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22. Kapitel.

Als Flora am gestrigen Tag von ihrem Ausgang zurückkehrte, fand sie den Vater schlafend. Der Notar hatte ihn mit den drei Zeugen eben verlassen, die lange Konferenz hatte ihn so angestrengt, daß der Schlummer sofort wieder Gewalt über ihn bekommen hatte. Sie zog sich leise zurück, um zu warten, bis er erwachen und nach ihr klingeln werde.

Dies geschah erst am späten Abend, als Mitternacht bereits nahe war. Sie eilte zu ihm und fand ihn aufrecht auf der Chaiselongue sitzend; ein großes, versiegeltes Schreiben lag auf der Decke vor ihm. Flora eilte auf ihn zu und liebkoste ihn.

»Wie befindest du dich, mein Vater?« fragte sie. – »Ich danke dir, mein Kind«, antwortete er. »Ich habe einen sehr guten Schlummer gehabt, und es ist mir leichter und wohler als lange Zeit vorher. Dies mag wohl auch mit daher kommen, daß ich eine heilige Pflicht erfüllt habe. Die Pflichterfüllung gibt dem Menschen innere Ruhe und neue Kraft.«

Sein Blick ruhte auf dem Schreiben, auch ihr Auge fiel auf das große Notariatssiegel, und sie schauderte. Er bemerkte es und sagte, matt lächelnd:

»Der Anblick dieses Dokuments ist dir unangenehm? Wie unangenehm wird dir erst sein Inhalt sein! Und doch mußt du ihn erfahren, und zwar noch heute, jetzt gleich. Komm, meine Tochter, setz dich und höre mir zu.«

Sie gehorchte diesem Befehl und setzte sich neben ihn, aber es standen ihr bereits die Tränen in den Augen.

»Ahnst du, was dieses Schriftstück enthält?« frage er. – »Ja«, antwortete sie leise. – »Was ist es?« – »Dein – dein – o Papa, ich mag das Wort gar nicht aussprechen!« – »Meinst du mein Testament, Flora?« – »Ja, mein Vater«, antwortete sie, jetzt bereits laut schluchzend. – »Du hast recht geraten«, sagte er, »aber weine nicht! Man kann an sein Ende denken, ohne den Tod nahe zu wissen. Will es Gott, so wirst du mich noch lange nicht verlieren, aber ich habe gefühlt, daß es meine Pflicht ist, an die Zukunft zu denken und meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.«

Sein Husten unterbrach ihn und übertäubte auch das leise Weinen der Tochter, dann fuhr er fort:

»Dieses Testament lege ich in deine Hände nieder, Flora. Ein Duplikat davon liegt bei dem Notar, der es angefertigt hat. Schwöre mir, daß du nach meinem Tod alle darin getroffenen Bestimmungen erfüllen wirst Willst du?« – »Papa«, schluchzte sie, »es bedarf des Schwures nicht, aber wenn es dich beruhigt, so will ich hiermit schwören, daß dein Wille bis in das kleinste befolgt werden soll.« – »Auch dann, wenn dieser Wille für dich ein harter, unväterlicher zu sein scheint?« – »Auch dann, Papa. Ich weiß, er wird nur hart scheinen, aber nicht hart sein. Du liebst dein Kind und wirst mich nicht unglücklich machen.« – »Ich danke dir! Und nun trockne deine Tränen, denn ich habe mit dir zu sprechen, ich will dir die Härten, die mein Testament für dich enthält, erklären, ich will dir erzählen, ich will – ja, mein Kind, dein Vater will dir – beichten!«

Flora sollte ihre Tränen trocknen, aber dies gelang ihr nicht. Ihr Vater wollte – beichten. Wie dieses Wort so fürchterlich klang! War er ein Verbrecher? Warum wollte er sich gerade vor seinem Kind demütigen?

Der Herzog wartete geduldig die lange Zeit die seine Tochter brauchte, um wenigstens äußerlich ruhig zu erscheinen. Dann begann er:

»Mein Kind, ich habe eine große, eine schwere Sünde auf dem Gewissen. Du hast einen Bruder, ohne daß ich dir von ihm gesagt habe. Kannst du mir dies verzeihen?«

Anstatt zu erschrecken, blickte sie in freudigem Staunen zu ihm hin.

»Einen Bruder!« sagte sie. »Ist das wahr, Papa?« – »Ja.« – »Oh, da habe ich dir ja nichts zu verzeihen! Du wirst schon deine weisen Gründe gehabt haben, seine Existenz geheimzuhalten. Du erfreust mich mit dieser Nachricht außerordentlich, anstatt mich zu betrüben.« – »Deine Worte nehmen eine schwere Last von meiner Seele, Flora, aber ich muß leider bekennen, daß es nicht weise Gründe waren, die mir Schweigen auferlegten. Ich selbst wußte bis vor einiger Zeit von dem Dasein dieses Sohnes nichts. Er ist nicht ein Sohn deiner Mutter, er ist der Sohn einer anderen, er ward geboren, als deine Mutter bereits längst tot war; er ist ein illegitimes Kind.«

Es wurde dem Kranken schwer, dieses Bekenntnis auszusprechen, und Flora errötete, als ob sie selbst es von sich abgelegt hätte. Aber sie erkannte den Ernst dieser Mitternachtsstunde und sagte mild:

»Papa, er ist dessenungeachtet mein Bruder, und ich werde ihn herzlich lieben. Wo befindet er sich?« – »Oh, wenn ich das wüßte!« – »Du weißt es nicht? Aber wo ist seine Mutter, Papa?« – »Auch dieses habe ich nicht erfahren können; aber sie ist dir bekannt, mein Kind. Es ist nämlich Señorita Wilhelmi, die einst für kurze Zeit deine Erzieherin war.«

Das Gesicht Floras zeigte eine vollständige Bestürzung. Sie brauchte Zeit, sich von derselben zu erholen, dann sagte sie:

»Meine liebe, gute Wilhelmi? Mein Gott, was mag sie gelitten haben!« – »Ja«, nickte er voll Reue. »Und was mag sie noch leiden! Aber sie soll entschädigt werden. Vorher will ich dir alles erzählen. Höre, meine Tochter!«

Es mag einem Vater schwer werden, ein reines, unverdorbenes Kind einen Einblick in seine Jugendsünden tun zu lassen. Auch dem Herzog wurde es nicht leicht, aber er besiegte alle Zurückhaltung und erzählte Flora von seinem wüsten Leben, von Gasparino Cortejos, seines ehemaligen Haushofmeisters, Verführungen, von jener Maskerade, während der er Señorita Wilhelmi zum ersten Mal gesehen hatte. Er erzählte ihr aufrichtig, wie er sie in sein Haus gelockt und mit jenem teuflischen Mittel überwunden habe. Er verschwieg ihr auch nicht, daß sie dann fortgegangen sei, ohne eine Unterstützung von ihm zu erhalten, so daß sie also, wie er noch jetzt meinte, ohne alle Subsistenzmittel gewesen sei. Auch über sein späteres Leben sprach er, über die Zigeunerin Zarba, mit der er ebenfalls auf Veranlassung jenes Cortejo, der dann später nach Rodriganda ging, ein Liebesverhältnis angeknüpft hatte, nachdem Cortejo ihrer überdrüssig geworden war. Sie hatte ihn zuerst auf das Vorhandensein eines Sohnes aufmerksam gemacht, und über die Reue sprach er, von der er nun ergriffen worden sei. Diese Reue war so aufrichtig, so tief und wahr, sie sprach sich so in seinen Worten, seinen Gebärden und seinen Tränen aus, daß Flora auf das tiefste davon ergriffen wurde. Als er geendet hatte, fragte sie schluchzend:

»Glaubst du nicht, Papa, daß diese fürchterliche Zarba dich belogen hat?« – »Nein; sie hat die Wahrheit gesprochen.« – »So müssen wir alles tun, um meinen Bruder aufzufinden. Ist er wirklich so ein Mann, wie sie gesagt hat, so brauchen wir uns ja seiner nicht zu schämen, und lebt er in Armut und Elend, so ist es ja noch viel mehr unsere Pflicht, ihn zu erretten und an die ihm gebührende Stelle zu setzen.« – »Aber«, fragte er, »denkst du dabei auch an die Verluste, die du erleiden wirst, an die schweren Opfer, die du zu bringen hast?« – »Nein, Vater, daran denke ich nicht«, antwortete sie aufrichtig. »Das alles wird für mich kein Opfer sein. Ich werde einen Bruder haben, dem meine Liebe gehört; das wiegt alles auf. Wir müssen die Nachforschungen von neuem beginnen!«

Seine matten Augen leuchteten bei diesen Worten auf, die eine so schwesterliche Großmut bekundeten. Das hatte er nicht erwartet. Er sagte:

»Und doch ist es Pflicht dich über alles aufzuklären, Flora. Wenn ich keinen Sohn habe, so gehört dir nicht nur mein vollständiges Erbe, sondern auch mein Rang und Titel. Nach spanischen Gesetzen bist du nach meinem Tod Herzogin, und dein erster Sohn erbt die Herzogskrone der Olsunnas, mag dein Gemahl immer heißen, wie er wolle. Auf dieses Erbe und diese Krone verzichtest du für dich und deine Nachkommen, wenn du nach dem Bruder suchst, der ja auch jünger ist als du.« – »Das ist erstens meine Pflicht und zweitens tue ich es gern, Papa. Diese Frage ist ein für allemal entschieden.« – »Gott sei Dank!« seufzte er nun endlich erleichtert »Es wird sich also die große Besorgnis, die mich in letzter Zeit so peinigte, nicht erfüllen, du wirst meinem Andenken, wenn ich gestorben sein werde, nicht fluchen, mein Kind?«

Da legte sie die Arme um ihn, küßte ihn auf die bleichen Lippen und rief:

»Was denkst du von mir, mein Vater! Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe! Was du gefehlt hast, darüber darf ich nicht richten, denn ich bin deine Tochter, ich bin ja selbst sünd- und fehlerhaft. Dein Gewissen und Gott sind deine einzigen Richter, und unsere Religion lehrt, daß Gott die Liebe sei, er zürnt nicht ewig. Du hast den Willen, alles zu sühnen, und ich gebe dir mit Freuden die Hand dazu. Ich versichere dich, daß mir dies nicht schwerfällt, ja, ich fühle vielmehr eine unendliche Freude, so unerwartet ein brüderliches Herz zu finden, dem ich meine Liebe widmen darf, handle ganz so, wie eine Reue es dir eingibt, ich bin ja gern mit allem einverstanden!«

Der früher so stolze und starke Mann drückte sie an sich und weinte.

»Meine Tochter, meine liebe, gute Tochter!« sagte er. »Gott wird dir es lohnen, daß du so nachsichtig mit mir bist! Nun aber weißt du auch, warum ich in letzter Zeit so froh war, dein Herz noch frei von Liebe zu wissen. Du wirst auf das Glück der Ehe verzichten müssen. Alles, was ich habe, gehört dem Sohn, und es steht ganz in seinem Belieben, wieviel er dir abtreten will. Eine Rente und eine Aussteuer hast du zwar zu fordern, doch, wenn ich sterben sollte, nur von ihm. Dein mütterliches Erbteil beträgt nur zwei Millionen, es gehört zwar unbeschränkt nur dir, aber du siehst ein, daß es zu wenig ist, eine standesgemäße Ehe zu schließen.«

Da lachte sie trotz des Ernstes des Augenblicks hell auf und sagte:

»Nun, so schließe ich eine nicht standesgemäße Ehe. Dazu werden die zwei Millionen gewiß hinreichend sein.«

Er blickte sie forschend an.

»Flora«, fragte er dann besorgt, »du hast mir etwas verheimlicht?« – »Nein, Papa«, antwortete sie, »aber es ist gestern etwas geschehen, was ich dir ganz offen erzählen muß.«

Bei diesen Worten bedeckte eine tiefe Glut ihre Wangen, so daß er ausrief:

»Kind, du liebst!« – »Ja«, gestand sie. »Ich liebe, Papa, und dem, den ich liebe, gehört mein Herz und mein ganzes Leben. Ich werde sein Weib und das keines anderen!« – »Wer ist es?« – »Er ist ein Künstler, ein deutscher, berühmter Maler, zwar von Adel, aber nur mit einem ganz einfachen ›Von‹. Ich gestehe dir sogar, daß er seiner Kunst wegen von seinem Vater verstoßen wurde!«

Der Herzog schwieg. Seine Augen schlossen sich, und sein Kopf sank leise in das Kissen zurück. So lag er lange, lange wortlos da. Was mochte er denken, er, der Herzog, dessen Tochter ihm gestand, daß ihre ganze Liebe einem armen, von seinem Vater verstoßenen Maler gehöre!

Flora beobachtete die Mienen des Vaters, aber es zeigte sich in seinem eingefallenen Gesicht nicht ein einziger Zug, der seine Gedanken verraten hätte. Da wurde es ihr angst. Es war, als ob er tot vor ihr daläge, gestorben vor Schreck über die ebenso unerwartete wie erschütternde Mitteilung, die sie ihm gemacht hatte. Das preßte ihr abermalige Tränen aus, ihr kindliches Herz zitterte, und sie sagte stockend:

»Papa, er ist ein Sohne ohne Vater, ganz wie der deinige. Wenn du es haben willst, so werde ich dieser Liebe entsagen!«

Es verging abermals eine Weile, dann öffnete er die Augen und antwortete:

»Mein Kind, ich habe soeben einen schweren Kampf durchkämpft, einen Kampf mit meinem Recht und den Ansichten unseres hohen Standes, und ich habe – gesiegt. Die Tochter des Herzogs von Olsunna liebt einen Edelmann, einen von seinem Vater Verstoßenen! Dieses Geständnis hat mich tief erschüttert. Ich sehe darin eine wohlverdiente Strafe für mich, denn ich habe die Liebe einer Erzieherin, die Liebe von noch tiefer stehenden Mädchen besessen und – betrogen. Meine Liebe war unlauter, die deinige aber ist rein. Du hast mir deine Hand geboten und Opfer gebracht, um den Sohn der Erzieherin zu deinem Bruder zu machen, es wäre grausam, wenn ich dir dein Herz brechen wollte. Ich stehe am Rand des Grabes, da rechnet man mit anderen Faktoren als im vollen, frischen Leben. Ich sehe den Menschen, aller äußeren Würden, alles falschen Glanzes entkleidet, den ihm eine zufällige Geburt verleiht, ich taxiere jetzt mit dem Auge Gottes, vor dem nicht der Rang, sondern nur die Eigenschaft des Herzens gilt, und so will ich dir meine Antwort sagen: Der Name Olsunna darf nicht aussterben; die Traditionen unseres Geschlechts müssen erhalten und fortgeführt werden; bleibst du die einzige Trägerin dieses Namens, so bist du gezwungen, eine standesgemäße Ehe einzugehen, und dein erster Sohn wird Herzog von Olsunna werden; findet sich aber dein Bruder, so habe ich ihn in meinem Testament zu meinem Nachfolger ernannt. In den Händen des Notars befindet sich ein Gesuch an den Herrscher Spaniens, das zur Folge haben wird, daß man ihn anerkennt, wenigstens hoffe ich das. Diese Anerkennung stände außer allem Zweifel, wenn ich länger leben und die einstige Erzieherin nachträglich zu meinem Weib machen könnte. Bleibt diese Anerkennung aus, so bist du die Erbin der Olsunnas und hast deine Pflicht zu tun, wird sie aber nicht verweigert, so gebe ich dir hiermit die Erlaubnis zur Verbindung mit dem Geliebten, vorausgesetzt, daß er beweist, daß er ein Ehrenmann ist, der nur unschuldigerweise von seinem Vater verstoßen wurde.«

Diese lange Rede war oft durch längere Hustenanfälle unterbrochen worden. Als er jetzt schwieg, kniete Flora vor seinem Lager nieder, benetzte seine Hände mit Tränen des Schmerzes und der Freude zugleich und schluchzte:

»Dank, tausend Dank, mein lieber, nachsichtiger Vater! Dein Wille soll mir als unumstößliches Gesetz gelten, aber ich versichere dir, daß Otto ein Ehrenmann ist. Ich bitte dich, dir ihn vorstellen zu dürfen! Prüfe ihn und sei überzeugt, daß er diese Prüfung vollständig bestehen wird.« – »Ich hoffe es, mein Kind! Jetzt aber gönne mir die Ruhe, deren ich bedarf! Ich habe mir doch zuviel zugemutet und bin sehr müde. Schlafe wohl, Flora, und bitte Gott, daß er alles zum besten lenke und deinem Vater vergebe, was dieser gefehlt und verbrochen hat.«

Sie trennten sich. Flora fand keinen Schlaf, ihre Erregung war zu groß, und die widerstreitendsten Gefühle ihres Herzens stürmten auf sie ein. Es ging ihr wie dem Geliebten, sie fand erst gegen Morgen die nötige Ruhe und erwachte erst, als die Sonne bereits hoch am Himmel stand.

Eine Stunde später saß sie wieder beim Vater. Draußen auf der Bank vor dem Haus hatte abermals der Schiffer Platz genommen und strickte an seinem Netz. Da hörten sie nahende Schritte, und dann fragte eine tiefe, sonore Stimme:

»Hier wohnt der Schiffer Jean Foretier?« – »Ja, mein Herr«, antwortete der Gefragte. »Ich bin es selbst.« – »Ich danke.«

Man hörte, daß der Frager in den Flur trat und an die Tür klopfte. Auf das »Herein« Floras trat ein junger Mann ein, dessen hohe Figur einem Riesengeschlecht entstammt zu sein schien. Er war von einer ungewöhnlichen männlichen Schönheit, und der tiefe Ernst, der auf seiner Stirn thronte, wurde durch den milden Blick seines Auges und das freundliche Lächeln seiner vollen Lippen angenehm gemildert.

»Verzeihen Sie meine Kühnheit!« bat er mit einer tiefen Verbeugung. »Man hat mir gesagt, daß ich in diesem Haus einen Patienten finden werde.« – »Zu wem sind Sie gewiesen worden?« fragte der Herzog. – »Man konnte mir keinen Namen nennen, denn er war dem Freund, der mich sandte, selbst unbekannt.«

Da erhob sich Flora rasch.

»Ah, bitte, mein Herr, wie ist Ihr Name?« – »Ich nenne mich Sternau.« – »Sternau! Ah, Doktor Sternau! Sie sind hier infolge der Depesche Ihres Freundes! Doch nein, so schnell kann dies doch nicht geschehen.« – »Allerdings nicht«, lächelte Sternau. »Ich bin der Besitzer der Jacht, die gestern hier eingelaufen ist, ich befand mich in Avranches, ohne daß der Freund es ahnte. Er telegrafierte gestern nach mir und erhielt während der Nacht die Benachrichtigung, daß mein gegenwärtiger Aufenthaltsort nicht angegeben werden könne, und es war eine eigentümliche Schickung, daß wir uns heute morgen trafen.«

»Das ist mehr als seltsam, das ist fast, als ob es der Wille Gottes sei!« meinte Flora. »Bitte, Herr Doktor, nehmen Sie Platz, und erlauben Sie mir, meinem Vater den Zusammenhang zu erklären. Ich habe ihm noch nicht gesagt, daß zwischen Otto und mir die Rede von Ihnen gewesen ist.«

Sternau setzte sich, und Flora erzählte dem Herzog den Zusammenhang. Dieser hatte den Arzt mit einem seltsamen Blick betrachtet. Als die Tochter mit ihrem Bericht zu Ende war, sagte er mit mattem Lächeln:

»Das ist allerdings ein mehr als eigentümliches Zusammentreffen, und ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich zu mir bemüht haben. Aber ich befürchte, daß die Kunst selbst des berühmtesten Arztes an meiner Krankheit scheitern wird, sie ist bereits zu weit vorgeschritten; die Ärzte, die mich bisher behandelten, haben mich alle aufgegeben.« – »Unsere Kunst und unsere Wissenschaft sind allerdings schwach dem Willen Gottes und den Kräften der Natur gegenüber«, antwortete Sternau, »jedoch gibt Gott uns oft einen Fingerzeig, dem wir zu gehorchen haben. Der Arzt hat die Pflicht, sein Wissen zu bereichern, sich in seiner Kunst zu üben und seine Erfahrungen zu vermehren, aber sein Wirken soll nur darauf gerichtet sein, das Vertrauen auf Gott zu lenken und die Selbstheilkraft der Natur anzuregen und zu unterstützen. Dann wird er sich segensreicher Erfolge zu erfreuen haben.«

Das waren allerdings Anschauungen, wie man sie bei den meisten Ärzten nicht findet. Der Herzog wie seine Tochter blickten mit Überraschung auf den Sprecher. Der erstere warf einen Blick der Hochachtung, in den sich noch ein eigenartiger Glanz mischte, auf Sternau, und die letztere sagte:

»Sie sprechen mir aus dem Herzen. Gott gibt uns zuweilen einen Fingerzeig. Sollte Ihre unvermutete Anwesenheit nicht auch ein solcher sein?« – »Oh«, antwortete der Gefragte, »es kommt mir nicht in den Sinn, mich als Werkzeug Gottes zu präsentieren, aber ich gestehe aufrichtig, daß ich während meiner Reisen und Praxis zahlreiche Erfahrungen gesammelt habe in Beziehung auf das Leiden, mit dem wir es, wie es scheint, hier zu tun haben. Man darf sich dem Ausspruch der Ärzte nicht unbedingt überlassen. Es gibt bei einem Krankheitsbild so zahlreiche und oft verwickelte Umstände zu berücksichtigen, daß es kein Wunder ist, einmal in einen Irrtum zu verfallen. Ich zum Beispiel habe bereits, jetzt die Überzeugung, daß unser Patient nicht an Phthisis, nicht an Auszehrung leidet.« Der Eindruck dieser Worte auf den Kranken und seine Tochter war ein gewaltiger.

»Nicht, wirklich nicht?« fragte Flora erregt. – »Nicht Verzehrung?« rief der Herzog, indem er sich mit einer Kraft aufrichtete, als ob er ein Jüngling sei.

»Nein«, antwortete Sternau. »Die Verzehrung hat ihre ganz eigentümlichen Erkennungszeichen, und eines dieser Zeichen fehlt in Ihrem Auge. Fast möchte ich Sie ersuchen, sich mir auf fünf Minuten zu einer eingehenden Untersuchung anzuvertrauen.« – »Papa, tue es, ich bitte dich inständig«, sagte Flora, indem sie sich erhob, um zu gehen und den Patienten mit dem Arzt allein zu lassen. – »Ihre Worte sind sehr kühn«, versetzte der Herzog, »aber wenn man Ihnen in das Auge schaut, kann man nicht anders, als Ihnen vertrauen. Wollen Sie mich untersuchen?« – »Gewiß; ich bat Sie ja bereits darum!« – »So stelle ich mich Ihnen zur Verfügung.«

Der Herzog entfernte alle hinderlichen Hüllen, und Sternau begann sein Werk. Es nahm bedeutend mehr Zeit in Anspruch, als die erwähnten fünf Minuten. Man sah, daß der Arzt mit einer ganz besonderen Gewissenhaftigkeit verfuhr. Die Diagnose schien außerordentlich schwierig zu sein, und der Patient hatte sehr viele Fragen zu beantworten.

Endlich war Sternau zu einem bestimmten Resultat gelangt und sagte:

»Erlauben Sie mir, mein Herr, der Dame zu klingeln?« – »Ah, Herr Doktor, Ihre Frage ist für mich eine sehr tröstliche«, antwortete der Herzog, indem ein glückliches Leuchten über sein blasses Gesicht flog. »Sie würden meine Tochter nicht als Zeugin ihres Ausspruchs dulden, wenn dieser nicht so ganz unverhofft ein beruhigender wäre. Rate ich richtig?« – »Sie raten recht«, nickte Sternau, »doch ehe ich klingle, muß ich vorher eine höchst diskrete Frage aussprachen, die Sie mir erstens verzeihen und dann aufrichtig beantworten werden. Sie haben in Ihrer Jugend einmal an einer Hautkrankheit gelitten?«

Der Herzog errötete trotz seiner Blutarmut.

»Welche Hautkrankheit meinen Sie, Herr Sternau?« fragte er, – »Ich meine, beim richtigen Namen genannt, die Skais.« – »Herr! Wie können Sie glauben ...«

Der Herzog sprach diese Worte mit einer krankhaften Entrüstung, hielt aber plötzlich inne, als er das scharfe durchdringende Auge des Arztes auf sich gerichtet sah. Er versuchte, sein neues Schamgefühl zu bekämpfen, schwieg eine Weile und sagte dann mit gesenkter Stimme:

»Sie haben recht, im Angesicht des Todes wäre ein Leugnen geradezu ein Selbstmord zu nennen. Und Sie glauben, mich retten zu können?« fragte Olsunna in fieberhafter Erregung. – »Ja. Teilen Sie diesen Ausspruch getrost Ihrer Tochter mit, ich vertrete ihn.«

Sternau zog an der Glocke, und bald trat Flora ein. Das Gesicht ihres Vaters glänzte wie Sonnenschein. Er streckte die Arme nach ihr aus und rief:

»Komm her, mein Kind! Dieser Arzt gibt mir die Hoffnung des Lebens. Ich soll nicht sterben.«

Flora eilte auf ihn zu, um ihn zu umarmen, blieb aber auf halbem Weg vor Sternau stehen und fragte:

»Ist es wahr, mein Herr? Wären Sie imstande, das Leben meines Vaters festzuhalten?« – »Ich hoffe es, ja, ich bin davon überzeugt«, antwortete er bescheiden und ohne alle Überhebung.

Da stieß sie einen lauten Jubelruf aus, faßte seine Hand und küßte dieselbe schnell, ohne daß er es verhindern konnte.

»Siehst du, Papa, daß es ein Fingerzeig Gottes war!« rief sie. »Oh, Herr Sternau, wie glücklich machen Sie uns durch den Trost, den Sie uns geben.«

Sie standen einander gegenüber, und als sie ihm so selig in das Angesicht schaute, erinnerte sie sich an die Worte ihres Geliebten, der ja gesagt hatte, daß Sternau ihr ganz außerordentlich ähnlich sehe. Sie fand dies bestätigt, es war ein eigentümliches Gefühl, das sich ihrer bemächtigte, sie hätte diesen hohen, schönen Mann augenblicklich umarmen und küssen können, ohne zu glauben, daß sie damit einen Fehler begehe. Und er stand vor diesem schönen Mädchen, und es war ihm dabei, als hätte er sie lange, lange Zeit schon gekannt, als wäre er vertraut mit ihr gewesen, wie ein Bruder mit der Schwester, als könne er ihr sein ganzes Herz offenbaren, ganz und rückhaltlos, wie es eben nur einer Schwester gegenüber geschieht.

»Ich danke Ihnen für die Zuversicht, mit der Sie meine Worte hinnehmen«, sagte er. »Ich wiederhole, daß die Heilung nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich ist, wenn Sie mich unterstützen wollen.« – »Oh, gern!« antwortete sie. »Fordern Sie alles, was Sie wollen.«

Sternau blickte sich im Zimmer um und fragte dann mit halbem Lächeln.

»Würde Ihnen ein Ortswechsel möglich sein?« – »Warum nicht?« fragte der Kranke. – »Verzeihung! Ich kenne Ihre Verhältnisse nicht, und ein Ortswechsel pflegt mit mehr oder weniger Kosten verknüpft zu sein.« – »Ah, Sie kennen unsere Verhältnisse, vielleicht sogar meinen Namen nicht?« – »Allerdings nein. Mein Freund kennt ihn nicht, da das Fräulein ihn aufforderte, nicht danach zu forschen, und er bat mich, deshalb meinerseits auch nicht zu fragen. Ich bin einfach zu dem Patienten gekommen, der im Haus des Fischers Jean Foretier wohnt.« – »Sonderbar!« sagte der Herzog.

»Oh, Papa«, fiel Flora ein, »ich hatte ja noch nicht mit dir gesprochen, darum mußte Otto mir versprechen, sich nicht zu erkundigen.« – »Nun verstehe ich dich, mein Kind, und dieser Herr Otto gewinnt dadurch sehr in meiner Achtung. Sagen Sie ihm das und benachrichtigen Sie ihn, daß ich ihn morgen vormittag bei mir erwarte, um ihm Dank zu sagen, daß er mir einen so ausgezeichneten Arzt gesandt hat. Übrigens teile ich Ihnen mit, daß meine Kasse vielleicht auch einen nicht ganz billigen Ortswechsel vertragen wird. Ich will mich nicht reich nennen, aber um die Bedürfnisse des alltäglichen Lebens brauche ich nicht mit großer Anstrengung zu sorgen.«

Es war, als ob die Nähe des zuversichtlichen Arztes bereits einen recht guten Einfluß auf seinen Zustand ausübe. Er hatte den langen Satz ohne alle Anstrengung und ohne zu husten gesprochen, und die letzten Worte hatten sogar einen schalkhaften Klang, der nichts mit der Todesgewißheit zu tun hatte, in der er sich vorher befunden hatte.

»Nun, so werde ich Sie also ersuchen, Avranches zu verlassen«, sagte Sternau. »Weder das hiesige Klima, noch die hiesige Quelle können Ihnen Heilung bringen. Die rauhe Seeluft muß ich Ihnen ganz verbieten. Ich rate Ihnen ein mittleres Klima, einen Ort an einem Fluß, Wald und Feld, mit Raum genug zu Spaziergängen und einer erheiternden Aussicht.« – »Spaziergänge?« fragte Olsunna. »mein Gott, ich kann ja das Zimmer nicht einmal durchschreiten!« – »Haben Sie keine Sorge! Ich werde Ihnen Quebracho, Coca und männliche Dattelblüte geben, Dinge, die sich in der hiesigen Apotheke nicht finden werden, wohl aber unter meinen Reisevorräten. Sie werden in einer Woche kräftig genug sein, eine Bahntour mit Unterbrechung auszuhalten. Sie fahren also – ah, da kommt mir ein Gedanke! Waren Sie bereits einmal am Rhein?« – »Nein«, antwortete der Herzog. – »So reisen Sie hin. Ich werde nicht nach Ihrem Namen fragen, aber ich werde Ihnen Empfehlungen mitgeben. In der Nähe des Rheins gibt es ein Schloß, dessen Bewohner mir verwandt sind und die Sie mit Freuden aufnehmen werden. Dort warten Sie Ihre Heilung ab. Sie haben jetzt die vorhin erwähnten Mittel in der Weise zu nehmen, wie ich es auf der Etikette des Fläschchens vermerke, und nach Ihrer Ankunft am Rhein gebrauchen Sie ein Rezept, das ich Ihnen schreiben werde. Eine einfache, milde Kost, den Kräften angemessene Spaziergänge, ein heiteres Gemüt und sorgsames Fernhalten aller Aufregung, das ist es, was ich Ihnen befehle oder empfehle. Ihre Krankheit wird durch die Haut treten; dann gebrauchen Sie fleißig warme Bäder. Ich werde jetzt gehen, um die Medizin zu bereiten.« – »Ach, ich bin wie neugeboren«, rief der Herzog. – »Und ich, o mein Gott, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!« stimmte Flora bei, indem ihr die Freudentränen über die Wangen strömten.

Sie kniete vor dem Vater nieder, nahm seinen Kopf in ihre Arme und küßte seine Lippen immer und immer wieder. Diesen Ausbruch der Freude benützte Sternau, um sich leise zu entfernen. Draußen forderte er den alten Schiffer auf, mit ihm zu gehen.

Als Vater und Tochter ihre Umarmung lösten, bemerkten sie erst, daß der Arzt fort war.

»Er ist zu zartsinnig, um zu bleiben«, sagte Olsunna. »Er ist gegangen, um die Arznei zu holen. Ich habe noch keinen Arzt gesehen, der einen solchen Eindruck macht wie er. Schon sein Anblick, sein Wort bringt Heilung.« – »Er ist ein Mann wie ein Halbgott, Papa. Oh, Papa, du wirst gesund werden; denke dir dieses Glück!«

Sie umarmten sich abermals und schwelgten in der reinen Freude, die ihnen die neuerwachte Hoffnung gewährte. Sie warteten auf Sternaus Rückkehr wohl eine Stunde lang, bis es anklopfte und Jean Foretier eintrat. Er hatte einen Brief in der Hand und in der anderen ein in Papier gewickeltes Fläschchen. Er streckte beides Flora entgegen und sagte:

»Eine Empfehlung von dem Arzt, gnädiges Fräulein. Er sendet diesen Brief und diese Arznei.« – »Er sendet es; er kommt nicht selbst zurück?« fragte sie erstaunt. – »Ja. Er kann nicht kommen.« – »Warum nicht?« – »Weil soeben die Jacht in See geht. Hören Sie den Schuß?«

In diesem Augenblick ertönte ein Kanonenschuß. Flora eilte an das Fenster, von dem aus man die Bucht überblicken konnte. Sie sah die Jacht, die die Anker gelichtet hatte und sich von der Küste löste. Auf dem Hinterdeck stand Sternau und schwang sein weißes Tuch, um einen Mann verabschiedend zu grüßen, der am Ufer stand und dasselbe Zeichen gab. Dieser Mann war Otto von Rodenstein. Sie hätte hinauseilen mögen, um die Jacht zurückzurufen, wenn das nicht auffällig gewesen wäre. Es war ihr, als sei ihr plötzlich ein Leid getan worden, als habe ihr jemand einen Stich ins Herz versetzt.

»Geht sie wirklich in See?« fragte da der Herzog. – »Ja, Papa«, antwortete sie. »Er hat nicht länger bleiben können und es uns nicht gesagt, um sich unserem Dank zu entziehen.« – »Mein Gott, ich hatte meine ganze Hoffnung auf ihn gesetzt!« – »Er wird die Hoffnung nicht täuschen. Wir müssen sehen, was in seinem Brief steht.«


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