Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel

Der »Grand I« war erst vor einigen Monaten eröffnet worden und schon fragte sich Adeline, wie er während so vieler Jahre in Paris anderswo als in einem Klub habe leben können.

Sie waren so lang, so leer, so zum Sterben langweilig für ihn gewesen, die Abende, welche er damit zubrachte, in seiner kleinen Wohnung in der Rue Tronchet hin und her zu wandeln, oder melancholisch ganz allein um die Madeleine-Kirche herum zu spazieren, vom Boulevard nach dem Bahnhof Saint Lazare und vom Bahnhofe nach dem Boulevard, bis es Schlafenszeit war. Wie oft, wenn er das Pfeifen der Lokomotive hörte, fühlte er sich versucht, die Treppe zur Rouener Linie hinaufzusteigen und sich in den Waggon zu setzen, welcher ihn nach Elbeuf entführt hätte. Er würde zwar in der nächsten Sitzung fehlen, nun, was lag daran, er würde sich doch wenigstens bei den Seinen befinden, er würde seine Tochter bei ihrem Erwachen umarmen; welche Freude in dem alten Hause in der Glayeulgasse! Dort fand er Freiheit, Heiterkeit, Ruhe; Paris war nur ein Gefängnis, wo er seine Zeit abbüßte, und diese Zeit war so hart, so trübe, daß er mehrmals daran gedacht hatte, sich von der Politik zurückzuziehen, um ruhig in Elbeuf bei seiner Familie und seinen Freunden zu leben. Während der Woche wollte er seine Fabrik überwachen, Sonntags seine Rosen in Thuit beschneiden: sein Geist würde Nahrung haben, sein Herz würde von Zuneigung und Zärtlichkeit erfüllt und umgeben sein, wie es ihm Bedürfnis war.

Aber mit dem Tage der Eröffnung des »Grand I« hatte sich das einförmige Dasein des in Paris verlorenen Provinzialen geändert: keine trostlos leeren Abende mehr, keine melancholischen Diners mehr im tête à tête mit seinem Glase, wie sie gerade seine Gänge und Geschäfte mit sich brachten; er hatte ein Heim, ein warmes, ausgefüttertes, üppig hergerichtetes, vergnügliches Nest – seinen Klub, wo alle Hände sich ausstreckten, um die seinigen zu schütteln, wo das zuvorkommendste Lächeln ihn beim Eintritt empfing, wo er für alle »der Herr Präsident« war.

An seiner Tafel, die sich so vorteilhaft von derjenigen der mittelmäßigen Restaurants unterschied, welche er bisher mit der weisen Sparsamkeit eines Provinzialen besucht hatte, war er der wahre Hausherr, man hörte auf ihn, man zog ihn zu Rate, man behandelte ihn mit einer Ehrerbietung, welche ihm in den ersten Tagen ein wenig unbequem war, an die er sich aber bald so sehr gewöhnte, daß er nicht allein für die Diener, die sich beeilten, ihm Ueberzieher und Hut abzunehmen, sondern auch in seinen eignen Augen »der Herr Präsident« war. Er glaubte an seinen Titel, nahm ihn ernst, bildete sich ein, daß er es wirklich sei. Präsident! und wäre man's nur von einer Gesellschaft armer Teufel, man ist immer der »Herr Präsident« in den Augen von irgend jemand und folglich auch in seinen eignen.

Aber noch viel mehr als die Genugthuung, die seiner Eitelkeit zu teil wurde, hatte das Wohlwollen, das er für seinen Klub empfand, ihm denselben wert gemacht. Wenn er aus der Kammer kam, war er nicht mehr allein auf dem Pariser Pflaster, wie er es so lange gewesen war; er blieb nicht mehr auf der Brücke de la Concorde stehen, um dem Laufe des Wassers zuzusehen, während er überlegte, nach welcher Seite er gehen solle, rechts, links, ohne Ziel, aufs Geratewohl, hierhin oder dorthin.

Jetzt ging er selten allein aus der Kammer, fast allabendlich begleitete ihn Bunou-Bunou, eine mit Papieren vollgepfropfte Mappe schleppend, und regelmäßig Herr von Cheylus, welcher, nachdem er von Raphaëlla am selben Tage, an dem sie seiner nicht mehr bedurfte, vor die Thüre gesetzt worden, glücklich war, im Klub ein gutes Diner zu finden, das ihn nichts kostete – »die Schmiere.«

Auch andre Kollegen schlossen sich manchmal an, sei es, daß sie der Präsident, oder daß sie sich selbst eingeladen hatten, wenn sie die Lust verspürten, sich ein bessres und billigeres Diner als in irgend einem beliebigen Restaurant zu leisten.

»Ich werde mit Ihnen dinieren.«

Ein ganzer Trupp ging zusammen, und freundschaftlich plaudernd gelangte man bei schönem Wetter durch die Tuilerien, bei Regen durch die Rue Rivoli zur Avenue de l'Opéra. Sobald der in der Vorhalle dienstthuende Lakai durch die Fenster der Flügelthüren gesehen hatte, wer kam, beeilte er sich, mit tiefer Verbeugung zu öffnen, und Adeline ließ dann die von ihm Eingeladenen die große, zu jeder Zeit mit Blumen geschmückte Treppe hinaus vorausgehen. Wenn irgend wer aus Rücksicht auf das Alter oder aus einem andern Grunde ihm den Vortritt lassen wollte, ließ er es niemals zu.

»Gehen Sie doch zu, bitte, ich bin hier zu Hause«

Bei sich empfing er seine Freunde; es waren seine Diener, welche den von ihm Eingeladenen auf dem Vorplatze sich dienstbeflissen zeigten, ihm gehörten diese hohen prächtigen Spiegelscheiben, diese Gemälde, welche berühmte Namen trugen.

Unter diesen vergoldeten Gesimsen, auf diesen reichen Teppichen hinzuschreiten, in den mit Raffinement ausgeklügelten Sesseln sich zu dehnen, nur eines Winks zu bedürfen, um verstanden und bedient zu werden – das angenehme und komfortable Leben war ihm rasch Bedürfnis geworden, dies Leben, welches auf gewisse Stammgäste der Klubs eine so mächtige Anziehung ausübt, daß sie sich nirgends, als in ihrem Klub behaglich fühlen. Und für ihn war diese Anziehungskraft eine um so stärkere gewesen, als er stets inmitten einer patriarchalischen Einfachheit gelebt hatte. In Elbeuf gab es keine Teppiche, keine hohen Spiegelscheiben und Diener, denen eine leise Andeutung genügte.

Was er aber überhaupt nie in Elbeuf gehabt, und was er in seinem Klub gefunden hatte, das war die leichte und gefällige Unterhaltung bei »seinen« Diners, bei welchen er in einer Stunde das Pariser Leben von seiner Kehrseite, mit seinen Skandalen, seinen amüsanten und tragischen Geschichten, seinen Tollheiten und seinen Schmerzen kennen lernte. Obgleich er an die wichtigthuenden und schwerfälligen Gespräche der Provinz gewöhnt war, welche sich im Grunde genommen um nichts drehen, so liebte er doch einen feinen Scherz und ein witziges Wort, und wenn er, was übrigens häufig vorkam, an seinem Tische geistreiche Leute mit spitziger Zunge oder von bissiger Natur sitzen hatte, welche ebenso geschickt erfanden, was sie nicht wußten, als gut vortrugen, was sie nacherzählten, so war es für ihn ein Genuß, ihnen zuzuhören. Heute der, morgen jener, alle kamen und gaben bei ihm ihre Vorstellungen, ohne daß er sich zu bemühen nötig hatte; er brauchte ihnen nur zuzulächeln, ihnen Beifall zu spenden, was er übrigens in der liebenswürdigsten und wohlwollendsten Weise that.

Da ihm die Natur zu einem erkenntlichen Sinne gleichzeitig Gerechtigkeitsgefühl verliehen hatte, so konnte er dieses behagliche Dasein nicht führen, ohne sich einzugestehen, daß Friedrich es war, dem er es verdankte.

Ein vortrefflicher Mann, der Vicomte. Er hatte in ihm den eifrigsten und gleichzeitig bescheidensten Mitarbeiter gefunden, zwei Eigenschaften, die in der Regel einander ausschließen. Obgleich Friedrich alles überwachte, obgleich er alles besorgte und kaum je den Klub verließ, drängte er sich doch niemals vor. Maurin, der dem Namen nach immerhin noch als Geschäftsführer galt, zählte allerdings nicht mit; aber worauf es Adeline ankam, war, daß es sich bei ihm, dem Präsidenten, nicht ebenso verhielt. Das kam daher, daß die finanzielle Leitung nicht in die innere Direktion eingriff, und nach einer Amtsführung von zehn Monaten fühlte er, daß er die Zügel der Oberleitung noch ebenso fest in den Händen hielt, als am Tage der Uebernahme des Präsidiums.

Bezüglich der Aufnahmen waren er und sein Komitee ausschließlich maßgebend geblieben und niemals hatte der Geschäftsführer versucht, sie zur Aufnahme zweifelhafter Mitglieder zu bewegen, wie dies in so vielen Klubs vorkommt, wo der Wunsch, das Spiel flott in Gang zu bringen, alle Rücksichten schwinden läßt. Das würde sich auch beim »Grand J« ereignen, hatte man ihm wohlmeinend prophezeit und man hatte ihm den Rat gegeben, in dieser Beziehung die Augen offen zu halten. Aber jene Klubs hatten als Geschäftsführer einen wirklichen Maurin, nicht einen Vicomte von Mussidan!

Andrerseits waren weder ihm noch seinem Komitee jemals Klagen zu Ohren gekommen, oder selbst nur Beschwerden zugegangen; mit solcher Regelmäßigkeit arbeitete die Verwaltungsmaschinerie.

Es war doch das Muster eines Klubs, wie es der Vicomte in ihren abendlichen Unterhaltungen auf den Boulevards entwickelt hatte, und welches sie, dank der strengen Ueberwachung hatten zu stände bringen können.

»Wo zum Teufel hat er die Kunst der Verwaltung gelernt?« fragte Adeline zuweilen, wenn er den Komiteemitgliedern dessen Lob sang.

Herr von Cheylus, der sich stellte, als wisse er nichts von den Beziehungen, die Raphaëlla an Friedrich banden, und von dem Anteile, den dieser an seiner Vertreibung genommen, erwiderte darauf, daß man nur dazu Geschick zeige, was man nicht gelernt habe. Aber diese Antwort begleitete er mit einem spöttischen Lächeln, welches seine Worte Lügen strafte. Von jedem andern hätte dies rätselhafte Lächeln Adeline beunruhigt, bei Herrn von Cheylus hatte es keine Bedeutung, es war lediglich die Rache eines Besiegten.

Und wenn Herr von Cheylus nicht da war, lachte Adeline mit den andern Komiteemitgliedern über diese kleine Verräterei.

»Er ergreift nicht seine Partei, der Graf.«

»Natürlich! Er weiß warum!«

»Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber es scheint mir, daß ich an Stelle des Herrn von Cheylus, anstatt dem Vicomte gram zu sein, ihm Dank wüßte. Vielleicht finden Sie, daß das, was ich da sage, naiv klingt, aber ich versichere Sie, daß es tiefen Sinn hat.«

Indessen hatte Adeline angesichts dieses beständigen Lächelns des Herrn von Cheylus, aber mehr um sein Gewissen zu beruhigen als aus Neugierde, zu erfahren gesucht, was dahinter stecke; allein vergeblich. Herr von Cheylus hatte auf die angelegentlichen Fragen nichts erwidert, er hatte nichts weiter sagen wollen, als was er gesagt hatte, er wußte nichts weiter über jenen jungen Mann, als was jedermann wußte.

Hätte Adeline den leisesten Verdacht gegen Friedrich gehabt, so wäre er in seinen Nachforschungen über dieses Lächeln und über dies unbestimmte Gerede weiter gegangen; aber wie konnte er Verdacht hegen, da er jeden Tag den neuen Beweis vor Augen sah, daß der »Grand I« das Muster eines Klubs war?

Bekanntlich bringt die Sommerszeit eine Verödung der Klubs wie der Theater mit sich; mit der Hitze schläft das Pariser Leben und Treiben ein, man ist in Trouville, in Dieppe, bei den Rennen oder in der Sommerfrische; später wird gejagt: man besucht seinen Klub nicht mehr, und je vornehmer der Klub, desto verwaister seitens seiner Mitglieder. Indessen bleiben nicht alle Mitglieder fünf bis sechs Monate fort, ohne in der Zwischenzeit nach Paris zu kommen, und diejenigen, welche nicht aus irgend einem besondern Grunde, sei es aus Neigung, sei es wegen Geschäften dahin zurückkehren, reisen wenigstens durch, wenn sie aus dem Norden nach dem Süden, oder aus dem Osten nach dem Westen wollen. Wo sollen sie die Abende zubringen? Im Theater? Die sind geschlossen. Im Klub? Gespielt wird nicht, weil es an Spielern fehlt. Könnte man denn nicht ein Jeuchen machen? Es ist lange her, daß man nicht mehr gespielt hat; die Finger jucken einen danach. Wenn man dann von einem Klub sprechen hört, wo das Spiel noch ein bißchen im Zuge ist, läuft man hin; was liegt daran, daß er zweiten oder dritten Ranges ist, da man ihn nur gelegentlich einmal besucht? Zwei Bekannte führen einen ein und man setzt sich an den Baccarattisch.

So kam es, daß während der guten Jahreszeit, als die andern Klubs leer standen, Adeline die Genugthuung hatte, die bekanntesten Mitglieder der großen Klubs in den »Grand I« kommen zu sehen. Friedrich verfehlte nicht, dies hervorzuheben, ohne indessen mehr Wert als nötig darauf zu legen.

»Sie sehen, wie sie zu uns kommen.«

Adeline war geblendet von den Namen der Herzöge, der Prinzen, der Marquis, die von den Lippen seines Geschäftsführers flössen, und wenn er nach Elbeuf ging, verfehlte er nicht, sie seiner Frau zu wiederholen.

»Du siehst, wie man zu uns kommt; wir sind ein Mittelpunkt, ein neutrales Terrain, dasjenige der Verschmelzung, das Bindeglied zwischen dem Frankreich, das arbeitet, und dem Frankreich, das sich amüsiert, zwischen dem republikanischen Bürgertum und der vornehmen Welt.«

Aber das beruhigte Frau Adeline nicht. Dagegen sah sie sehr klar, daß ihr Gemahl seltener nach Elbeuf kam, daß er sich, wenn er zu Hause war, nicht mehr so empfänglich für die Freuden des häuslichen Herdes zeigte, seine Dienerschaft anfuhr, mit der Küche unzufrieden war, über sein altes Mobiliar die Nase rümpfte, das ihm seit vierzig Jahren zum erstenmal nicht mehr gut genug und lächerlich vorkam.


 << zurück weiter >>