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23. Kapitel.

Flora gab dem Schiffer das Zeichen, daß er sich zurückziehen könne, und öffnete das große Kuvert, das sich sehr inhaltsreich anfühlte. Es enthielt das versprochene Rezept, zwei versiegelte Briefe und eine offene Zuschrift Sternaus, die folgendermaßen lautete:

»Verzeihen Sie, daß ich Ihnen nicht von der Notwendigkeit meiner Abreise sprach! Es gibt Verhältnisse, die mir nicht gestatten, eine Minute zu verlieren. Als ich bei Ihnen war, wurde bereits der Kessel meiner Jacht geheizt, und ich sah die Notwendigkeit ein, Ihnen die Aufregung und Anstrengung eines mündlichen Abschieds zu ersparen. Sie dürfen aber trotzdem an der Zuversicht festhalten, daß Ihre Gesundheit zurückkehren wird. Nehmen Sie den Inhalt der beifolgenden Flasche so, wie ich es Ihnen gesagt habe, und Sie werden in einer Woche ihre Reise antreten können. In Paris und in Straßburg werden Sie ausruhen und dann über Mannheim nach Mainz gehen, wo man Sie leicht nach Rheinswalden weisen kann. Dort wird man Sie infolge der beiden beiliegenden Briefe mit offenen Armen aufnehmen.

Sobald Sie sich dort ausgeruht und eingerichtet haben, lassen Sie sich nach dem beifolgenden Rezept das Mittel bereiten, das Sie vollständig herstellen wird. Alle Ihre weiteren Fragen kann mein Freund, Herr Otto von Rodenstein, Ihnen beantworten, dem ich soeben die ausführlichsten Instruktionen gegeben habe, und der infolge Ihrer freundlichen Einladung Ihnen morgen seine Aufwartung machen wird.«

*

Der Schluß des Briefes enthielt die gewöhnlichen Höflichkeitsphrasen und die dringende Bitte Sternaus, seinen Anordnungen Folge zu leisten.

»Ich atme wieder auf!« gestand der Herzog. »Diese Worte geben mir meine Zuversicht wieder, und ich werde alles tun, was er anbefohlen hat. Dieser Sternau ist nicht nur ein außerordentlicher, sondern auch ein edler Mensch. Er bietet uns eine Gastfreundschaft ohne zu wissen, wer wir sind, und ich werde dieselbe schon deshalb akzeptieren, weil mir auf diese Weise die sichere Gelegenheit geboten wird, die Dankbarkeit, die ich ihm schuldig bin, wenigstens den Seinen zu erweisen. Wie sind die Briefe adressiert mein Kind?« – »Der eine an Frau Sternau und der andere an den Oberförster, Hauptmann von Rodenstein in Rheinswalden. Ah, welche Überraschung!« – »Was, Flora?« – »Dieser Hauptmann von Rodenstein ist ja – der Vater Ottos!« – »Wirklich?« fragte er überrascht. »Sollte dies auch ein Fingerzeig sein, meine Tochter? Wir werden also den Vater deines Geliebten kennenlernen und imstande sein, den inneren Wert dieses letzteren beurteilen zu können.« – »Oh, mein Vater, über diesen Wert gibt es bei mir keinen Zweifel. Du wirst ihn achten und lieben, sobald du ihn kennenlernst.« – »Ich hoffe das um deinetwillen. Aber bitte, gib mir einmal von der Medizin!«

Flora öffnete die Flasche und reichte ihrem Vater die vorgeschriebene Dosis, die eine wunderbare Wirkung hatte, denn er fiel bereits nach einigen Minuten in einen Schlaf, dem man anmerkte, daß er erquickend sei, denn es lagerte sich über das Gesicht des Kranken ein ruhiges, glückliches Lächeln; seine schwache Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Zügen, und sein Atem ging leise und gleichmäßig wie in den Tagen seiner Kraft und Gesundheit.

Dieser Schlaf dauerte sehr lange, fast bis zum Abend, und als der Herzog dann erwachte, fühlte er sich so gestärkt, daß er vermeinte, aufstehen und im Zimmer herumspazieren zu können. Doch blieb er auf seinem Ruhebett liegen und nahm vor Freude über die Wirkung des Mittels eine abermalige Dosis desselben. Der darauf folgende Schlaf dauerte bis zum Morgen, und als Flora eintrat, dem Vater den Morgenkuß zu bringen, fand sie ihn – angekleidet auf einem Stuhl sitzen. Er hatte alle Vorstellungen des besorgten Dieners siegreich bekämpft.

»Mein Gott, Papa, was tust du?« rief sie. – »Komme her, mein Kind, und umarme mich!« antwortete er mit seligem Lächeln. »Ich fühle, daß ich gerettet werde. Dieser Sternau ist wirklich ein von Gott begnadeter Arzt, und ich kann ihn mit allen meinen Reichtümern nicht bezahlen. Ich bin wie neu geboren; meine Muskeln spannen sich, und meine Beine zitterten nicht, als ich das Lager verließ. Sobald die Sonne wärmer scheint, werde ich mich nach der Bank vor dem Haus führen lassen.« – »Du wagst viel, Papa!« wandte sie ein. – »Nein, mein Kind. Die wenigen Schritte werden mich nicht anstrengen; ich fühle es. Dieser Sternau hat mich durch seinen bloßen Anblick gestärkt, und seine Medizin wird seine Weissagung zur Wahrheit machen.« – »Papa, hast du nicht bemerkt, wie ähnlich er mir sieht?« – »Ja, ich habe es mit Staunen gesehen. Gerade wie er war ich in meiner Jugend. Die Natur gefällt sich oft in einer frappanten Wiederholung ihrer Formen. Es war mir, als ob ich mich selbst vor mir stehen sähe, als er sich bei uns befand. Auch meine Stimme, meine Bewegungen waren ganz dieselben. Aber siehe, da kommen die Sonnenstrahlen. Rufe den Diener, damit er mich zur Bank führe.«

Flora versuchte es, den Vater von der Ausführung dieser Absicht zurückzuhalten, aber er behauptete, stark genug zu sein, und so mußte sie sich in seinen Willen fügen. Einige Minuten später ruhte er, in einen weichen, warmen Negligérock gehüllt, draußen auf der Bank und ließ seine Blicke mit der Wonne eines Genesenden über die lichtüberflutete Landschaft und über die glänzende See gleiten, die sich seit vorgestern wieder beruhigt hatte.

Flora saß bei ihm, hatte seine Hand in der ihrigen und schaute freundlich in sein Angesicht, dessen tödliche Blässe gewichen war, um einer leichten Röte der wiedererwachenden Gesundheit Platz zu machen. Sie war in diesem Augenblick von heißem Dank erfüllt für den Retter ihres Vaters, sie gab sich ganz dem Eindruck hin, den Sternau auf sie gemacht hatte, und ohne daß sie es wollte, entfuhren ihr infolge ihres Gedankengangs die halblauten Worte:

»Oh, ich liebe ihn sehr!«

Der Herzog wandte schnell den Kopf zu ihr und sagte lächelnd:

»Ah, du denkst an den Geliebten!« – »Nein, Papa«, antwortete sie errötend. »Ich dachte an einen ganz andern.« – »Darf ich wissen, an wen?« – »Ja, an Sternau.«

Er nickte mit dem Kopf.

»Wie sonderbar! Auch ich dachte an ihn. Er kam zu uns wie ein Engel, der Glück und Freude bringt; auch ich möchte rufen: Ich liebe ihn! Er ist vor meinen Augen, und ich kann den Blick nicht von ihm wenden. Alle sehen auf ihn und sind ruhig, denn sie wissen, daß sie ihm vertrauen können.«

Sie versanken wieder in jenes Schweigen, das dem Glück eigen ist, bis der Herzog einmal nach dem Weg sah, der von der Stadt herabführte. Er erhob schnell den Kopf, blickte schärfer hin und erbleichte.

»Was ist dir, Vater?« fragte Flora.

Sie hatte gefühlt, daß seine Finger wie unter einem tiefen Schreck in ihrer Hand zuckten.

»Schau da hinauf!« antwortete er.

Ihr Auge folgte der angegebenen Richtung.

»Eine Zigeunerin!« – »Warum erschrickst du da so sehr?« – »Oh, Madonna! Das ist Zarba, das fürchterliche Weib!«

Nun erschrak auch Flora. Sie faßte die Alte scharf in das Auge und fragte:

»Irrst du dich nicht vielleicht?« – »Nein, sie ist es, sie ist es sicher und gewiß! Dieser Teufel ist mir nachgefolgt, um mich zu quälen. Sie muß allwissend sein, sonst könnte sie nicht ahnen, daß ich hier bin.« – »Fasse dich, mein Vater! Du hast mich an deiner Seite. Der Herzog von Olsunna darf nicht vor einer Vagabundin zittern. Sei ruhig; ich werde an deiner Stelle mit ihr sprechen.«

Es war wirklich Zarba. Dieses Weib war nicht allwissend. Es hatte nicht die mindeste Ahnung, daß sich der Herzog in Avranches befand. Es war aus einer ganz anderen Ursache gekommen. Es wollte Gabrillon, den Leuchtturmwärter, besuchen, der der Hüter eines seiner Geheimnisse war.

Zarba kam langsam des Weges daher, der an der Fischerhütte vorüberführte. Da fiel ihr Blick auf die beiden vor der Tür Sitzenden, und unwillkürlich stockte ihr Fuß. Sie erkannte den Herzog und seine Tochter. Ein Zug der Freude und Genugtuung blitzte über ihr faltenreiches Gesicht, und ohne sich lange zu besinnen, lenkte sie ihre Schritte nach dem Haus. Dort angekommen, nahm sie eine demütige Haltung an, streckte die Hand aus und sagte zu Flora:

»Eine kleine Gabe für eine arme Zingaritta, meine schöne, schlanke Dame!«

Flora griff in die Tasche und gab ihr ein Fünffrankenstück.

»Hier, Alte«, sagte sie. »Du erhältst es gern!«

Ihre Miene zeigte nicht im geringsten, daß sie die Zigeunerin kenne, ihr Vater aber hatte sich mit halb geschlossenen Augen zurückgelehnt und gab sich alle Mühe, gleichgültig zu erscheinen.

»Ich danke«, erwiderte Zarba, indem sie das Geld einsteckte. »Soll ich Ihnen vielleicht wahrsagen, schöne Dame?« – »Nein«, antwortete Flora mit einer abwehrenden Handbewegung. – »Nicht? Warum nicht? Ich bin Zarba, die Königin der Gitanos. Ich kann in die Vergangenheit sehen und in die Zukunft. Geben Sie mir immerhin Ihre Hand.« – »Schon gut, schon gut«, wehrte Flora ab. »Was vergangen ist, weiß ich, und was die Zukunft betrifft, gelüstet mich nicht, vorher zu erfahren!« – »Wie stolz!« grinste die Zigeunerin. »Aber vielleicht beliebt es diesem Herrn, sich wahrsagen zu lassen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff sie die Hand des Kranken und hielt sie so fest, daß er sie ihr nicht wieder zu entziehen vermochte. Dann tat sie, als studiere sie die Linien dieser Hand, und sagte:

»Was sehe ich! Eine düstere Vergangenheit, ein Leben voll Untreue, Falschheit und Betrug, ein Leben ...« – »Halt!« sagte da Flora mit strenger Stimme. »Schweig, Alte! Deine Gaukeleien sind hier am unrechten Platz!« – »Gaukeleien?« fragte Zarba höhnisch. »Was ich sage, daß steht in diesen Linien geschrieben, ich sehe und lese es deutlich.« – »Lies, was du willst, aber wir wollen es nicht hören.« – »Oh, wenn die schöne Dame es hören wollte, so würde sie erstaunen darüber.« – »Über deine Zudringlichkeit und Frechheit, Alte!« unterbrach sie Flora. »Ich kenne dich und weiß alles, was du beabsichtigst.« – »Sie wissen es? O sicherlich nicht!« antwortete Zarba. »Ich las aus dieser Hand das Dasein eines Bruders, der nicht aufzufinden ist. Ja, holde Dame, die Freche, die Zudringliche sagt Ihnen, was für einen Vater Sie haben. Der Fluch folgt jedem seiner Schritte, denn er hat ...« – »Genug!« gebot Flora. »Bei mir findet deine Rachsucht keinen fruchtbaren Boden. Du willst mein Herz von dem des Vaters trennen, du willst durch dein Erscheinen ihn in Krankheit und Tod treiben, du verbirgst den Sohn, damit der Vater vor Sehnsucht nach ihm vergehe. Du bist ein Ungeheuer! Wer nicht vergeben kann, der ist ein Teufel. Pack dich fort, Alte! Du hast über niemanden zu richten, sondern du wirst selbst gerichtet werden!«

Flora stand nicht etwa mit zornblitzenden Augen vor der Zigeunerin, sondern sprach diese Worte mit jener gleichgültigen Kälte des Tones und jener stolzen Unbeweglichkeit der Mienen, die mehr verletzt als der lauteste Zorn. Und als die Zigeunerin sich nicht entfernte, wandte sie sich nach der Tür, unter der infolge der heftigen Worte Zarbas der Diener erschienen war, und befahl diesem:

»Fort mit dem Weib!«

Diese mit einer gebieterischen Handbewegung begleiteten Worte befolgte der Diener, indem er ohne Verzug die Alte beim Arm faßte und fortführte. Sie sträubte sich nicht dagegen, aber sie wandte sich noch einmal um und rief unter schadenfrohem Lachen:

»Und Ihr werdet ihn niemals finden, den Herzogssohn, nie, nie, niemals! Das ist meine Rache!«

Der Herzog lehnte schwach und angegriffen auf seinem Sitz. Das Zusammentreffen mit dem rachsüchtigen Weib hatte ihn tief erschüttert.

»Oh, sie ist eine Furie!« seufzte er. »Wirst du klug getan haben, sie zu erzürnen, meine Tochter?«

Flora schüttelte den Kopf und antwortete:

»Du hast diesem Weib gegenüber einen falschen Weg eingeschlagen, mein Vater. Kein Mensch hat das Recht, die Bestrafung einer Tat selbst in die Hand zu nehmen, dazu sind die Gesetze und die Richter da. Was sie dir vorzuwerfen hat, ist ja nicht mehr vor das Forum irgendeiner Gerichtsbarkeit gehörig. Deine Richter sind dein Gewissen und die Mutter deines Sohnes.« – »Aber Zarba weiß, wo er sich befindet. Ich glaubte immer, sie durch ein freundliches Verhalten zu bestimmen, mir seinen Aufenthalt mitzuteilen.« – »Du siehst ja, was diese Freundlichkeit gefruchtet hat, sie ist von der Zigeunerin für Schwäche gehalten worden. Soll dieses Weib dich, den Herzog von Olsunna, beherrschen? Soll es deinen Stolz demütigen, dein Selbstbewußtsein zertreten, dein Gemüt verfinstern und deine Gesundheit zerstören? Nein, mein Vater! Seit du mir den Grund deines Kummers mitgeteilt hast, habe ich die heilige Pflicht, deine Seele von ihm zu befreien. Gott ist allgütig; er wird uns den Weg finden lassen, der zu deinem Sohn, meinem Bruder, führt. Und wenn alles andere nutzlos wäre, so wende ich mich an die Behörde und lasse die Zigeunerin festnehmen. Man wird sie zu zwingen wissen, den Aufenthalt des Gesuchten anzugeben.«

Da leuchtete das Auge des Kranken freudig auf.

»Welch ein guter Gedanke!« sagte er. »Deine Entschlossenheit gibt mir neue Hoffnung, wie mir dieser Arzt Sternau neues Leben gegeben hat. Gott scheint deinen Vorschlag zu billigen, da er die Zigeunerin hierhergeführt hat. Laß uns überlegen, wie wir zu handeln haben, ehe sie verschwindet.« – »Das wird in diesem Augenblick nicht möglich sein, denn siehe, dort kommt der Besuch, den wir erwarten.«

Der Kranke blickte nach dem Weg, der von der Stadt nach dem Hafen führte, und sah einen Herrn langsam daherkommen. Flora ging demselben entgegen. Es war Otto von Rodenstein.


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