Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Frau Adeline nahm, als der Onkel und der Neffe fortgegangen waren, ihre Arbeit nicht wieder auf; die Gedanken standen ihr nicht mehr nach Zahlen, und außerdem war die Zeit vorgerückt.

Man verließ das Comptoir; Bertha rollte ihre Großmutter in das Speisezimmer, und Frau Adeline, die, obgleich sie die Fabrik leitete, nichtsdestoweniger auch in ihrem Haushalte nachsah, ging in die Küche, um sich zu überzeugen, ob alles zum Anrichten bereit sei, wenn der Hausherr käme. Darauf kam sie ins Speisezimmer zurück und wartete.

»Geht die Uhr richtig?« fragte die Mama, »geht sie nicht vor?«

»Nein, Großmama,« erwiderte Bertha, »sie geht mit der auf Saint-Etienne.«

»Wie kommt's, daß dein Vater noch nicht zurück ist? Sollte er den Zug verfehlt haben?«

Sie sagte das mit zitternder Stimme und in sichtlicher Unruhe, indem sie nach ihrer Schwiegertochter hinübersah, die ebenfalls von außerordentlicher Ungeduld erfaßt zu sein schien.

Alles lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, als eilige Tritte sich im Hofe vernehmen ließen. Bertha lief und öffnete die Hausthüre.

Unmittelbar darauf trat Adeline, seine Tochter an der Hand, in das Speisezimmer. Er wandte sich sofort zu seiner Mutter, welche er küßte; dann umarmte er seine Frau und Leonie und zog seinen Ueberzieher aus, den er Bertha gab, während ihm Leonie seinen Hut abnahm.

Er trat an den Kamin, in welchem auf alten, sorgfältig gearbeiteten eisernen Feuerböcken große Scheite mit weißzüngelnder Flamme brannten.

»Brrr, es ist nicht warm,« sagte er, seine beiden Hände weit geöffnet an die Flamme haltend.

Seine Mutter und seine Frau betrachteten ihn beide voll Angst und suchten von seinem Gesichte abzulesen, was sie ihn nicht offen zu fragen wagten. Aber dieses heitere Gesicht mit den freundlichen Augen verriet keinen Kummer.

Plötzlich richtete er sich lebhaft in die Höhe, knöpfte seinen Rock auf, suchte in der Seitentasche und zog fünf Päckchen Banknoten heraus, die er seiner Frau hinreichte.

»Verwahre dies, bitte,« sagte er.

Die Mama ließ einen Seufzer der Erleichterung hören. Frau Adeline sagte nichts, aber die Hast, mit welcher sie nach den Banknoten griff, und die nervöse Art, wie sie sie zwischen ihre Finger preßte, ließ erraten, wie erregt sie war und von welchem Drucke sie sich befreit fühlte.

Sobald Frau Adeline wieder ins Speisezimmer zurückgekehrt war, setzte man sich zu Tische.

Selbstverständlich wurden an diesem Abend die persönlichen Angelegenheiten vor der Politik verhandelt und die Mama war die erste, die das Gespräch auf die Gebrüder Bouteillier brachte.

»Wie konnte ein so altes, ehrbares Haus von einer solchen Katastrophe ereilt werden?«

»Alter und Ehrbarkeit können ein Haus nicht retten,« erwiderte Adeline, »sie bewirken manchmal sogar das Gegenteil.«

Das wurde mit einer Bitterkeit gesagt, die überraschte, um so mehr, als er gewöhnlich außerordentlich wohlwollend war und die Dinge, selbst die schlimmen, aus dem Gesichtspunkte heiterer Lebensphilosophie nachsichtig beurteilte, wie die Menschen zu thun pflegen, denen stets das Glück gelächelt, die sich nicht über jede Fliege an der Wand ärgern, sondern überzeugt sind, daß das, was ihnen heute unbequem ist, morgen von der Bildfläche verschwunden sein werde.

Allerdings begnügte er sich mit jener Bemerkung und beeilte sich sogar, dies Wort, das ihm entfahren war, zu mildern. Die Katastrophe, welche die Bouteilliers betroffen, war nicht das, als was man sie anfänglich hingestellt hatte, es war nur eine Zahlungseinstellung, aber kein Bankrott infolge gänzlicher Insolvenz; es schien sogar gewiß, daß sie die Zahlungen bald wieder aufnehmen würden, und daß man an ihnen nicht viel verlieren werde.

Dies vervollständigte die Wirkung, welche die fünf Päckchen Banknoten hervorgebracht hatten, und führte die Heiterkeit auf die Gesichter zurück. Die Unterhaltung, welche anfangs gezwungen war, und auf welcher es wie ein Alp gelegen hatte, weil man sich nicht frei aussprechen wollte, kam allmählich wieder in ihr gewöhnliches Geleise.

»Was gibt es hier Neues?« fragte Adeline.

»Wir haben soeben den Besuch von Herrn Eck und Michel Debs gehabt,« erwiderte Frau Adeline.

»Und was wollte er, der Vater Eck?« sagte Adeline in gleichgültigem Tone, indem er sich einschenkte.

Bei dieser Frage erhob die Mama ihren Kopf und jetzt, nachdem sie von ihrer Angst wegen des Falliments Bouteillier befreit war, überlegte sie, was wohl dieser Besuch und diese Unterhaltung unter vier Augen bedeuten sollte. Warum hatte der Vater Eck nicht in ihrer Gegenwart sich ausgesprochen? Er war alt genug, dieser Jude, daß er auf ihre grauen Haare hätte Rücksicht nehmen können.

»Ich werde dir dies nach Tische erzählen,« sagte Frau Adeline.

»Wenn ich hier zu viel bin, so kann ich mich in mein Zimmer zurückziehen,« sagte die Mama in verletztem Stolze.

»O Mama!« rief Adeline aus.

»Sie wissen wohl, daß Sie nie zu viel sind,« sagte Frau Adeline gelassen. »Ich bitte, daß Sie, anstatt sich nach Tische in Ihr Zimmer zurückzuziehen, meine Mitteilung mit anhören.«

Es war keine Seltenheit, daß die auf ihr Ansehen stets eifersüchtige Mama in solcher Weise ihre Schwiegertochter angriff, und dann suchte Adeline, der nicht gern gegen seine Frau oder gegen seine Mutter Partei ergreifen wollte, durch eine mehr oder minder geschickte Wendung sich aus diesem Dilemma zu ziehen. Er griff zu folgendem Mittel: »Du weißt, Töchterchen,« sagte er zu Bertha, »daß ich an dich gedacht habe. Wie du es mir anbefohlen, bin ich am Dienstag und Freitag in der Akazienallee spazieren gegangen, aber so sehr ich mir auch alle eleganten Damen angesehen habe, das kann ich dir nicht sagen, ob in diesem Jahre die Mäntel lang oder kurz getragen werden. Ich habe welche gesehen, die bis auf die Schuhe, und andre, die eben ein bißchen über die Hüften gingen. Du kannst dir deinen daher machen lassen, wie du willst.«

»Wenn ich mir drei machen ließe,« sagte Bertha lachend, »einen langen, einen mittleren und einen kurzen?«

»Das ist eine Idee. Ich muß aber noch beifügen, um alles getreu zu berichten, daß ich wenig gewalkte Stoffe gesehen habe. Das ist zwar ärgerlich für Elbeuf, aber es ist nun einmal so.«

Nach seiner Tochter kam seine Nichte an die Reihe. Er hatte für sie zwei Kommissionen besorgt: er hatte den Atlas gekauft, den sie sich wünschte, und eine Schachtel farbiger Stifte bestellt, wie sie Papa Nourry haben wollte.

»Ich denke, daß er sich damit zufrieden geben und dich gleich seine Vögel zeichnen lassen wird.«

»O, besten Dank, Onkel, wie gut du bist!«

Die Mahlzeit dauerte nicht so lange wie gewöhnlich; kaum war das Dessert aufgetragen, so erhob sich Bertha und machte Leonie ein Zeichen, ebenfalls aufzustehen. Nicht die Anwesenheit der Mama war der Grund, welcher verhinderte, daß man von dem Besuche des Vater Eck sprach, sondern die ihrige. Bertha hatte dies begriffen und wollte den Augenblick des gegenseitigen Aussprechens nicht verzögern.

»Komm,« sagte sie zu ihrer Cousine.

Sie gingen in ihr Zimmer hinauf, während Adeline den Sessel seiner Mutter in das Comptoir rollte, dessen Thüre Frau Adeline schloß.

»Nun?« fragte sie.

»Nun ... Herr Eck hat bei mir soeben für seinen Neffen Michel um die Hand Berthas angehalten.«

»Der Vater Eck!« rief Adeline aus.

»Dieser Jude!« schrie die Mama, indem sie ihre vor Unwillen zitternden Hände gen Himmel hob.

Als Frau Adeline keine Antwort gab, fuhr die Mama fort: »Dieser Jude wagt, um unsre Tochter anzuhalten! Ein Deutscher!«

»Man darf nichts übertreiben,« sagte Adeline, »er hat ein größeres Recht als wir, für einen Franzosen zu gelten, weil er es durch eigne Wahl ist und weil er diese Ehre mit einem Teile seines Vermögens erkauft hat.«

»Glaubst du denn, daß, wenn er sein Interesse dabei gefunden hätte, Prussien zu werden, er es nicht geworden wäre?«

»Item, er ist es nicht.«

»Aber er ist ein Jude; du wirst nicht behaupten, daß er kein Jude sei!«

»Sicherlich nein.«

»Und du bewahrst deinen Gleichmut, wenn du siehst, daß er uns diese Beleidigung zufügt!«

»Ich bin zum mindesten ebenso überrascht wie ihr.«

»Ueberrascht! Ueberrascht bist du! Nimmst du an, daß es Ueberraschung sei, was mich von diesem Sessel, an welchen ich seit vier Jahren gebannt bin, in die Höhe reißt?«

»Nimmst du denn an, Herr Eck hätte uns beleidigen wollen?«

»Das ist gleichgültig, ob er es wollte oder nicht wollte; beleidigt hat er uns nichtsdestoweniger.«

»Ein Mann in einer Lebensstellung wie Herr Eck beleidigt nicht, wenn er um die Hand unsrer Tochter anhält.«

»Es handelt sich nicht um seine Lebensstellung, es handelt sich um seine Religion. Er ist doch ein Jude, nicht wahr? und sein Neffe ist es auch?«

»Mein Gott, Mama, erlaube mir zu bemerken, daß das ein Vorurteil aus einem andern Zeitalter ist. Die Zeiten sind vorüber, wo der Jude ein Paria war, das gibt es nicht mehr. Man braucht nur die Augen zu öffnen, um zu sehen, welchen Platz er heute bei uns einnimmt in der Finanzwelt, im Großhandel, in der Industrie.«

Und um der Unterhaltung die Heftigkeit und Gereiztheit zu benehmen, die seine Mutter hineingebracht hatte, fuhr er in scherzhaftem Tone fort: »Wenn es in gleichem Tempo weiter geht, so läßt sich leicht vorhersehen, daß binnen kurzem der Christ der Sklave des Juden sein wird. Lies doch die Berichte über die feinsten Gesellschaften, an der Spitze der aufgezählten Persönlichkeiten wirst du Juden finden.«

Aber anstatt seine Mutter zu beruhigen, brachte er sie außer sich.

»Ich bin sehr alt,« sagte sie, »ich bin gelähmt, ich habe keine Spannkraft mehr, keinen Einfluß und kein Vermögen mehr, um ihn zur Geltung zu bringen, ich zähle nicht mehr mit, aber ich bin doch noch deine Mutter, und ich werde dir niemals gestatten, über meinen Glauben zu spotten. Ah! Constant, die Kammer ist an deinem Verderben schuld. Das Zusammensein mit diesen Advokaten und Journalisten, die aus Gewohnheit das Für und Wider erörtern, und für die eine Ansicht ebenso gute Gründe finden, wie für die andre, hat dich zu dem gemacht, was sie selbst sind, zu einem Ungläubigen. Du weißt nicht mehr, was gut und was böse ist. Ihr nennt das Toleranz; aber es gibt keine Toleranz für das Schlechte, es muß vernichtet werden.«

Sie hatte stets einen starken Stock zur Hand, mit Hilfe dessen sie ihren Sessel vor- und rückwärts bewegte, wenn sie niemand herbeirufen wollte, um sie weiter zu rollen. Diesen ergriff sie und stieß ihn mit so kräftiger Hand auf den Boden, daß man daraus auf die Energie ihres Willens schließen konnte.

»Es muß vernichtet werden.«

Und es schien, als wollte sie mit den wiederholten Stößen ihres Stockes eher ein lebendes Wesen (sie dachte dabei zweifellos an den Vater Eck oder seinen Neffen) als ein wesenloses Ding, jenes Schlechte, das sie in Harnisch brachte, vernichten.

Adeline empfand für seine alte Mutter ebensoviel Liebe als Ehrerbietung, und sobald sie auf religiöse Fragen zu sprechen kam, suchte er, wenn er ihr nicht beipflichten konnte, das Gespräch fallen zu lassen oder demselben eine andre Wendung zu geben. Wozu auch eine Erörterung? Er wußte, daß er sie nicht bekehren könne, und seinerseits wollte er keine Versprechungen machen, die er nicht halten würde. Aber diesmal war es nicht eine mehr oder weniger theoretische Frage, die aufgeworfen worden war, sondern eine persönliche Angelegenheit, die von den schwerwiegendsten Folgen für seine Tochter sein, ja, bei der es sich um ihr Lebensglück handeln konnte.

»Ich bitte dich, Mama,« sagte er sanft, »laß dich nicht von deiner ersten Regung hinreißen. Bevor du den Antrag des Herrn Eck beleidigend nennst, wollen wir doch prüfen, unter welchen Umständen er gemacht wurde.«

»Immer die Umstände, die mildernden Umstände.«

Ohne seiner Mutter zu antworten, wendete er sich zu seiner Frau: »Hortense, erzähle uns, wie deine Unterhaltung mit Herrn Eck verlaufen ist.«

Er machte seiner Frau ein flüchtiges Zeichen, daß sie ihre Erzählung möglichst in die Länge ziehen solle. Unterdessen würde sich seine Mutter zweifelsohne beruhigen.

Frau Adeline verstand ihren Mann und berichtete fast wortgetreu, was Herr Eck zu ihr gesagt hatte.

Aber die Mama ließ sie nicht ausreden, ohne sie zu unterbrechen; bei den ersten Worten schon fiel sie ein: »Du siehst, daß diese Juden ihr Unrecht einsahen und den Widerwillen begriffen, den sie einflößen mußten, als sie sich hier niederließen und ehrliche Leute durch ihre Konkurrenz zu ruinieren drohten.«

»Ich bitte dich, Mama, erlaube, daß Hortense fortfährt, oder wir werden nichts erfahren.«

Frau Adeline begann von neuem, aber fast allsogleich unterbrach die Mama sie wieder: »Siehst du's! Mit deiner offnen Hand! Wozu brauchtest du ihnen entgegenzukommen? Alles Unheil hast du mit deiner Rede angerichtet. Ach, daß du doch auf mich gehört hättest!«

Als Frau Adeline mit Nachdruck von der Wertschätzung sprach, die alle Ecks und alle Debs für Adeline hegten, schüttelte die Mama ihr Haupt und murmelte: »Die Wertschätzung dieser Leute! Das ist fürwahr etwas Besondres! Damit brauchst du dich wahrlich nicht zu brüsten, wie du es thust.«

Frau Adeline fuhr ruhig fort und die Mama hielt nur mit Mühe an sich. Als aber ihre Schwiegertochter die Worte wiederholte, die die Schlußfolgerung des Vaters Eck darstellten: »Würde denn eine Firma Eck und Debs-Adeline so übel klingen? Der alte Baum würde neue Aeste treiben,« da stieß sie einen Schrei der Entrüstung aus: »Und ihr begreift nicht, ihr, daß diese Juden sich unsers Geschäftes bemächtigen wollen! Es liegt ihnen viel an der Tochter! Der Name ist's, den sie wollen, das Geschäft, worauf sie spekulieren!«

Nach diesem Ausbruch trat einen Augenblick Stillschweigen ein. Die Mama blickte zu Boden und schien ihren Gedanken nachzuhängen, wobei ihre Lippen sich bewegten, ohne deutliche Worte hervorzubringen. Plötzlich und hastig ergriff sie die Hand ihres Sohnes: »Constant, die Wahrheit, man verschweigt sie mir, deine Frau, du selbst. Jetzt muß Klarheit werden. Wie steht es mit deinem Geschäfte? Bist du denn so krank, daß diese Leute daran denken dürfen, dich zu beerben?«

Er zögerte einen Moment, indem er seine Frau ansah.

»Nicht bei deiner Frau mußt du dir Rats erholen, sondern aus deinem Herzen, aus deinem Gewissen. Ich frage dich – wirst du deiner Mutter nicht antworten?«

Er zögerte noch immer.

»Ist es wahr, was ich fürchte?« sagte sie weich, zärtlich.

»Ja!«


 << zurück weiter >>