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Sechstes Kapitel

Die Mama, noch wenige Minuten vorher so aufgeregt, hatte ihrem Sohne die Hand hingestreckt, und hielt nun, nachdem er sich zu ihr gesetzt, die dargereichte fest. »Mein armer Junge!« wiederholte sie, »mein armer Junge!«

»Du hast ganz recht, wenn du dich beklagst,« sagte er, nachdem er sich durch einen raschen Blick mit seiner Frau verständigt hatte, »es ist wahr, wir haben dir die Wahrheit verheimlicht.«

»Ah! Und warum? Gab es eine bessre Vertraute, einen andern Rückhalt, als deine Mutter?«

»Ich wollte dich nicht betrüben, dich nicht beunruhigen. Du hast Ruhe und Erholung nötig und du gerätst nur zu leicht in fieberhafte Aufregung. Welchen Zweck konnte es haben, dich wegen der Ungelegenheiten, die, wie es schien, nur von kurzer Dauer sein sollten, in Angst und Sorge zu versetzen?«

»Wenn ich auch alt bin, so bin ich doch nicht kindisch. Ich habe es nicht verdient, daß du so ungerechterweise mir diesen Kummer machst, dich mir zu entfremden! Ich begreife nicht, daß dir ein solcher Gedanke kommen konnte.«

Frau Adeline hatte das Prinzip, niemals zwischen ihrem Manne und ihrer Schwiegermutter zu vermitteln; freilich unter der Bedingung, daß man sie selbst direkt und indirekt aus dem Spiele ließ. In diesen letzten Worten fand sie aber eine Anspielung, als wenn sie einen Einfluß ausgeübt hätte, und sie wollte dies nicht ohne eine Bemerkung ihrerseits hingehen lassen.

»Erlauben Sie mir, Mama, Ihnen zu bemerken, daß es für uns nicht leicht war, über die mißliche Lage Klage zu führen, ohne den Anschein zu erwecken, als wollten wir die Verantwortlichkeit für die Situation bis zu dem Zeitpunkte zurückdatieren, wo wir die übermäßige Anstrengung machten, um Ihnen Ihren Anteil zurückzuzahlen; denn von jenem Augenblicke an gerade begannen die Verlegenheiten für uns. Wir hatten auf gute Jahre gerechnet, schlechte sind gekommen. Konnten wir bei jedem Verluste, bei jedem Rechnungsabschlusse Ihnen sagen: ›So steht es!‹ Wäre das taktvoll und zartfühlend gewesen? Weder Constant noch ich haben daran gedacht, ich habe ihn nicht mehr beeinflußt, als er mich. Das geschah wie durch eine zwischen uns getroffene stillschweigende Vereinbarung. Uebrigens dachte ich wie er, daß es wirklich nicht der Mühe wert sei, Sie in Unruhe zu versetzen wegen Verlegenheiten, welche nach unser beider Ansicht nicht lange andauern konnten.«

»Und wann seid ihr inne geworden, daß sie andauerten?«

»Da war es zu spät, um Ihnen einen so schweren Schlag zu versetzen.«

»Um es kurz zu machen, welcher Art sind sie denn?«

Auf einen Wink seiner Frau fuhr Adeline selbst fort: »Ein Wort wird es dir erklären: du hast die fünfzigtausend Franken gesehen, welche ich bei meiner Ankunft Hortense gab; woher glaubst du, daß sie kommen?«

»Von einem Bankier?«

»Von einem Freunde. Der Ausdruck Freund ist sogar noch etwas zu stark. Thatsächlich von einem einfachen Bekannten, an welchen ich niemals gedacht hätte mich zu wenden, der mir entgegengekommen ist und mich fast gezwungen hat, das Darlehen anzunehmen.«

Seine Frau blickte ihn dermaßen erstaunt an, daß er sich veranlaßt sah, sie sofort zu beruhigen.

»Es ist der Vicomte von Mussidan, von dem ich dir erzählte, welchen ich jedesmal treffe, wenn ich zu meinem Kollegen, dem Grafen von Cheylus gehe, ein feiner, scharmanter, gewandter Mensch. Ich dinierte gestern bei Herrn von Cheylus und der Vicomte von Mussidan war wie gewöhnlich da. Man sprach kaum von etwas anderm, als von dem Fallissement der Bouteilliers, welche in der Pariser Gesellschaft die gleiche Stellung einnahmen, wie im Geschäftsleben. Ohne einzugestehen, welche Verlegenheit mir dasselbe bereite, habe ich doch nicht verschwiegen, daß es für uns ein empfindlicher Schlag war und so ungelegen wie möglich kam. Als ich wegging, begleitete mich Herr von Mussidan, wir haben von den Bouteilliers des langen und breiten geplaudert; in der artigsten Weise hat er sich mir zur Verfügung gestellt und mich aufgefordert, ihn als Freund zu betrachten, er werde sich glücklich schätzen, mich zu verbinden; kurz er sagte alles, was ein liebenswürdiger Mensch sagen kann. Ich habe ihm gedankt, aber natürlich abgelehnt. Heute morgen kam er zu mir und hat seine Dienste von neuem so zu sagen aufgedrungen, so daß ich endlich seine fünfzigtausend Franken angenommen habe; er wäre wirklich böse geworden, wenn ich auf meiner Weigerung bestanden hätte.«

»Das ist recht merkwürdig,« sagte die Mama.

»Das wäre merkwürdig von seiten eines jeden andern, ist es aber durchaus nicht von ihm. Er ist, ich wiederhole es euch, der scharmanteste Mensch, dem ich noch begegnete, und wenn ich auch nicht sein Freund bin, so glaube ich doch sagen zu dürfen, daß er der meinige ist. Niemals hat mir jemand so viel Zuneigung bewiesen; wenn er Bertha kennte, so würde ich glauben, er habe die Absicht, mein Schwiegersohn zu werden.«

»Vielleicht will er ganz einfach der des Hauses Adeline sein,« sagte die Mama.

»Ich glaube nicht, daß das Haus Adeline viel zu bedeuten hat bei einem so weltgewandten jungen Manne, der wie er in Kreisen verkehrt, in welchen man von dem Rufe eines Handlungshauses nicht viel Aufhebens macht. Wie dem nun aber auch sei, die Sache liegt einfach so: er hat mir die fünfzigtausend Franken geliehen und uns damit einen großen Dienst geleistet, für den wir ihm erkenntlich sein müssen.«

»Ist's so weit mit dir, mein armer Junge,« rief die Mama aus, »daß du keine fünfzigtausend Franken mehr auftreiben kannst?«

»Nein, Gott sei Dank, aber es ist doch so weit, daß ich demjenigen Dank weiß, welcher mir die Mühe erspart, sie aufzutreiben. Am Tage nach dem Bouteillierschen Krach, in welchen man uns verwickelt weiß, ist es wesentlich, daß in unsern Kreisen nicht die Ansicht Platz greife, als könnte ich plötzlich fünfzigtausend Franken nötig haben. Für unsern schon recht ins Wanken gekommenen Kredit wäre das schlimm. Das Darlehen dieses braven Menschen läßt uns Zeit, zu Atem zu kommen und einen Ausweg zu finden. Nicht wahr, Hortense?«

»Ganz gewiß, besonders wenn, wie du hoffst, die Bouteilliers ihre Zahlungen wieder aufnehmen.«

»Was hat übrigens,« fragte die Mama, »diese Situation herbeigeführt? Wie ist es dahin gekommen?«

»Ah! Wie? Wie?« sagte Adeline mit einem mutlosen Kopfschütteln.

»Es ist doch gewiß nichts gegen Hortense zu sagen,« fuhr die Mama fort, »sie verwaltet das Geschäft so gut wie möglich.«

»Wenn die Verwaltung allein das Gedeihen eines Hauses ausmachte, so stünden wir glänzend; unglücklicherweise genügt das nicht, es muß Direktion da sein, es sind glückliche Konjunkturen nötig, und die Direktion ist schlecht gewesen, wie die Konjunkturen seit einigen Jahren unheilvolle waren.«

»Die Direktion schlecht?« unterbrach die Mama; »aber du bist ja der Direktor.«

»Nun wohl, ich bin ein schlechter Direktor gewesen. Der Erfolg hat mich eingelullt, wie sich auch noch andre als ich in Elbeuf haben einlullen lassen. Wir befanden uns wohl, wir glaubten, wir brauchten bloß so fortzufahren uns wohl zu befinden, wir würden stets den Export in Händen haben und würden den Import aus dem Felde schlagen, weil wir ihm über wären. Aber in demselben Maße, in welchem das Ausland sein Handwerkszeug vervollkommnete, hat der Export abgenommen und die Einfuhr schlägt uns aus dem Felde, weil man in Frankreich das Neue und Originelle liebt und weil die Kommissionäre wie die Schneider ein Interesse daran haben, Stoffe, deren wahren Wert man nicht kennt, zu beliebigem Preise zu verkaufen. Im Bewußtsein unsrer Ueberlegenheit beharrten wir bei unsern Spezialitäten und anstatt mit Hilfe der Fachwissenschaften das Verständnis für Reformen und Rührigkeit herauszubilden, haben wir gottselig in der Vergangenheit dahingelebt, im Vertrauen auf unser ›Gewalktes‹, ohne zu merken, daß das ›Gewalkte‹ nicht ewig dauern könne. Die Mode will nichts mehr davon wissen, jetzt sind wir hintendran! Was hilft es, daß wir gute Ware fabrizieren, wenn man unser Fabrikat nicht haben will und wir es mit Schaden verkaufen? In dieser Hinsicht ist meine Direktion nichts wert gewesen. Stolz auf meine Ueberlegenheit habe ich wie ein Künstler gehandelt, nicht wie ein Kaufmann.«

»Du hast als ein Adeline gehandelt,« sagte die Mama.

»Vielleicht! Aber während ich ein Adeline der Vergangenheit war, waren andre Männer ihrer Zeit und hielten mit ihr Schritt, anstatt wie ich unthätig zu bleiben. Man hält uns oft Roubaix vor und manchmal mit Recht, insbesondre was seine Findigkeit in der Nachahmung und Vervollkommnung der Gewebe und in dem Anpassen seines Handwerkszeugs für Herstellung der Modeartikel anlangt. Hier ist die Quelle des Gedeihens seiner Industrie zu suchen. Die Geschmeidigkeit und der Unternehmungsgeist gerade haben es veranlaßt, die Lyoner Artikel in Möbelstoffen und leichter Seide zu fabrizieren, ebenso wie die Ware von Saint-Pierre-lès-Calais; und auf ihren mechanischen Webstühlen weben sie Spitzen und Kleiderzeuge aus Wolle und Schappe, buntes Rouener Baumwollzeug, Elsässer Kattune und englisches Tuch. Wenn morgen damit Geld zu verdienen ist, daß man Packtuch webt, wird Roubaix Packtuch weben und zwar ebenso gut als die teuren Stoffe. Von dem Tage an, an welchem die Mode sich dafür erklärte, die Damenkleider aus leichten, gemusterten Stoffen herzustellen, hat Roubaix leichte, gemusterte Stoffe fabriziert. Dann hat es den Engländern in den Nouveautés für Herrenkleider den Rang abgelaufen und hat sie besser und billiger als jene fabriziert. Auf diese Art und Weise ist es auch mit uns in Konkurrenz getreten, unterstützt durch die Schneider, welche Roubaixer Ware billiger kaufen als Elbeufer und sie als englische zu beliebigem Preise absetzen. Es gilt für gewöhnlich, sich in Elbeufer Tuch, für Schick, sich in englisches – aus Roubaix – zu kleiden. Einen Augenblick habe ich daran gedacht, denselben Weg einzuschlagen.«

»Ich habe dich oft genug darum gebeten,« unterbrach ihn Frau Adeline.

Die Mama warf ihrer Schwiegertochter, der sie mehr als einmal vorgehalten, daß sie eine schlechte Elbeuferin sei, einen unwilligen Blick zu.

»Es war Elbeuf gewiß ebensogut möglich wie Roubaix, die Modeartikel herzustellen und die Maschinenweberei einzuführen; außerdem gehört dieser allein unzweifelhaft die Zukunft. Aber welche Schwierigkeiten bietet die gegenwärtige Lage! Wo die Arbeiter hernehmen, die im stande sind, jene Webstühle zu handhaben? Wie sie von heute auf morgen auf dieses neue Verfahren einschulen? Wie es anfangen, daß sich ihr Gefühls- und Gesichtssinn derart verfeinert, um plötzlich statt unseres groben Fadens feinen Faden zu verarbeiten? Der mit der Hand getriebene Webstuhl macht fünfundzwanzig Schläge in der Minute, der mechanische Webstuhl sechzig bis siebzig. Um der Geschwindigkeit, mit welcher diese Webstühle arbeiten, nachzukommen, bedarf es flinker Hände und scharfer Augen, die unsre Arbeiter gegenwärtig nicht haben und die man sich nicht in einem Tage erwirbt.«

»Niemals wird man eine schöne Nouveauté mit den mechanischen Webstühlen herstellen,« beteuerte die Mama mit Ueberzeugung, »Roubaixer Ware, englische Ware vielleicht, aber Elbeufer nie.«

Ohne sich mit seiner Mutter über diesen Punkt auf eine weitere Erörterung einzulassen, was doch zwecklos gewesen wäre, fuhr er fort: »Noch ein andrer Grund hat mich zurückgehalten – die Geldanlage für die Einrichtung. Um eine jährliche Produktion im Betrage von drei Millionen zu ermöglichen, muß man über hundertzwanzig Webstühle, die die Aufträge ausführen, verfügen können. Das macht, jeden Webstuhl zu zweitausendfünfhundert Franken gerechnet, dreihunderttausend Franken. Immobilienkonto, Dampfmaschine und Hilfswerkzeug muß man zu zweihunderttausend Franken veranschlagen. Das Färben und Spinnen, was vorteilhafter auswärts besorgt wird, lasse ich dann wohlverstanden außer Ansatz, aber ich berechne die Geräte und Maschinen zur Wäscherei, Walkerei und Appretierung, und die kosten nicht weniger als zweihunderttausend Franken. So rechne ich also eine Summe von siebenhunderttausend Franken heraus. Die hatte ich nicht.«

Dies wurde leichthin und mit gedämpfter Stimme gesagt, als sei es nicht direkt an die Mama gerichtet. Und um ihr keine Zeit zum Ueberlegen zu lassen, fuhr er sogleich fort: »Endlich hat noch ein nicht minder wichtiger Grund andrer Art mich davon abgehalten. Was unsre Elbeufer Arbeit, die du, Mama, mit Recht liebst, Gutes hat, das ist, daß sie zum großen Teil beim Arbeiter selbst gethan wird, der nicht mit dem Glockenschlage geht und kommt, sondern bei den Seinen zu Hause bleibt – ob er nun in der Stadt oder auf dem Lande wohnt – und Frau und Kinder in seinem Gewerbe unterweist. Die Individualität wird gewahrt und mit ihr der Familiensinn. In der Fabrik dagegen verschwindet die Individualität wie die Familie; der Arbeiter verliert sogar seinen Namen und wird eine Nummer; er muß vom Dorf in die Stadt wandern, wo der Mann von seiner Frau, die Kinder von Vater und Mutter getrennt sind. Man sitzt nicht mehr gemeinschaftlich bei der Suppe, die die Mutter gekocht hat, man geht notgedrungen in die Schenke zum Essen und kehrt dann zum Trinken dahin zurück. Ich habe nicht den Mut gehabt, die Verantwortlichkeit für diese soziale Umgestaltung auf mich zu nehmen. Ich weiß ganz gut, daß sowohl in landwirtschaftlicher als auch in industrieller Beziehung alles uns dahin zu führen droht, eine neue Feudalherrschaft zu schaffen. Aber ich meinerseits wollte bei diesem Werke nicht Hand anlegen. Gerade der Umstand, daß ich ein Adeline bin, dem durch eine zweihundertjährige Gemeinsamkeit der Lebensbedingungen mit dem Arbeiterstande bestimmte Pflichten auferlegt sind, ließ mich zurückweichen. Ohne Zweifel werden andre – und schon demnächst – das thun, was ich nicht thun wollte. Aber ich werde mich ihnen nicht anschließen und das genügt mir zur Beruhigung meines Gewissens. Ich bilde mir nicht ein, den Lauf des Schicksals aufhalten zu können. Aus allen diesen Gründen – und ich komme damit auf unsern Ausgangspunkt zurück – finde ich, daß man den Antrag des Herrn Eck nicht in schroffer Weise ablehnen darf. Meine Aufgabe ist zu Ende, die ihrige beginnt; sie stehen mitten in der Bewegung.«

»Nichts von alledem, was du nur sagst, beweist, daß dein Geschäft nicht mehr geht,« unterbrach die Mama; »geht es nicht mehr?«

»Ich bin, wenn auch nicht lahmgelegt, so doch gehemmt, das ist die nackte Wahrheit.«

»Nun wohl, arbeite langsam, vorsichtig, warte ab, bis die Mode umschlägt und unsre Artikel wieder zur Geltung kommen. Die jungen Leute werden es überdrüssig werden, sich wie englische Grooms zu kleiden und sich dem auszusetzen, daß man ihnen ein Trinkgeld in die Hand drückt. Was gut und schön ist, kehrt immer wieder.«

»Abwarten! Wie lange warten wir schon ab! Es geht uns wie denen in Reims, wo Väter und Söhne Merino fabrizierten und reich dabei wurden und wo man fortfährt, Merino zu fabrizieren, obgleich sich dafür nur noch schwer Absatz findet; man wartet ab, daß er wieder in die Mode komme und ruiniert sich dabei.«

»Nun wohl, dann ziehe dich vom Geschäfte zurück und lebe von dem, was dir bleibt, von dem, was du aus dem Schiffbruche rettest. Besser, das Haus Adeline geht zu Grunde, als in die Hände dieser Juden über.«

»Und Bertha?«

»Besser, daß sie sich nie verheiratet, als daß sie die Frau eines Juden wird!«


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