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Siebentes Kapitel

»Und du?« fragte Adeline seine Frau, als sie in ihr Zimmer traten, »sagst du auch wie die Mama: ›Besser, daß Bertha sich nicht verheiratet, als daß sie die Frau eines Juden wird‹?«

»Paßt dir denn diese Heirat?«

»Und paßt sie dir nicht?«

»Ich gestehe, daß der Gedanke daran mir nie gekommen war.«

»Hast du irgend welche Bedenken gegen Michel Debs?«

»Keine.«

»Findest du nicht, daß er ein hübscher Bursche ist?«

»Sicherlich.«

»Intelligent, vernünftig, solid, arbeitsam!«

»Ich habe niemals etwas gegen ihn vorbringen hören.«

»Und im Gegenteil haben wir, du, ich, die andern, hat alle Welt sagen hören, daß von den Kindern Eck und Debs er derjenige ist, welcher an der Spitze dieser schönen Vereinigung von Brüdern und Vettern steht, und daß er ohne jeden Zweifel einmal die Leitung des Geschäfts übernehmen wird, wenn der Vater Eck sich zurückzieht.«

»Das ist wahr.«

»Nun gut also, was hindert dich, einzugestehen, daß seine Frau glücklich werden kann?«

»Das bestreite ich nicht – und doch ...«

»Was?«

»Er ist Jude.«

»Dann wollen wir von dieser Heirat nicht mehr reden. Wenn die Mama und du gegen ihn seid, das genügt, dann sind wir zu Ende.«

»Wünschst du sie denn?«

»Ich weiß nicht. Aber offen gesagt, ich kann Michel nicht aus dem Grunde allein abweisen, weil er Jude ist. Meiner Auffassung nach ist ein Jude ein Mensch wie ein andrer, gut oder schlecht, je nach seiner besondern Charakteranlage; in seiner Eigenschaft als Jude ist er aber oft intelligenter, mehr darauf bedacht, zu gefallen, liebenswürdiger im Verkehr, gefälliger, prompter, geschäftsgewandter als viele andre. Ich kann daher dein Vorurteil nicht teilen.«

»Es richtet sich viel mehr gegen die Seinigen, als gegen ihn selbst, dieses Vorurteil.«

»Das ist schon etwas.«

»Ich halte, ebenso wie du, Michel für einen liebenswürdigen Menschen, und wenn ich ihn zum erstenmal sähe, wenn man mir die guten Eigenschaften, die ich ihm willig zugestehe, aufzählte, wenn man mir sagte, daß er meine Tochter zu heiraten wünsche, ohne mich gleichzeitig wissen zu lassen, daß er Jude ist, dann wäre ich gern bereit, ihn als möglichen Schwiegersohn in Betracht zu ziehen ... vielleicht sogar als einen wünschenswerten. Aber er steht nicht allein, er hat die Seinigen um sich, er hat seine Großmutter; und als mir Herr Eck seinen Antrag machte, da, versichere ich dich, schwebte mir nur eins vor Augen: was Bertha in dem Hause jener alten fanatischen Jüdin für ein Leben führen würde.«

»Und warum müßte Bertha in dem Hause der Frau Eck und unter deren Aufsicht leben? Das ist durchaus nicht nötig, scheint mir. Ueberdies lebt die alte Frau Eck so zurückgezogen, daß sie die Ihrigen wohl nicht belästigt. Ich gebe zu, daß, wenn alles wahr ist, was man von ihr erzählt, sie ein wunderliches Dasein führt; aber du weißt so gut wie ich, daß ihre Kinder es ihr nicht nachmachen und daß sie keine andern Sitten und Lebensgewohnheiten haben, als wir Christen auch.«

»Also willst du diese Heirat?« sagte Frau Adeline mit einer Art gelinden Schreckens.

»Ich will sie und will sie nicht; ich bin nicht dawider und finde die Sache ausführbar, das ist die Wahrheit. Es gibt indes jemand, den die Sache noch näher angeht als uns, das ist Bertha; und ich meine, bevor wir ›ja‹ oder ›nein‹ sagen, muß Bertha befragt werden. Für Mama würde diese Heirat der Greuel aller Greuel sein; für dich, die einer andern von Toleranz durchdrungenen Zeit angehört, hat sie etwas Beunruhigendes, ohne daß du jedoch ernsthafte Gründe und etwas andres als eine unbestimmte, instinktive Abneigung dagegen geltend zu machen wüßtest; für Bertha ist sie vielleicht die Erfüllung eines Wunsches. Davon müssen wir uns überzeugen. Wenn sie ›ja‹ sagte, so wäre das ein geradezu merkwürdiges Sichhinaussetzen über die Vorurteile, aber, offen gestanden, wundern würde es mich nicht.«

Frau Adeline hatte das dem Erlöschen nahe Feuer wieder angefacht, sie ließ ihren Gatten vor den Kamin sitzen und nahm an seiner Seite Platz.

»Also Bertha willst du zu Rate ziehen?« fragte sie.

»Muß das nicht unsre erste Sorge sein? Ich möchte sie ebenso ungern gegen ihren Willen verheiraten, als ich möchte, daß sie sich gegen meinen Willen verheiratet.«

»Und deine Mutter?«

»Beschäftigen wir uns zunächst mit Bertha. Wenn sie von Michel nichts wissen will, so ist es überflüssig, uns mit Mama zu befassen; entgegengesetzten Falls, wenn ihr diese Heirat zusagt, dann werden wir sehen, was wir mit der Mama anfangen ... und mit dir.«

»Oh! ich will bloß, was du willst und was Bertha will. Es ist klar, daß der Widerwille, mit welchem ich den Antrag des Herrn Eck aufnahm, nicht meiner ruhigen Ueberlegung entsprang; ich erkenne an, daß Michel nichts vorzuwerfen ist, und wenn er auch nicht der Schwiegersohn ist, den ich mir ausgesucht hätte, so ist er doch ein Schwiegersohn, dem ich nicht die Thüre weisen werde. Darum komme ich gar nicht in Betracht. Aber deine Mutter? Du befragst Bertha und sie wird dir erwidern – so vermute ich –, daß sie sich glücklich schätzt, Michels Frau zu werden. Ich kann kaum glauben, daß sie, wenigstens bis jetzt, in ihm den künftigen Gatten erblickt hat und daß sie für ihn ein wärmeres Gefühl hegt. Aber an dem Tage, an welchem du ihr von dieser Heirat sprichst, kann dieses Gefühl erwachen und sich schnell entwickeln, denn ich gestehe bereitwillig, daß Michel ein hübscher Bursche ist und es besser als irgend jemand versteht, liebenswürdig zu sein, wenn er gefallen will. Was wird dann geschehen? Entweder störst du dich nicht weiter daran, und dann machen wir deine Mutter unglücklich; in ihrem Alter, mit ihren eigenwilligen Ideen ist das sehr bedenklich und die Verantwortlichkeit lastet schwer auf uns. Oder du gibst der Weigerung deiner Mutter nach, und dann, wenn jenes Gefühl erwacht ist, machen wir Bertha unglücklich.«

»Ich werde mich nicht daran stören und habe die Ueberzeugung, daß die Mama, die, wie du, zuerst überrascht war, schließlich Vernunft annehmen wird.«

Frau Adeline erhob mit einer Gebärde des Zweifels die Hand: sie kannte die Mama besser, als der Sohn die Mutter kannte, und wußte aus Erfahrung, daß man ihr keine Vernunft beibringen konnte.

»Auch zugegeben,« sagte sie, »daß du die Einwilligung deiner Mutter erlangtest, so ist die Sache doch noch nicht im reinen. Dieser Heirat steht noch ein Hindernis im Wege, das in uns selbst liegt, das unsre Situation mit sich bringt, und das weder du noch ich heben können – das ist die Mitgift. Können wir Herrn Eck sagen, daß wir unsre Tochter verheiraten, ohne sie auszusteuern? Und können wir dies Geständnis machen, ohne gleichzeitig unsre bedrängte Lage einzugestehen? Ich will von meinem Vorurteil absehen und nicht behaupten, daß Michel, weil er Jude ist, ein Mädchen ohne Mitgift ausschlagen wird, und um so eher, da er auf ein gewisses, wahrscheinlich zum voraus schon taxiertes Vermögen rechnen darf. Aber er ist Kaufmann, und wie viele Kaufleute wirst du finden, die, in den gleichen Vermögensverhältnissen wie die Eck und Debs, ein Mädchen um seiner schönen Augen willen heiraten möchten? Wir können es daher verhüten, unsre Schande einzugestehen, und Bertha die Demütigung eines verfehlten Heiratsprojekts ersparen. Ist es klug, uns einer derartigen Schlappe auszusetzen, welche eintretenden Falls nicht nur für Bertha, sondern auch für unsern Kredit die unheilvollsten Konsequenzen nach sich ziehen würde? Bedenke dir's wohl.«

Diese letzte Ermahnung wäre nicht nötig gewesen. Während seine Frau redete und die Gründe darlegte, welche gegen diese Heirat sprachen, beugte sich Adeline, der ihr zuerst aufmerksam zugehört hatte, immer mehr und mehr über das Feuer – ganz in schmerzliches Nachdenken versunken.

»So viele Jahre der Arbeit,« murmelte er, »so viele Anstrengungen, so viele Kämpfe, deinerseits so viele Sorgen, so viele Beschwerden, so viel Energie – und das ist das Ende! Arme Bertha! Warum habe ich nicht auf dich gehört, als es noch Zeit war!«

Sie betrachtete ihn, wie er sich so traurig über das Feuer beugte, das sein ergrauendes Haupt beleuchtete. Welche Verwandlung war in der letzten Zeit mit ihm vorgegangen! Wie hatte er schnell gealtert, er, der bis zu seinem vierzigsten Jahre so jugendlich geblieben war! Welch tiefe Falten hatten sich auf seinem frischen Gesichte eingegraben; seine sonst sanften und meist freundlich blickenden Augen hatten einen Ausdruck von Traurigkeit und Unruhe angenommen.

»Wenn man noch,« sagte er, seinem Gedankengange folgend und mehr zu sich als zu seiner Frau redend, »wenn man noch erraten könnte, wann und wie das enden wird! Es ist sehr unklug, ja strafbar gewesen, daß ich nicht auf dich gehört habe.«

Frau Adeline gehörte nicht zu den Frauen, welche ihrem Manne die Pistole in die Hand drücken, wenn er sich erschießen will. Wenn er sich Kummer machte, heiterte sie ihn auf; wenn er mutlos wurde, sprach sie ihm Mut zu, und wenn er den Kopf verlor, so brachte sie ihn wieder zu sich.

»Ich hatte nur den unmittelbaren Vorteil im Auge,« sagte sie; »aber glaube mir nur, daß ich das ganze Gewicht der Gründe, welche dich zurückhielten, begriff. Wenn man dreißig Jahre alt ist und sich seine Stellung schaffen muß, kann man ein solches Wagnis unternehmen; aber in deinem Alter und deiner Stellung war es weise und natürlich, dieselbe nicht aufs Spiel zu setzen. Ich werde die letzte sein, die dir einen Vorwurf daraus macht, daß du zurückhieltest.«

»Deine Vorwürfe würden mir weniger weh thun, als die, die ich mir selbst mache, denn du hast nur die triftigen Gründe, die mich zurückhielten, in Betracht gezogen und – so gut du mich sonst kennst – diejenigen, welche ich dafür ins Feld führte, als ich nahe daran war, dir nachzugeben, blieben dir verborgen. Eines Tages, es sind jetzt drei Jahre her, das heißt zu einem Zeitpunkte, wo wir noch die Mittel hatten, unsre Fabrikation umzugestalten, war ich entschlossen. Ich hatte alles erwogen und war am Ende meiner Berechnung zu dem Schlusse gelangt, überzeugend und klar wie die Sonne, daß darin unser Heil zu suchen sei. Ich war im Begriff, es dir zu schreiben, und hatte schon die Feder angesetzt, als mir eine letzte Schwäche, eine Art Gewissensheuchelei Einhalt gebot. Anstatt an dich hierher nach Elbeuf zu schreiben, schrieb ich nach Roubaix, um Auskunft über den Preis, den unsre Konkurrenten für Kohlen und Gas und den laufenden Meter Mauerwerk zahlen, zu erholen. Den zweitnächsten Tag erhielt ich die Antwort: Die Kohlen, für die wir zweihundertvierzig Franken per Waggon zahlen, kosten dort hundertzwanzig Franken; das Gas, dank der für den Verbrauch gezahlten Prämien, kostet fünfzehn Centimes der Kubikmeter; der Oberbau endlich für industrielle Etablissements stellt sich auf zweiundzwanzig Franken per Meter. Du siehst, ohne daß ich nötig hätte, es dir zu wiederholen, was ich mir alles gesagt habe; und da ich nur nach einem Vorwand und einer Rechtfertigung für meine Unthätigkeit suchte, schrieb ich dir nicht. Die Dinge gingen ihren Lauf, während ich mir stolz die Gründe vorsagte, die mich lahmlegten, und das Ende war, daß wir auf dem Punkte ankamen, wo wir heute sind.«

Er erhob sich und begann erregt mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen. »Glücklich diejenigen,« rief er aus, »die nur die eine Seite der Dinge sehen, sie können einen Entschluß fassen und handeln, sie besitzen Mut und Sprungkraft. Ich bin, was man so nennt, ein guter Kerl, ich liebe euch zärtlich, dich und Bertha, ich habe nur euer Bestes gewollt und habe euer Unglück verschuldet. Liegt der Fehler in meinem Charakter, in meiner Erziehung? Liegt es an der Sphäre, in der ich die schönen Jahre meines Lebens hinbrachte, ruhig, glücklich, ohne genötigt zu sein, Entschlüsse zu fassen, welche Verantwortlichkeiten nach sich zogen? Stets, sobald ich mich einem Hindernis gegenübersehe, mache ich davor Halt, als wenn es, während ich zuwarte, von selbst verschwinden, versinken oder davonfliegen werde.«

»Du allein beklagst dich darüber, zu gewissenhaft zu sein,« sagte sie zärtlich; »du bist der beste der Männer.«

»Was hat sie genutzt, diese Güte? Was habe ich für euch gethan? Wenn ich morgen sterbe, was wird aus euch? Das Vermögen, welches mir meine Eltern hinterließen, hinterlasse ich euch nicht. Wenn du allein, frei gewesen wärest, hättest du diese Vermögenslage verbessert; ich, der beste der Männer, wie du sagst, habe sie geschädigt, und heute gräme ich mich ab, daß ich unsre Tochter nicht so verheiraten kann, wie ich gern gewollt hätte. Ich hatte mich in so schöne Träume eingewiegt, als wir noch die Adelines von ehemals waren! Kaum in der weiten Welt wußte ich genug junge Männer aufzufinden, um unter ihnen meine Wahl zu treffen. Und jetzt!«

Er machte mehrere Gänge durchs Zimmer. Dann blieb er vor seiner Frau stehen: »Nun wohl, diesmal werde ich es mit dieser Heirat nicht wiederum so machen, wie ich es mein ganzes Leben lang gemacht habe, indem ich mir vorrede: es ist recht schwer, ›ja‹ zu sagen, aber andrerseits ist es recht schwer, ›nein‹ zu sagen, und abwarte, daß die Hindernisse von selbst verschwinden. Solange mein Ich in Frage kam, konnte ich von einer solch verderblichen Unschlüssigkeit sein; nun, da Bertha in Betracht kommt, soll es anders werden. Morgen gehe ich mit ihr nach Thuit, und dort in der Stille traulichen Zusammenseins will ich sie befragen.«

Das sagte er im Tone der Entschlossenheit; aber sogleich kam sein wahrer Charakter wieder zum Vorschein: »Indessen will sie vielleicht von dieser Heirat gar nichts wissen.«


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