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Erstes Kapitel

Weder in dem ausführlichsten Handbuche über Geographie, noch auf einer Landkarte, sogar einer solchen des Generalstabs, wirst du, geneigter Leser, einen kleinen Zufluß der Seine verzeichnet finden, obgleich derselbe für die Stadt, durch welche er fließt, eine Bedeutung hat, wie sie der Furens für Saint Etienne und die Wasser des Robec für Rouen hatten. – Dieses Flüßchen ist der Püchot. Allerdings ist er von seiner Quelle bis zu seiner Mündung nur ein paar hundert Meter lang; aber so kurz auch sein Lauf, so gering seine Wassermenge ist, so hat ihm nichtsdestoweniger Elbeuf sein industrielles Aufblühen zu verdanken.

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich an seinen Ufern die verschiedenen Industrieen zur Tuchfabrikation angesiedelt, welche auf die Benutzung des Wassers angewiesen sind: die Wollwäschereien, die Wollfärbereien, die Walkereien. Erst mußten die Dampfkraft und die artesischen Brunnen erfunden werden, bevor die neu entstehenden Fabriken sich von ihm abwendeten. Und doch kann man noch heute von den »Püchotiers« nicht selten sagen hören, daß der kleine Fluß nicht ersetzt worden sei und daß, wenn Elbeuf nicht mehr das ist, was es so lange war, dies daher kommt, daß man auf die Anwendung des kalten und klaren Wassers des Püchot verzichtet hat, dem alle möglichen nur ihm allein zukommenden guten Eigenschaften beizumessen seien. Ein schlechtes Wasser das, aus den artesischen Brunnen und aus der Seine! Ebenso schlecht wie die Chemikalien, die in der Färberei das Schwarz ersetzten, welches sonst aus der Schale der Nüsse von Orival gewonnen wurde.

Der Püchot ist also die Wiege von Elbeuf. An seinen niedern, in Schlangenwindungen sich hinziehenden Ufern, am Fuße des Mont Duve, aus welchem er hervorkommt, wenige Schritte von dem herzoglichen Schlosse, der Straße nach Saint Etienne, der Straße nach Saint Auct, die aus dem Walde von La Londe herunterzieht, der Rue Meleuse und der Rue Royale entfernt, haben sich nach und nach die Tuchfabrikanten festgesetzt. Und in jenem Viertel mit seinen düstern Häusern, seinen tiefen Höfen und engen Gassen, wo rotes, blaues, gelbes Wasser die Gräben füllt, Wasser, das manchmal, wenn es mit Walkererde gesättigt ist, so dick erscheint wie Brei, befinden sich noch heute die alten Fabriken, die sich bis auf unsre Tage erhalten haben.

In solch einem engen dunkeln Hofe in der Glayeulgasse liegt die Fabrik, welche der Bottin Der große allgemeine Adreßkalender für Frankreich. Anm. d. Uebers. wie folgt verzeichnet: Adeline (Constant) O.; silberne Medaille: 1827 und 1834, goldene: 1839, 1844, 1849; erste Klasse Weltausstellung von 1855; außer Bewerbung 1867; Fortschrittsmedaille Wien; »Nouveautés für Hosen, Röcke und Ueberzieher«. Es ist wahrscheinlich die älteste in Elbeuf, denn ihre Entstehung datiert nachgewiesenermaßen von der Aufhebung des Ediktes von Nantes her. Damals mußten die großen Fabrikanten, welche die Tuchindustrie aus Holland und England eingeführt hatten und Protestanten waren, aus Frankreich auswandern und überließen ihren Arbeitern den Platz.

Unter diesen Arbeitern befand sich einer Namens Adeline, ein intelligenter, arbeitsamer, unternehmender Mann, begabt mit jenem Trieb zur Initiative und jener Klugheit und Vorsicht, welche zur Eigenart des normännischen Charakters gehören. Allein da er sich, wie seine übrigen Kameraden, seinem Brotherrn gegenüber durch einen Vertrag, welcher dahin lautete, daß er sich niemals selbständig als Meister etablieren dürfe, gebunden hatte, würde er sein Leben lang Arbeiter geblieben sein. Nachdem er durch den Weggang seiner Arbeitgeber die Freiheit der Bewegung zurückerlangt hatte, begann er auf eigne Rechnung Tuche nach holländischer und englischer Art zu fabrizieren, und wurde so der Gründer des gegenwärtigen Hauses. Seine Söhne folgten ihm nach; ein andrer Adeline kam nach diesen, ein vierter nach dem dritten und so weiter bis zu Constant Adeline, welcher dem Namen seiner Vorfahren mindestens ebensosehr als seinem persönlichen Verdienste die allmähliche Ernennung zum Generalrate, zum Präsidenten der Handelskammer, zum Ritter, dann zum Offizier der Ehrenlegion, und endlich die Wahl zum Abgeordneten verdankte.

Der erste Adeline hatte klein angefangen, als Arbeiter, der nichts besaß und nicht wußte, ob er reüssieren werde. Es bedurfte erst wiederholter Erfolge während einer Reihe von Jahren, bis seine Nachfolger daran denken konnten, das ursprüngliche Etablissement zu vergrößern. Nach und nach indessen verdrängten sie ihre minder glücklichen Nachbarn, bauten deren Holzbaracken in Backsteinen auf, setzten Stockwerk auf Stockwerk, ohne daß sie sich jedoch entschließen konnten, die Glayeulgasse zu verlassen, so beengt sie sich dort auch fühlten. Es gewann fast den Anschein, als gehöre dieses starre Festhalten zur Familientradition und als ob die Namen Adeline und Glayeul eine Art Firma bildeten.

Mit der Privatwohnung war es gegangen wie mit der Fabrik: in der Glayeulgasse hatte der erste Adeline gewohnt, in der Glayeulgasse wohnten fortan seine Erben. Die Wohnung machte freilich einen recht düstern, wenig komfortabeln Eindruck und bestand aus großen, vernachlässigten, schlecht erleuchteten Räumen; allein sie verlangten weder ein behagliches, noch ein luxuriöses Heim – das lag außerhalb ihrer bürgerlichen Anschauungen. Wozu auch? In der Anhäufung von Geld fanden sie ihre Befriedigung, vor allem in dem Ansehen und der kommerziellen Bedeutung, die es verleiht. Handeln, erwerben, Achtung genießen, das bedeutete alles für sie, und um dies zu erreichen, war ihnen nichts zu viel, sie schonten nicht einmal sich selber. Der Mann war in der Fabrik thätig, die Frau saß im Comptoir, und wenn die Söhne aus dem Collège in Rouen, die Töchter aus dem Kloster der »Dames de la Visitation« zurückkehrten, so war ihr einziger Lebenszweck, zu arbeiten, jene mit dem Vater, diese mit der Mutter.

Bis zur Restauration hatten sie sich mit solch bescheidener Existenz begnügt, wie sie übrigens auch ihre reichsten Konkurrenten nicht anders führten. Als aber zu dieser Zeit der letzte der Herzöge von Elbeuf den Rest seines Grundbesitzes veräußerte, hatten sie das in der Gegend von Bourgtheroulde gelegene Schloß Thuit an sich gebracht. Der Name »Schloß« machte sie zwar einen Augenblick stutzig und hätte beinahe die Erwerbung verhindert; jedoch gehörte zu dem Schlosse ein Pachtgut, dessen Ländereien in gutem Stande waren, und Wald, welcher mit dem von La Londe zusammenhing. Die Gelegenheit war günstig, und vor dem Walde und dem Pachtgute mit seinen Ländereien trat das Schloß in den Hintergrund. Uebrigens beeilten sie sich, letzteres in »Unser Haus Thuit« umzutaufen, indem sie auf das sorgfältigste alles zu vermeiden suchten, was den Glauben erwecken konnte, sie wollten die Schloßbewohner spielen. Ihre Vorfahren waren Kleinbürger gewesen, Kleinbürger wollten auch sie bleiben, und sie brüsteten sich mit dieser Bescheidenheit.

Indessen brachte diese Erwerbung von Thuit notwendigerweise neue Gewohnheiten mit sich. Das einzige Vergnügen der Familie hatten bisher sonntägliche Ausflüge in die Umgegend gebildet, zu den Orivalfelsen, zur Eiche der heiligen Jungfrau, oder Waldpartieen, welche man im Sommer zuweilen über das Schloß Robert des Teufels bis nach Bouille ausdehnte, wo Apfelpfannkuchen und Fische in Sauce gegessen wurden. Man konnte nicht bei schlechtem wie bei gutem Wetter jeden Sonnabend im Gänsemarsch nach Thuit hinausziehen; man mußte einen Wagen haben und so kaufte man denn einen. Es war eine alte Kalesche, ein Gelegenheitskauf, altmodisch zwar, aber solid. Das mit derselben erworbene Geschirr war mit Silber plattiert gewesen; daran hatte man so lange herumgeputzt, bis das Kupfer zum Vorschein gekommen war, und dieses hatte man dann dunkel werden lassen. Jeden Sonnabend, wenn die Arbeiter ausbezahlt waren, pferchte sich die Familie in das alte, mit Lebensmitteln beladene Fuhrwerk, und von zwei schweren Pferden in mäßigem Trabe gezogen, ging es fort in der Richtung auf Bourgtheroulde zu nach Thuit. Hier verweilte man bis Montag Morgen. Die Kinder vergnügten sich im Walde; die Eltern besichtigten die Ländereien des Pachtgutes, besprachen mit den Taglöhnern die auszuführenden Arbeiten, schätzten den Wert des schlagbaren Holzes ab und vermaßen die Haufen der in der vergangenen Woche gebrochenen Steine.

Nach und nach hatten sich jedoch die bei den Elbeufer Fabrikanten eingebürgerten Gewohnheiten geändert. Wohlstand, Glanz, Luxus und Vergnügungssucht, bisher so zu sagen unbekannt, griffen allmählich Platz; reiche Fabrikantensöhne gaben das väterliche Geschäft auf oder führten dasselbe nur noch in behaglicher, gleichgültiger, lässiger Weise, oder gar mit Widerwillen weiter. Wozu sollte man sich denn anstrengen? War es nicht genußreicher, das Vermögen in Grundbesitz oder in Schlössern anzulegen, die man mit dem Geschmack prunkliebender Parvenüs aufführen ließ?

Aber die Adelines hatten diese Wandlungen nicht mitgemacht. Bei ihnen waren die Gewohnheiten und der Geschäftsbetrieb des alten Hauses im Jahre 1830 die gleichen wie im Jahre 1800, und 1870 noch die gleichen wie 1850. Als durch die Dampfmaschinen eine völlige Revolution in der Industrie herbeigeführt wurde, hatten sie sich gegen diese Neuerung durchaus nicht systematisch ablehnend verhalten, aber sie führten dieselbe nur vorsichtig und gerade zu dem Zeitpunkte ein, als sie durch gegenteiliges Verhalten nicht mehr hätten konkurrieren können. Dabei begnügten sie sich noch, anstatt sich auf kostspielige Einrichtungen einzulassen, damit, von einem Nachbarn die für ihre Webstühle erforderliche Triebkraft zu pachten. Diese Neuerungen taugten für ihre Konkurrenten, waren aber nichts für sie. Sie waren die Hauptvertreter der Hausindustrie und wollten bleiben, was sie stets gewesen. Die bedeutenden Etablissements, die rings um sie her entstanden, konnten sie nicht in Versuchung führen. Diese Kasernen, wie große Glashäuser anzusehen, mit ihren hohen Schornsteinen, aus denen Tag und Nacht Rauchsäulen aufwirbelten, erregten ihren Neid nicht.

Die Gesamtsumme der Geschäfte war es, worauf es ankam, und in dieser Beziehung waren sie ihren Rivalen überlegen. Sie konnten daher die alte Elbeufer Industrie wie bisher weiter betreiben, bei welcher die zahlreichen Vorgänge der Tuchfabrikation, wie das Entfetten der Wolle, das Färben, Trocknen, Aufkratzen, Spinnen und Spulen, Zetteln und Weben, das Auswaschen der Stücke, das Walken, Aufrauhen, Scheren und Dekatieren außerhalb in besondern Werkstätten oder beim Arbeiter zu Hause besorgt wird, und wobei sich die Fabrik mit nichts weiter befaßt, als die Erzeugnisse dieser verschiedenen Manipulationen zu prüfen und durch Anordnung des Gespinstes und der Farbentönung die Nouveauté fertig zu stellen.

Irgendwo anders als zu Elbeuf würde dieses kluge Einhalten und diese Art im kleinen zu verdienen, die Adelines vielleicht in der Wertschätzung haben sinken lassen, aber in der Normandie schätzt man vor allem die Klugheit und achtet solche Leute. Wenn man sagte: »Seht euch die Adelines an,« so geschah dies nicht etwa in mitleidigem, sondern oft in neidischem Tone und zumeist in dem der Bewunderung. Sie wurden ebensowohl den Unklugen, die sich ruiniert hatten, als Beispiel gegenübergestellt, als den von Wollkrämplerinnen abstammenden Emporkömmlingen, die, anstatt das väterliche Geschäft fortzusetzen, in ihren Palais und Schlössern die großen Herren spielten.

Constant Adeline, der gegenwärtige Chef des Hauses, war der würdige Erbe dieser klugen Fabrikanten; von keinem seiner Vorfahren konnte man mit solchem Rechte wie von ihm sagen: »Seht euch den Adeline an.« Und das sagte man, wiederholte es bis zum Ueberdruß bei allen Gelegenheiten seit seiner Studienzeit, wo er ein intelligenter und fleißiger Schüler, ein guter Kamerad, der Liebling der Professoren und insbesondre des Religionslehrers gewesen, welch letzterer sich glücklich schätzte, in ihm einen christlich erzogenen Knaben von religiösem Sinne zu finden, was unter der Generation von 1830 eine Seltenheit war; – später beim Handelsgerichte, im Generalrate, und schließlich in der Kammer, wo er als ausgezeichneter, fleißiger Abgeordneter galt, welcher ein Feind der Parteiintriguen war und nur über das zu reden pflegte, was er von Grund aus verstand (wofür er denn auch bei allen ein williges Ohr fand), ein Mann, der nur nach seiner Ueberzeugung bald für, bald gegen das Ministerium stimmte, ohne daß je ein Fraktions- oder persönliches Interesse ihn beeinflußte.

Eine Zeitlang indessen hatte dieser musterhafte junge Mann seinen Freunden zu denken gegeben. Nachdem er aus dem Collège zurückgekehrt und dann einige Jahre in dem väterlichen Geschäfte thätig gewesen war, hatte er eine Studienreise durch Deutschland, Oesterreich und Rußland gemacht. Damals sprach man in Elbeuf davon, daß er in weiblicher Begleitung reise. Ein Wollreisender war ihm in verschiedenen Spielsälen, wo Adeline um hohe Summen spielte, begegnet.

Ein Adeline! War es möglich? Ein so ordentlicher junger Mann! Wegen der weiblichen Begleitung hätte man am Ende ein Auge zugedrückt; Jugend muß sich ja austoben. Aber die Spielsäle!

Entsetzt war sein Vater nach Deutschland geeilt; er vertraute keinem andern die Mission an, den Sohn zu retten. Dieser hatte keinerlei Widerstand geleistet und gehorsam und reuig die Rückreise nach Elbeuf angetreten. Er hatte sich hinreißen lassen. Wie das gekommen war? Das wußte er selber nicht, da er sich aus dem Spiele gar nichts machte. Es ärgerte ihn, daß er sein Geld verloren und er hatte es wieder zurückgewinnen wollen.

Hernach hatte man ihn verheiratet.

Und seit dieser Zeit war er, wie seine Freunde scherzend sagten, das Muster eines Ehemannes, eines Fabrikanten, eines Handelsrichters, eines Gewerberates, eines Preisrichters bei den Ausstellungen und eines Abgeordneten.

»Seht euch den Adeline an!«

Was fehlte ihm auch, um der glücklichste Mensch der Welt zu sein? Besaß er nicht alles: Achtung und Ansehen, Ehrenämter und Vermögen? Und ein anständiges Vermögen dazu, jedenfalls ein ehrlich erworbenes, wenn man es nicht ein bedeutendes nennen wollte.


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