Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

In einer Familie ist die Mutter nicht immer die Vertraute ihrer Töchter: manchmal ist es der Vater, den sie dazu ausersehen. Dies war auch bei Adelines der Fall, wo Bertha, ob sie zwar ihre Mutter zärtlich liebte, ungezwungener und mitteilsamer gegen ihren Vater war.

Stets beschäftigt, mit Arbeit überhäuft und von allen in Anspruch genommen, hatte Frau Adeline niemals mit dem endlosen Geplauder, in dem sich die Kinder gefallen, ihre Zeit verloren. Wenn Bertha, damals noch ganz klein, ins Comptoir gelaufen kam, um ihre Mama zu küssen und sich küssen zu lassen, schickte diese sie zwar nicht fort, aber sie ließ sich nicht so lange liebkosen, als das Kind wollte, sie hielt sie nicht in ihren Armen fest, sie puppelte sie nicht, wie die Kleine es verlangte, nicht einmal, daß sie sie auch nur zärtlich anblickte und mit der Hand streichelte, was sich die Kinder stets gern gefallen lassen und worauf sie so großen Wert legen. Wenn die Mutter ihr einen herzlichen Kuß gegeben hatte, nahm sie die Feder wieder in die Hand und setzte ihre Arbeit fort: ihre Minuten waren gezählt.

Ihren Vater dagegen hatte Bertha immer bereit gefunden, sich mit ihr zu befassen, ohne daß er ihr je die Antwort gegeben hätte, die sie von ihrer Mutter zu vernehmen gewöhnt war: »Laß mich arbeiten.« Er hatte nichts zu arbeiten, wenn sie spielen wollte, und was er auch zu thun hatte, er that es nur, wenn sie ihm Zeit dazu ließ. Und häufig sogar fing er selbst an, ohne abzuwarten, daß sie zu ihm kam. Dazu war er darauf bedacht, ihr in allen Stücken den Willen zu thun; er war ein Kind mit dem Kinde, ein Jüngling, als sie Jungfrau geworden. Wie oft hatte er Verstecken hinter den Tuchballen und in den Schränken mit ihr gespielt! Wie viele Visiten hatte er den fünfzehn oder zwanzig Puppen gemacht, die Berthas Familie bildeten. Sie alle hatten ihren Namen und ihre Geschichte, und er ließ sich die Mühe nicht verdrießen, dies alles auswendig zu lernen, ohne je etwas zu vergessen oder von seinen Enkelchen und Enkelinnen eins mit dem andern zu verwechseln. Diese Leidenschaft Berthas für ihre Puppen verminderte sich nicht, als sie älter wurde, und als sie aus dem Kloster zurückgekehrt war, hatte sie ihre Kinderspiele mit ebensolchem Ernst und ebensolch mütterlicher Zärtlichkeit wieder aufgenommen, wie als kleines Mädchen. Sie wurde nicht böse, wenn ihre Großmutter und ihre Mutter sie auslachten, aber sie wußte ihrem Vater Dank, daß er die Sache ernst nahm und sie verteidigte.

»Verspottet sie nicht,« sagte er wiederholt; »die kleinen Mädchen, welche ihre Puppen am zärtlichsten lieben, sind dieselben, welche später ihre Kinder am zärtlichsten lieben; das mütterliche Gefühl zeigt sich in jedem Alter.«

Er ließ es bei den Worten nicht bewenden und machte manchmal noch ganz gern, wie zehn Jahre zuvor, »den Herrn, der zu Besuch kommt«, »den Herrn Doktor«, und vor allem »den Großpapa«, der aus Paris zurückkommt und die Taschen voll von Ueberraschungen für die Kinder seiner Tochter hat.

Unter diesen Umständen war es daher ganz natürlich, daß Adeline es übernahm, mit Bertha von dem Antrage des Michel Debs zu reden. Er hatte oft genug die Rolle des »Notars« oder des »Familienfreundes« gespielt, welcher mit der »Mama« die Heiratspläne für »Hansel und Gretel« besprach, so daß er auch im Ernste diese Rolle spielen und aufs beste den »Papa« machen konnte.

Am Morgen des folgenden Tages hatte sich der Wind, der die Nacht über geweht, gelegt, und als um acht Uhr Vater und Tochter in die alte Kalesche stiegen, war der Himmel klar, wolkenlos, gen Osten in rosafarbene und grünliche Tinten getaucht, wie man es oft im November nach starken Regengüssen beobachtet. Obgleich der Kutscher schon auf dem Bocke saß, fuhr man nicht sogleich ab, weil man noch das Frühstück in den hinteren Kutschkasten einpacken mußte, womit sich Frau Adeline unter Beihilfe von Leonie befaßte. Den Winter über befand sich kein Dienstbote in Thuit, und wenn man dort zu essen beabsichtigte, mußte man das Erforderliche, das man zu den frischen Eiern der Pächterin verzehren wollte, mitnehmen. Endlich wurde der Kasten zugemacht.

»Glückliche Reise!«

»Auf Wiedersehen heute abend!«

Von der Rue Saint-Etienne fuhr der Wagen durch die Rue de l'Hospice, um die Anhöhe von Bourgtheroulde zu gewinnen. Da es warmes Wetter war, hatte man die Wagenfenster offen gelassen. Als sie um die Ecke der Rue Thuit-Anger bogen, erblickte Adeline Michel Debs, der von der entgegengesetzten Seite kam.

»Sieh da, wie kommt denn Michel Debs hierher?« sagte er.

»Wir wollen ihn fragen,« antwortete Bertha lachend.

»Das lohnt nicht der Mühe.« Man grüßte sich, und zum erstenmal fiel es Adeline auf, daß in dem Blicke Michels wie in dem Neigen seines Kopfes und dem Grüßen mit dem Arme etwas Eigenartiges lag, das von dem Gruße andrer Leute verschieden war. Wie kam es, daß er dies bisher nicht gesehen hatte?

»Wußte Michel Debs, daß wir diesen Morgen nach Thuit fahren würden?« fragte Adeline, als sie vorbei waren.

»Wie konnte er es wissen?«

»Du hättest es ihm gestern abend sagen können.«

Bertha erwiderte nichts.

Da dies zufällige Zusammentreffen das Gespräch auf Michel gebracht hatte, fragte sich Adeline, ob er die Gelegenheit nicht benutzen solle, um dasselbe fortzusetzen. Aber es handelte sich nicht mehr um »Hansel und Gretel«, und er fand, daß er hier im Wagen nicht die ganze Unbefangenheit haben werde, die ihm nötig schien. Es sollte über das Leben seiner Tochter, über ihr Glück entschieden werden; die Erregung schnürte ihm das Herz zusammen. Diese Stunde war so ganz verschieden von derjenigen, welche er ehemals in Augenblicken hoffärtigen Träumens ersehnt hatte.

Da er in Gedanken versunken lange stillschweigend dasaß, versuchte ihn Bertha zum Reden zu bringen.

»Was hast du?« fragte sie, »du redest nichts, bist du denn nicht froh, daß wir nach Thuit gehen?«

Das war ein Anfang, er wollte ihn festhalten, wenn auch nicht, um sich mit ihr sofort über Michel zu unterhalten, so doch um sie vorzubereiten, damit sie auf seine Frage in vollständiger Kenntnis der Sachlage antworten könne. Es genügte in der That nicht, ihr zu sagen: »Michel Debs, der Associé des Hauses Eck und Debs, will dich heiraten,« sie mußte auch vorher sich darüber klar sein, unter welchen Verhältnissen Michel als Brautwerber erschien, und was sie selbst für ein materielles Interesse daran haben konnte, ihn annehmbar zu finden. Es war zweierlei, diese Heirat auszuschlagen im Glauben, daß ihre Eltern reich seien, und sie auszuschlagen, wenn sie wußte, daß die Vermögenslage eine höchst prekäre war.

»Es gab eine Zeit,« sagte er, »wo ich kein größeres Vergnügen kannte, als nach Thuit zu gehen. Dort habe ich laufen gelernt. Dort hast du deine ersten Schritte im Grase gemacht. Im Hause, im Garten, in den Feldern ist kein Stück Hausrat, kein Strauch, kein Weg oder Pfad, die nicht eine Erinnerung wachriefen. Seit achtzehn Jahren habe ich keinen Baum gepflanzt, keine Verbesserung oder Verschönerung gemacht, ohne mir zu sagen, daß es für dich sei. Und jetzt ... frage ich mich, ob ich nicht in die Notwendigkeit versetzt sein werde, es zu verkaufen.«

»Thuit verkaufen!«

»Du mußt die Wahrheit wissen, so schmerzlich sie auch für dich sein mag: Unsre Geschäfte gehen schlecht, sehr schlecht, und wenn wir auch nicht ruiniert sind, so befinden wir uns doch in bedrängter Lage. Die andauernde Krisis und die Fallimente haben uns in diese schwierige Situation gebracht. Ich hoffe durchzukommen, aber es ist auch möglich, daß das Gegenteil eintritt. Was Thuit betrifft, so habe ich schon damals, als ich gezwungen war, deiner Großmutter Anteil zurückzuzahlen, eine Hypothek darauf aufgenommen, und seither ist es für seinen ganzen Wert weiter verpfändet worden – nehme ich die Entwertung dazu, unter der die Ländereien in der Normandie leiden, so kostet es heute mehr, als es uns einbringt. Wenn die Lage sich verschlimmert, ist es nur allzu gewiß, daß wir es nicht werden behalten können. Hierin liegt der Grund, warum es mir nicht mehr so viel Vergnügen macht wie früher, diese Stätte aufzusuchen, die mir nicht nur für mich, sondern auch für dich lieb geworden war, und wo ich mir dein Leben mit deinem Gatten, deinen Kindern ... und uns Alten selbst ausmalte. Fühlst du nicht, wie sehr mich der Gedanke, mich davon trennen zu müssen, betrübt?«

Bertha ergriff die Hand ihres Vaters und schlang zärtlich die Arme um ihn: »Nicht an Thuit, an dich denke ich.«

Sie hatten die Chaussee verlassen und einen Nebenweg eingeschlagen, der quer durch neubestellte Kornfelder, die sich mit einem zarten Grün zu bedecken begannen, hinlief. In kurzer Entfernung, zur Rechten, hob sich von dem dunkeln Hintergrunde einer Parkanlage die weiß und rote Fassade eines großen Hauses ab. Das war das Schloß Thuit, ein massiger Bau aus Hau- und Ziegelsteinen, der mit seinen hohen, schiefergedeckten Giebeln und in die Luft ragenden Kaminen die ringsumher in einem schönen altnormännischen, mit Birn- und Apfelbäumen (stark wie Eichen) bepflanzten Hofe liegenden Wirtschaftsgebäude fast erdrückte.

»Ich habe wirklich als guter Hausvater gehandelt, da ich all diesem meine Sorgfalt angedeihen ließ,« sagte er, hierhin und dorthin einen betrübten Blick werfend.

Sie fuhren in den Hof hinein und damit wurde die Unterhaltung abgebrochen. Man hatte den Wagen von weitem in der baumlosen Ebene herankommen sehen, und der Pächter, seine Frau und seine zwei Kinder waren herbeigeeilt, um ihren Herrn zu empfangen.

Bertha nahm die beiden Kinder, deren Patin sie war, von denen das eine vier, das andre fünf Jahre zählte, und welche sie wie Puppen liebte, bei der Hand.

»Sie werden mit uns frühstücken,« sagte sie zu der Pächterin, »ich habe ihnen Kuchen mitgebracht.«

»Muß sie ›fummeln‹,« sagte die Mutter.

»Ich werde sie selbst ›fummeln‹,« erwiderte Bertha, die mit den normännischen Bauern bäuerisch sprechen wollte.

Wirklich wusch sie ihnen vor dem Frühstück gründlich das Gesicht, kämmte sie, putzte sie heraus und setzte bei Tische das eine zu ihrer Rechten, das andre zu ihrer Linken, um sie ordentlich überwachen zu können – und das war nicht überflüssig, denn in ihrer naturwüchsigen, durch die Erziehung noch nicht in Schranken gehaltenen Eßlust wollten sie gleich mit dem Kuchen anfangen.

Adeline, der seiner Tochter gegenüber saß, beobachtete, wie sie sich mit den beiden Kindern beschäftigte, und indem er sah, welche Achtsamkeit und Aufmerksamkeit sie für dieselben hatte und wie sie ihnen mit sanften Worten in mütterlichem Tone zuredete, wurde ihm weich ums Herz.

Wenn die Heirat mit Michel Debs fehlschlug, würde sich später eine andre Partie für sie finden? Würde sie nicht kinderlos bleiben, sie, welche die Kinder so zärtlich liebte?

Plötzlich sprach er diesen Gedanken, wenigstens teilweise, ganz laut aus. »Was für eine gute Mutter würdest du abgeben!« sagte er.

Das war das Wort, auf welches er zurückkam, als sie nach dem Frühstück allein in den Garten hinausgingen und durch den Park in den Wald gelangten. Er hatte den Arm seiner Tochter in den seinigen gezogen, und so schritten sie, das gefallene Laub der Buchen mit ihren Füßen aufwirbelnd, auf dem Moosteppich langsam Seite an Seite dahin, er innerlich erregt von dem, was er zu sagen hatte, sie verstört und geängstigt durch diese Erregung, welche ihrem Gefühle nach in der peinlichen Lage der Ihrigen ihren Grund haben mußte.

»Wenn ich gerade vorhin bemerkte, daß du eine gute Mutter abgeben würdest, vermutetest du da nicht, daß ich auf ein in der Luft schwebendes Ereignis anspielte?«

Sie sah ihn ganz überrascht an, ohne zu verstehen und doch errötend.

»Hast du erraten, warum Herr Eck gestern abend gekommen ist?« fuhr er fort.

Sie warf ihm nochmals einen kurzen Blick zu und schlug die Augen dann rasch nieder. »Thue, wie wenn ich es erraten hätte,« murmelte sie.

»Ah, kleiner Schelm, kleiner Schelm!« sagte er, über diese echt weibliche Antwort lächelnd.

Sie preßte seinen Arm in einer unwillkürlichen Regung von Ungeduld.

»Nun – er hat für Michel Debs um deine Hand angehalten.«

»Ah!«

»Weiter sagst du nichts?«

»Was hat Mama ihm geantwortet?«

»Daß sie mit mir darüber reden wolle.«

»Und was hast du zu Mama gesagt?«

»Daß ich mit dir darüber reden wolle. Denn vor uns und den Konvenienzrücksichten kommst du und dein Gefühl in Frage. Bevor wir, deine Mutter und ich, eine Antwort erteilen können, mußt du daher zuerst selbst antworten.«

Nach einem Augenblick des Stillschweigens war es indessen nicht eine Antwort, sondern eine neue Frage, die sie an ihren Vater richtete.

»Weiß Herr Debs, daß wir ... das heißt, hat er, was deine Geschäfte betrifft, Kenntnis von der wahren Sachlage?«

»Das weiß ich nicht. Indessen ist es wahrscheinlich, daß er das, was er nicht weiß, teilweise vermutet. In der Elbeufer Geschäftswelt weiß jedermann, daß unsre Situation heute eine andre ist, als sie vor einigen Jahren war. Aber in welcher Beziehung steht dies zur Antwort, die ich von dir wünsche?«

»Ah! Papa!«

»Ist das, was ich sage, so naiv?«

Sie schüttelte sanft seinen Arm mit der Gebärde eines eigensinnigen, schmeichelnden Kindes.

»Wenn Herr Debs, obgleich er weiß, daß deine Geschäfte nicht gut gehen, nichtsdestoweniger meine Hand begehrt, so – liebt er mich.«

»Ah! Das ist der Punkt.«

»Nun, ja doch!«

»Und bist du darüber erfreut?«

»Du fragst Dinge ...«

»So vermutetest du denn nicht, daß er dich liebe?«

»Ich vermutete es nicht ... das heißt, ich bemerkte recht wohl, daß Michel Debs sehr liebenswürdig gegen mich war. Ueberall, wo ich hinging, begegnete ich ihm, stets waren seine Augen auf mich gerichtet mit ... dem zärtlichsten Ausdruck. Wenn er mit mir redete, so nahm seine Stimme eine Weichheit an, wie er sie für andre nicht hatte, nicht für Marie, die hübscher ist als ich, nicht für Klara, die sich in glänzenderen Vermögensverhältnissen befindet als wir, nicht für Susanne, nicht für Madeleine, aber – weiter ist es niemals gekommen.«

»Jetzt beginnt sich die Sache zu entwickeln, und es hängt von dir ab, ob es dabei sein Bewenden behalten soll, im Falle er dir nicht gefällt.«

»Das sage ich nicht.«

»Sagst du, daß er dir gefällt?«

»Er ist ein sehr guter Mensch.«

Bei diesem Versteckspielen kam er wieder auf seine erste Idee zurück: Vielleicht wollte sie von dieser Heirat nichts wissen und hatte nicht den Mut, es einzugestehen; er mußte ihr zu Hilfe kommen.

»Freilich ist er ein Jude.«

Sie lachte gerade heraus: »Und was soll mir denn das ausmachen, daß er Jude ist?«


 << zurück weiter >>