wenn Sie wüßten!« – »So teilen Sie mir Ihren Kummer mit. Ich zweifle nicht, daß ich imstande sein werde, Ihnen, wenn nicht Hilfe, so doch Rat zu bringen.« – »Unmöglich, mein Herr!« – »Warum unmöglich? Sie dürfen an meiner Bereitwilligkeit, Ihnen zu nützen, nicht zweifeln.« – »Ich zweifle nicht; ich sehe es Ihnen an, daß es Ihr Ernst ist, daß Sie ein Herz besitzen, das mild von einer Unglücklichen denkt; aber ich vermag Ihnen nicht zu erzählen.« – »Warum nicht?«

Sie errötete abermals tief und schwieg.

»Stehen Sie allein?« fragte er, um ihr die Mitteilung zu erleichtern. »Sie haben doch noch Eltern und Geschwister?« – »Nur den Vater und einen Bruder. Jener ist eigentlich Fischer, aber, ach, es ist lange her, seit er seinen Beruf nicht mehr betreibt« – »So hat er einen anderen Beruf erwählt?«

Sie schüttelte den Kopf und erwiderte nach einer Pause.

»Einen anderen? O nein, leider nein! Ach, mein Herr, wie bin ich doch so unglücklich!«

Sie hüllte ihr Gesicht in die Decke des Bettes und weinte wiederum. Er bat sie, aufrichtig zu sein, und seinem freundlichen Zureden gelang es endlich, sie zu beruhigen und zur Mitteilung zu bewegen.

»Mein Vater war ein so guter und nüchterner Mann«, sagte sie. »Ja, das war er – bis meine Mutter starb. Er hatte sie liebgehabt; er grämte sich und suchte Trost im Branntwein. Ich war ein Mädchen von neun Jahren, und mein Bruder war nur drei Jahre älter als ich. Der Vater gewann den bösen Trunk immer lieber, denn er kam in schlimme Gesellschaft. Er verkehrte bald mit Männern, die er früher verachtet hatte. Er verlernte die Arbeit, er verkaufte nach und nach alles, was er hatte, und wir begannen zu hungern.«

Sie hielt inne. Es wurde ihr sichtlich schwer, diese Geständnisse zu machen. Endlich fuhr sie fort:

»Mein Bruder war ein starker Knabe; er wurde Schmied. Die Schmiede sind sehr oft rohe und gewalttätige Leute; er wurde es auch, aber er hat mich immer liebbehalten, obgleich er bald in die Fußtapfen des Vaters trat, seine lohnende Arbeit aufgab und des Abends mit dem Vater ausging. Wenn sie dann des Nachts nach Hause kamen, so waren sie oft reich, oft auch arm, und ich durfte niemals fragen, woher sie die Dinge brachten, von deren heimlichem Verkauf sie lebten.« – »Armes Kind!« sagte Sternau.

Sie nickte traurig und fuhr fort:

»Einst kehrten sie nicht zurück, und ich wurde des anderen Tages zur Mairie zitiert. Dort erfuhr ich, daß beide gefangen seien: Man hatte sie bei einem Einbruch ertappt. Oh, das war ein trauriger Tag! Ich habe damals viel geweint, aber ich ließ den Mut nicht sinken. Während beide viele Monate lang im Gefängnis saßen, arbeitete ich bei einer Näherin; ich hatte keine Not und legte mir etwas Geld zurück, damit die Meinen nicht hungern sollten, wenn sie wieder frei würden. Sie kamen; sie nahmen mein Erspartes und vertranken es. Ich mußte zu ihnen ziehen, das alte Leben begann von neuem, und obwohl sie wiederholt bestraft wurden, besserten sie sich nicht. Nun war ich groß geworden, und der Vater sagte, daß ich hübsch sei, und meinte, jetzt sei die Zeit gekommen, in der er sich nicht mehr zu plagen und zu sorgen brauche. Darauf brachte er junge Männer zu mir, Männer, vor denen mir graute. Ich widerstand lange, aber ich erhielt Schläge. Ich wollte gehen, fliehen, aber ich wurde eingeschlossen. Endlich zwang man mich eines Abends, starken Wein zu trinken; ich wurde sehr betrunken, alles andere können Sie sich denken.«

Sie hielt abermals inne. Die Erinnerung an jene Zeit entlockte ihr ein Meer von Tränen.

Sie hatte in kurzen Worten eine Biographie gegeben, wie sie in Paris auf Tausende junger Mädchen paßte, denen die Ehrlosigkeit und Pflichtvergessenheit der Eltern zum Fluch wird.

»Haben Sie nie einen Schritt getan, um sich von der Behörde Hilfe zu verschaffen?« fragte Sternau. – »Nein«, antwortete sie. »Es waren ja mein Vater und mein Bruder.« – »Und nun? Was gedenken Sie nun zu tun, mein Kind?« – »Oh«, klagte sie, »ich weiß, daß ich dennoch in die Seine gehen muß.« – »Nein, das sollen Sie nicht. Ich werde dafür sorgen, daß Sie es nicht nötig haben.«

Ihr trauriges Angesicht klärte sich auf, und mit einem hoffnungsvollen Leuchten ihrer Augen fragte sie:

»Mein Gott, ist dies Wahrheit? Sie wollen mir wirklich helfen, ohne daß es dem Vater und dem Bruder Schaden bringt?« – »Ja, ich werde helfen, und, wenn es zu umgehen ist, jeden Schaden vermeiden.« – »Oh, Monsieur, wie dankbar wollte ich Ihnen sein«, rief sie entzückt. »Man hat mich zu den Verachteten gezählt, aber ich bin nicht schuld daran. Ich will ja gern arbeiten; ich will gern alles tun, um Ihre Zufriedenheit zu erlangen. Glauben Sie es mir?« – »Ich glaube es Ihnen«, erwiderte er. »Wo wohnen Sie?« – »Wir wohnen in einem Hinterhaus der Rue St. Cloy.« – »Das ist allerdings ein schlimmes Quartier. Zu einer in dieser Winkelstraße liegenden Hinterwohnung kann man kein Vertrauen haben.«

Da öffnete sich die Tür, und die Wirtin trat ein.

»Hier ist der Fliedertee«, sagte sie. »Ah, Sie sind wieder zu sich gekommen, mein Kind?« – »Ja«, antwortete das Mädchen. »Oh, Madame, wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sich meiner so freundlich angenommen haben!« – »Ich tat es gern. Sie haben nur diesem Herrn zu danken. Trinken Sie schnell den Tee, damit die Schmerzen aufhören. Ah, da kommt ja unser braver Gardon wieder.«

Wirklich trat der Matrose wieder ein. Hinter ihm befanden sich zwei Männer, die mit hereinwollten, von ihm aber bedeutet wurden, zurückzubleiben.

»Hier, mein Herr, sind Ihre Sachen«, sagte er. – »Ah, sie sind nicht verlorengegangen?« fragte Sternau. – »Nein, ein Polizist hatte sie an sich genommen.« – »Und er gab sie Ihnen ohne Weigerung?« – »Wie Sie sehen. Er kannte mich. Ja, Monsieur, der Matrose Gardon ist hier als ein ehrlicher Mann bekannt, man darf ihm schon etwas anvertrauen.« – »Wie fanden Sie es an der Brücke?« – »Es standen viele Menschen da, die auf die Rückkehr unseres Bootes warteten. Zwei von ihnen sind mitgekommen.« – »Was wollen sie?« – »Sie wollen diese Demoiselle sehen, sie vermuten, daß es eine Anverwandte von ihnen sei.« – »Wie heißen sie?« fragte das Mädchen. – »Sie nannten sich Mason, Vater und Sohn.« – »Sie sind es«, sagte sie. »Mein Name ist Annette Mason.« – »Wünschen Sie, sie zu sehen?« fragte Sternau. – »Darf ich, mein Herr?« – »Ja. Wir werden uns einstweilen entfernen.« – »Die anderen mögen gehen, Sie aber bitte ich zu bleiben, Monsieur. Ich fürchte mich vor dem Vater!« – »Gut«, sagte Sternau zur Mutter Merveille. »Lassen Sie die beiden eintreten.«

Dieselbe entfernte sich mit dem Matrosen, und die beiden Masons traten ein.

Der Vater hatte ein wüstes, versoffenes Aussehen; es war gar nicht zu verkennen, daß er der Sünde und dem Verbrechen ohne Rettung verfallen sei. Der Sohn war eine kräftige, robuste Gestalt und ganz sicher ein ungeschlachter, gewalttätiger und gewissenloser Mensch, aber in seinem Auge glänzte doch so etwas wie ein Freudenschimmer, als er seine Schwester erblickte. Der Vater eilte sofort auf sie zu.

»Endlich habe ich dich!« rief er. »Heraus aus dem Bett und folge mir!« – »Ich bin krank, Vater«, entgegnete sie bittend. – »Krank?« fragte er. »Du bist ja wach, du kannst ja sprechen. Heraus und fort mit dir!«

Da trat ihr Bruder zu ihr heran und fragte:

»Du bist wirklich in die Seine gesprungen, wie du uns drohtest, Annette?« – »Ja«, gestand sie leise. – »Welch eine Dummheit!« – »Dummheit?« rief der Vater. »Nein, eine Schlechtigkeit war es! Sie wollte uns blamieren, sie wollte uns um das Geld bringen, was sie zu verdienen hat. Sie mag uns jetzt folgen, und daheim soll sie sehen, was ihrer wartet.« – »Du wirst ihr nichts tun«, versetzte der Sohn. – »Nichts? O nein, nichts, gar nichts!« antwortete der Vater höhnisch. – »Nein, ich verbiete es dir!« – »Was hättest du mir zu befehlen! Sie soll gehorchen lernen!« – »Das wird sie, aber ohne daß du sie schlägst. Sie hat eine Dummheit begangen und wird sie bereuen. Komm, Annette!«

Das Mädchen blickte Sternau hilfesuchend an. Die beiden Männer hatten sich bisher gar nicht um ihn gekümmert. Er sagte nun mit ruhiger, aber fester Stimme:

»Die Demoiselle wird hierbleiben.« – »Ah«, entgegnete der Vater. »Wer sind Sie?« – »Ich habe Ihre Tochter aus der Seine geholt und hierhergebracht und glaube mir dadurch das Recht erworben zu haben, an Ihrer Unterhaltung teilnehmen zu können.«

Der Alte blickte ihn giftig an und erwiderte:

»Meinetwegen. Aber unsere Unterhaltung ist leider bereits vorüber.« – »Wohl schwerlich«, meinte Sternau. »Sie verlangen, daß Ihnen Ihre Tochter folgt, und ich verbiete es ihr.« – »Ah! Wirklich?« fragte Mason höhnisch. »Mit welchem Recht?« – »Zunächst mit dem Recht des Arztes.« – »Oh, Sie sind Arzt? Sie holen sich Ihre Patienten selbst aus dem Wasser? Das ist außerordentlich praktisch. Leider aber steht es hier nur allein mir zu, zu bestimmen, von welchem Arzt meine Tochter behandelt werden soll.« – »Schweig, Alter!« gebot der Sohn. »Dieser Herr hat Annette gerettet, er ist ihr nachgesprungen und hat sein Leben gewagt, seine Kleider triefen noch jetzt vom Wasser des Flusses. Du bist ihm Dank schuldig und wirst höflich mit ihm sein. Wenn er Arzt ist, werden wir seine Meinung anhören.« – »Den Teufel werde ich anhören!« entgegnete der Alte. »Das Mädchen will ich haben, weiter nichts! Vorwärts!«

Damit faßte er Annette bei der Hand, um sie aus dem Bett zu ziehen, da aber schob ihn Sternau zur Seite.

»Halt«, sagte er. »Sie haben diese Patientin nicht zu berühren. Ich als Arzt muß wissen, ob sie bereits jetzt das Bett verlassen darf. Sie wird bleiben, sie wird Ihnen nicht folgen, jetzt nicht und vielleicht auch nicht später.« – »Ah, wirklich?« fragte der Alte ganz erstaunt. – »Ja, wirklich!« – »Und das sagen Sie mir, mir, dem Vater?« – »Wie Sie hören. Zunächst ist Ihre Tochter krank, sie bleibt heute hier liegen. Und sodann weiß ich ganz genau, was für ein Schicksal ihrer daheim wartet, sie wird nicht nach Hause zurückkehren.« – »Nicht? Gewiß nicht?« fragte der Alte zwischen maßlosem Erstaunen und aufkeimendem Zorn. – »Nein, gewiß nicht. Sie haben nicht als Vater an ihr gehandelt. Sie haben Ihre Vaterrechte verloren, es wird anderweit für sie gesorgt werden.« – »Nicht als Vater an ihr gehandelt? Nicht, nicht? Wer hat dies gesagt? Sie selbst, keine andere als sie selbst. Und das soll sie mir büßen.«

Er erhob den Arm, um nach seiner Tochter zu schlagen, Sternau aber gab ihm einen Stoß, daß er zurückfuhr und an die Wand taumelte. Da trat der Sohn, der sich bisher nur beobachtend verhalten haue, vor und sagte:

»Mein Herr, Sie haben meine Schwester gerettet, aber das gibt Ihnen noch kein Recht, meinen Vater zu schlagen!«

Sternau erhob sich von dem Stuhl, auf dem er saß, und stellte sich mit seiner Herkulesgestalt dem Schmied gegenüber, der nun erst merkte, welch einen Mann er vor sich hatte.

»Monsieur Mason«, sagte er, »es ist gar nicht meine Absicht Ihren Vater zu schlagen, ich beabsichtige nur, mich dieses Mädchens anzunehmen. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß sie Ihnen nicht folgen wird, sondern daß ich sie in die Familie braver, rechtlicher Leute bringen werde, wo sie sich glücklich fühlen wird. Das werde ich tun, und wer mich daran zu hindern versucht, der hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn ich Gewalt anwende.« – »Wie schön das klingt«, höhnte der Alte. »Er will sie für sich selbst behalten.« – »Pah«, antwortete Sternau, »ich bin fremd, ich verlasse sehr bald diese Stadt, meine Absicht ist eine reine und ehrliche.« – »Ich glaube es Ihnen«, sagte der Sohn. »Sie sehen wie ein ehrlicher Mann aus. Aber was wollen Sie tun, wenn wir Ihnen die Schwester nicht lassen?«

Sternau lächelte überlegen und antwortete:

»Glauben Sie, daß Sie mir dieselbe vorenthalten können?« – »Gewiß!« – »Sie irren sich. Ich brauche nur zu beweisen, daß Sie ohne Existenzmittel sind und daß Sie es Ihrer Tochter und Schwester zumuten, Sie auf eine Weise zu ernähren, die gegen alle sittlichen Gesetze verstößt, so wird sich die Polizei sofort Ihrer Schwester annehmen und auch auf Sie ein wachsameres Auge haben als bisher.« – »Donnerwetter, Sie drohen uns?« – »Allerdings!« – »Und Sie glauben, daß wir uns fürchten?« – »Ich vermute es!« – »Ah, das hat mir noch keiner gesagt.« – »Das ist möglich, also sage ich es. Ich rate Ihnen sehr, sich den gegenwärtigen Umständen gutwillig zu fügen. Ihr Widerstand würde nicht nur nutzlos, sondern Ihnen sogar schädlich sein.« – »Das wollen wir sehen«, meinte der Vater. »Fasse an, Junge, sie muß mit!«

Aber der Sohn folgte diesem Ruf nicht. Er sah den hohen stolzen Deutschen vor sich stehen, er blickte in dessen mildes und doch so ernstes Auge und fühlte sich durch den Blick desselben besiegt und entwaffnet. Es war der Eindruck einer reinen, festen Männlichkeit auf einen moralisch haltlosen Charakter.

»Schweige!« gebot er seinem Vater. Und dann fragte er den Arzt: »Sie meinen es mit meiner Schwester wirklich ehrlich und werden dafür sorgen, daß sie einen guten Weg durch das Leben findet, dadurch, daß Sie ihr eine Stellung in einer hiesigen Familie geben?« – »Ja, gewiß werde ich dies tun.« – »Und sie nicht veranlassen, ihren Vater und Bruder zu verleugnen und zu verachten?« – »Es wird das auf sie selbst ankommen, ich werde sie in dieser Beziehung nicht im mindesten beeinflussen. Ich bahne ihr den Lebensweg; ob und wie sie ihn wandeln wird, das ist ganz allein nur ihre eigene Sache.« – »Werden wir erfahren, wo sie sich befindet?« – »Sie wird es Ihnen mitteilen.« – »Gut, mein Herr, so sind wir einig. Ich überlasse Ihnen meine Schwester gern.« – »Aber ich überlasse ihm meine Tochter nicht!« rief der Vater. »Ich brauche sie, ich bin alt und schwach, ich kann nicht mehr arbeiten.« – »Sie haben einen Sohn«, sagte Sternau, »einen starken, kräftigen Sohn, der gewiß gern für Sie sorgen wird.« – »Ja«, sagte der Sohn. »Komm, Vater, wir gehen unseren Weg weiter, aber wir wollen uns dabei von dem Vorwurf freihalten, daß wir Annette mit uns gerissen haben.« – »Nein, ich gehe nicht, ich bleibe, bis das Mädchen gehorcht«, behauptete der Alte. – »Pah! Ich will es, und so wirst du es auch wollen«, meinte der Sohn. »Ich will morgen wieder nachfragen, jetzt aber gehen wir. Vorwärts!«

Der Vater wollte sich sträuben, der Sohn aber faßte ihn und schob ihn zur Tür hinaus.

Annette hatte während des Verlaufs des Gesprächs wortlos im Bett gelegen, jetzt aber streckte sie dem Arzt ihre Hand entgegen.

»Mein Herr, oh, wie danke ich Ihnen«, sagte sie. »Sie sind mein doppelter Retter. Sie haben mich zweimal gerettet, erst aus dem Wasser der Seine und nun aus dem Schlamm des Elendes, in das man mich zurückziehen wollte.«

Sternau bemerkte, daß ihr große Schweißtropfen auf der Stirn standen.

»Was ist Ihnen?« fragte er. »Sie schwitzen infolge des Tees?« – »Ich weiß es nicht. Ich habe so große Schmerzen.« – »Plötzlich?« – »Ja, ich kann sie kaum ertragen!« – »Ach, ich ahnte es. Ich werde Ihnen jemand schicken. Haben Sie nur kurze Zeit Geduld.«

Damit zog Sternau seinen Rock an und setzte seinen Hut auf, um zu gehen. Draußen trat ihm bereits die Wirtin entgegen.

»Ich hörte die beiden Menschen gehen. Mein Gott waren dies rohe Leute!« – »Sie sind bereit Madame, das Mädchen bis zu ihrer Genesung bei sich zu behalten?« – »Von Herzen gern, mein Herr.« – »Aber Sie werden viel Störung von ihr haben.« – »Davor scheue ich mich nicht. Das Mädchen ist nicht schuld an seinem Elend.« – »Gewiß nicht. Was Sie an ihr tun, wird Gott Ihnen lohnen. Übrigens versteht es sich von selbst, daß ich die auflaufende Rechnung auf mich nehme.« – »Das ist sehr edel von Ihnen, mein Herr, obgleich ich nicht danach fragen würde, trotzdem ich selbst arm bin.« – »Nun, dann nehmen Sie hier diese Börse, Madame. Ich werde jetzt gehen, morgen früh aber wieder hier sein. Gute Nacht!«

Als Sternau sein Hotel in der Rue de la Barillerie erreichte, war es bereits Mitternacht. Er besuchte zunächst seine kranke Braut die sich in abgeschiedenen Räumen unter der Aufsicht der guten Elvira und einer barmherzigen Schwester befand, und ging dann schlafen.

Am anderen Morgen besuchte er seine Gerettete bei Mutter Merveille wieder. Es ergab sich, daß er gestern abend ganz richtig vermutet hatte, Annette befand sich aber trotz der Schwäche außer Gefahr.

Sternau begab sich hierauf zu Professor Letourbier, bei dem er zum Frühstück eingeladen war. Im Lauf des letzteren erzählte er sein gestriges Abenteuer und erregte dadurch die Teilnahme der Frau Professorin in einer solchen Weise, daß sie sich erbot, das Mädchen zu sich zu nehmen. Das hatte er beabsichtigt.

Besonders erfreut war er, als die Professorin bei seinem Fortgang bat, ihn zu seiner Patientin begleiten zu dürfen.

Sie fanden dieselbe jetzt einigermaßen gekräftigt. Das Mädchen weinte Tränen der Freude, als es hörte, daß es eine solche Beschützerin erhalten solle, und wurde von Sternau auch sofort der Professorin definitiv übergeben.

Zwei Tage später reiste er mit Rosa, Alimpo und Elvira ab, um seine Mutter und Schwester in Rheinswalden aufzusuchen. Der geehrte Leser weiß bereits, daß es ihm dort gelang, die Geliebte von ihrem Irrsinn zu heilen.


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