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Vierundzwanzigstes Kapitel.
Von dem Leben in philosophischer Gemeinschaft und dem Ereignis, das diese Zeit abschloß

Zwei Monate nach dieser Unterhaltung hatten der Marquis und die Marquise von Migurac, der Abbé Joineau, Herr Beaumanet und Herr von Cadriot ein schmuckes Häuschen in Auteuil zum Wohnsitz gewählt. Es war im englischen Geschmack gebaut und lag inmitten eines hübsch angelegten Gartens, in dem sich Gebüsche, ein Springbrunnen, ein Teich, zwei Felsen mit der Figur einer Nymphe, ein Gehölz, Rasen und Blumenbeete befanden. Sauber gewaschene Schafe mit blauen Halsbändern und Glöckchen irrten blökend umher, cochinchinesische Hühner gackerten und indische Enten plätscherten im Wasserbecken. Die Dienerschaft war auf ein halbes Dutzend Frauen und vier Männer beschränkt, die Kutschen auf die englische Kalesche und einen Handwagen.

Madame von Migurac trug als Schäferin ein Mieder von rosa Surah mit viereckig ausgeschnittenem Brusteinsatz, ein Kopftuch mit Spitzen, einen kurzen blauen Rock, der die Waden sehen ließ, und eine Batistschürze. Einen bebänderten Schäferstab in der Hand, verteilte sie Körner und Gebäck an die ganze niedliche kleine Herde. In dieser Arbeit wurde sie von Herrn Beaumanet unterstützt, der ihr trotz seiner fünfzig Jahre und seines dicken Bauches immer auf den Fersen war, gleichfalls als Schäfer gekleidet, mit rosaseidener Hose, Holzschuhen, die auf dem Boden klapperten, einem weißen Strohhut und einer Weste über den Schultern. Zwei Lakaien folgten ihnen und trugen den Korb mit Körnerfutter, Decken und Sessel, damit sie sich behaglich auf dem wohlgepflegten Rasen hinstrecken konnten.

Herr von Cadriot hatte den Titel Obergärtner erhalten. Eine Gießkanne und einen Spaten in der Hand, in gerippten Wollstoff gekleidet, mit einer Schürze um den Leib, versah er eifrig sein Amt, und es war ihm eine Wonne, der Marquise selbstgepflückte Rosensträuße zu überreichen.

Der Abbé Joineau hatte die Aufsicht über das Haus behalten. Um der Mode des Tages zu opfern, hatte er seine ländliche Kleidung wieder angelegt, nicht ohne den Gürtel seiner Soutane erweitern zu lassen. Aber er überwachte mit immer gleicher Sorgfalt die Anordnung der Mahlzeiten, die zwar weniger üppig als im Hotel de Migurac, aber doch recht befriedigend waren. Die silbernen Schüsseln waren mit Milchspeisen, Geflügel, neuen Gemüsen und leckeren Früchten gefüllt, die die belebende Landluft noch köstlicher machte.

Herr von Migurac stand dem Gemeinwesen mit gewohnter Liebenswürdigkeit vor, und kein Tag verging, an dem er nicht die Vorsehung und den Irrtum des Abbé Joineau segnete, denn Herr Beaumanet, den er mit der Abwicklung seiner Geschäfte betraute, hatte so viel Sorgfalt daran gewandt, daß die Marquise von ihren Kleinigkeiten und Möbeln alles hatte behalten können, was ihr genehm war; und das Haus in Auteuil machte durchaus nicht den Eindruck des Mangels, sondern ließ seine Insassen nur dankbar anerkennen, daß sie auf den Lärm der Stadt verzichtet hatten.

Herr von Migurac glaubte sich in die glücklichen Zeiten zurückversetzt, wo die Menschen gemeinsam unter dem wohlwollenden Auge der Natur lebten. Wenn er im Garten Madame von Migurac in Begleitung des Hirten Beaumanet und des Gärtners Cadriot gehen sah, wie sie mit duftendem Wasser besprengte Lämmer am Gängelbande führte, stellte er sich voll Rührung die friedlichen Arkadier oder die Unschuld der Indianer in Peru vor der spanischen Eroberung vor. Seine stets begeisterte und fruchtbare Feder forderte die Menschen auf, das tugendhafte ländliche Leben in dem Häuschen zu Auteuil zu bewundern. Eine Menge Gaffer kamen aus Paris entweder zu Wagen oder mit dem Boot von Saint-Cloud, um ihn zu besuchen, und zogen voll Verwunderung wieder von dannen. Man ging mit der Absicht um, Herrn von Migurac einen silbernen Schäferstab zu verehren, auf dem Inschriften in Buchstaben aus Emaille und kostbaren Steinen ihn beglückwünschten, daß er vor den Toren von Paris die Glückseligkeit des goldenen Zeitalters wiederhergestellt habe.

Wir würden gern länger bei den heiteren Beschreibungen verweilen, die Herr Joineau in seinen Denkschriften mit offenbarem Wohlgefallen breit ausgemalt hat. Aber die glücklichen Tage, die gelebt zu werden verdienen, sind nicht wert, erzählt zu werden. An dieser Wendung seines beschwerlichen Lebensweges fand Herr von Migurac wahrlich eine friedliche und balsamische Oase. Eine Woche folgte der andern, ohne daß er eine andre Sorge gehabt hätte, als sein Glück zu genießen und es seinen Brüdern als Muster hinzustellen, ohne auf das Unglück, das hereinzubrechen drohte, aufmerksam zu werden; eine weniger hochherzige Seele hätte ihm vielleicht vorbeugen können. Vergebens wurde die Stirn des Abbé düsterer, der Ausdruck des Herrn von Cadriot gereizter und häufiger die halblauten Unterhaltungen zwischen Herrn Beaumanet und der Marquise, nach denen sie träumerisch war und rosige Wangen und glänzende Augen hatte. Herr von Migurac blieb heiter und sorglos, von jener Luftspiegelung geblendet, die das Schicksal denen, die es verderben will, vorgaukelt.

Er hatte frühmorgens das Fährschiff benutzt und kam nachmittags nach Auteuil zurück, nachdem er in verschiedenen Angelegenheiten den Tag in Paris verbracht hatte.

Seine Seele war noch von dem niedrigen Alltagstreiben in der Stadt erregt, und er genoß im voraus die Ruhe der Gefilde und freute sich, den Abend unter der ländlichen Laube zu verbringen, an der Efeu und Waldreben emporrankten. Er gedachte abwechselnd die Sterne und Marie Agnes' Augen zu bewundern und dabei im Kreise seiner Freunde von erhabenen Dingen traulich zu plaudern.

Er öffnete die Holztür des Gartens, die sein Eintreten durch ein fröhliches Geläut ankündigte, ward aber durch die Erscheinung des Herrn von Cadriot aus seinem Traum gewaltsam aufgeschreckt. Immer noch als Gärtner gekleidet, aber ohne Perücke, mit zerzausten Haaren, erhitztem Gesicht und gerunzelten Brauen schrie er ihm schon ganz von weitem zu, sobald er ihn erblickte:

»Können Sie mir erklären, mein Herr, wohin die Marquise und Herr Beaumanet gegangen sind?«

Und als Herr von Migurac ihn mit erstaunten Blicken betrachtete, wiederholte er seine Frage mit kreischender Stimme.

Der Marquis sagte ruhig, daß es ihm schwer fallen würde, ihm Auskunft zu geben, da er bei Tagesanbruch fortgegangen wäre. Aber wenn Herr Beaumanet und die Marquise nicht zu Hause wären, so hätten sie ohne Zweifel eine Spazierfahrt mit der Kalesche in der Richtung nach Billancourt und Boulogne unternommen, und da er gerade des Herrn Joineau gewahr wurde, rief er ihn an und befragte ihn. Der Abbé antwortete gegen seine Gewohnheit kurz: die Frau Marquise wäre gegen neun Uhr mit dem Finanzpächter ausgegangen und hätte den Zeitpunkt für ihre Rückkehr nicht angegeben. Herrn Joineaus Gesicht war sehr ernst, und er seufzte tief. Trotz seines heiteren Gemüts fühlte Herr von Migurac sich von Unruhe ergriffen und wandte sich an Herrn von Cadriot mit den Worten:

»Ich fürchte, daß ihnen ein Unfall zugestoßen ist.«

Aber dieser, der ganz scharlachrot geworden war, tobte mit wütender Stimme:

»Unfall! … Unfall! Aber sehen Sie denn nicht, mein Herr, daß Sie ein …«

Die zurückhaltende Feder des Herrn Joineau sträubte sich, das zweisilbige, scharfe Molièresche Wort niederzuschreiben, das Herr von Cadriot gebrauchte und mit dem man die betrogenen Ehemänner bezeichnet.

Als Herr von Migurac dies hörte, glaubte er wahnsinnig zu werden. Eine plötzliche Hitze wallte ihm vom Herzen in die Wangen empor; er legte die Hand an den Degen, und vielleicht wäre die Erinnerung an zwei Dutzend Broschüren, in denen er das Duell und das Vergießen von Menschenblut gebrandmarkt hatte, ohnmächtig gewesen, ihn zurückzuhalten, wenn nicht der Abbé ihn am Arm gepackt und hastig gesagt hätte:

»Madame von Migurac hat einige Zeilen auf dem Tisch ihres Boudoirs für Sie zurückgelassen, ehe sie uns verließ. Vielleicht finden Sie darin …«

Unverständliche Laute ausstoßend, stürzte Herr von Migurac durch den Garten, und die parfümierten Schafe flohen entsetzt auseinander. Er riß die Türen halb aus den Angeln, ergriff das Briefchen und entfaltete es mit zitternder Hand. Es lautete folgendermaßen:

 

»Mein Herr.

Ein rein äußerlicher Schwur kann nicht für das ganze Leben bindend sein. Gegen die großen Tugenden des Herrn Beaumanet konnte mein Herz nicht ungerührt bleiben. Ihre Philosophie ist zu erhaben, als daß Sie mich tadeln würden, einer natürlichen Neigung zu gehorchen und diesem hochherzigen und edelmütigen Manne zu folgen, dessen Wunsch es ist, mir ein Los zu sichern, das meiner Geburt würdig ist.

Indem ich Ihnen für Ihre Güte aufrichtig danke, für die ich Ihnen dauernd erkenntlich sein werde, bin ich, mein Herr, Ihre sehr ergebene und sehr gehorsame Dienerin

Marie Agnes.«

 

Herr von Migurac las diese Zeilen wieder und wieder und glaubte nicht recht zu verstehen. Er erhob sich, die Augen immer noch auf das Papier gerichtet und vor Zorn erstickend. Die Unterschrift war unten auf einer Seite. Er drehte das Blatt um und bemerkte einige Worte, die mit weniger sicherer Hand geschrieben waren, als hätte etwas die hübsche Hand mit den rosigen Nägeln, die fähig war, das Herz eines Mannes zu zerreißen, im letzten Augenblick erzittern lassen. Und er las:

»Ich möchte gern glauben, daß Sie meinetwegen nicht leiden werden, und bitte Sie, mir zu verzeihen.«

Er ließ sich heftig in seinen Sessel fallen, und große Tränen drangen eine nach der andern aus seinen Augen und strömten über seine Wangen. Sein Herz zuckte in körperlichem Schmerz. Die Sonne ging unter, und ihre letzten Strahlen erloschen auf den vertrauten Gegenständen des Boudoirs, in dem sie nun nicht mehr sitzen würde. Er hörte die Glöckchen der bändergeschmückten Schafe, die zum Stall zurückkehrten.

Die Tür öffnete sich. Das angstvolle Gesicht des Abbé erschien im Türrahmen. Er sah seinen Schüler mit guten, zärtlichen Augen an und nahm neben ihm Platz. Herr von Migurac streckte ihm die Hand hin. Er drückte sie mehrmals, öffnete den Mund, um zu sprechen, und schloß ihn wieder. Die Nacht sank herab. Endlich hustete der Abbé und sagte mit teilnehmender Stimme:

»Wollen Sie nicht zu Abend speisen?«

Herr von Migurac setzte sich zu Tisch und blieb unbeweglich vor seinem Teller sitzen, ohne zu essen. Nach einigen Minuten erhob er den Blick und fragte:

»Abbé, haben Sie es gewußt?«

Der Abbé zuckte die Achseln mit einer Miene, die nicht bejahte, aber noch weniger verneinte. Eine Flut von Fragen drängte sich in Herrn von Miguracs Geist. Weshalb hatte sie ihn betrogen und seit wann? Kleine Erinnerungen tauchten vor ihm auf, die er gern festgestellt und gedeutet hätte. Eine Art von Scham hielt ihn zurück, und er schwieg. Plötzlich bemerkte er, daß Herr Cadriot nicht zugegen war, und um das Schweigen zu brechen, drückte er sein Erstaunen darüber aus.

»Obwohl Herr Cadriot,« sagte er, »mir mein Unglück auf sehr barsche Weise angekündigt hat, ist es doch nicht nötig, daß er fastet.«

Der Abbé schüttelte den Kopf und sagte, indem er anscheinend einen Flecken auf dem Tischtuch abkratzte:

»Herr von Cadriot hat das Haus verlassen. Morgen werden Diener kommen, um seine Sachen abzuholen.«

Vor zwei Stunden hätte ein solcher Entschluß Herrn von Migurac in das höchste Erstaunen versetzt, und er hätte vergebens nach der Veranlassung gesucht … Doch in dem Augenblick, als er einen Ausruf tun wollte, erinnerte er sich der wütenden Art, in der Herr von Cadriot ihn angeredet, und der merkwürdigen Leidenschaft, mit der er sich seiner Sache angenommen hatte. Und plötzlich flößte ihm der Aufschluß, den er soeben über die menschliche Unzulänglichkeit bekommen hatte, einen schrecklichen Argwohn ein. Er bemühte sich, ihn zu verscheuchen … Doch der Abbé trommelte, die Lider halb geschlossen, nachlässig mit den Fingern auf dem Tische.

»Abbé,« stammelte der Marquis, »sehen Sie mich an. Hat etwa Herr von Cadriot …?«

Der Abbé stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Der weibliche Scharfsinn ist ohne Grenzen. Und ich müßte lügen, wollte ich behaupten, daß Sie allein durch die verbrecherische Tat des Herrn Beaumanet betrogen wurden.«

Herr von Migurac ließ sich niedergeschmettert in die Lehne seines Sessels sinken und saß lange mit zusammengepreßten Zähnen, in einen Wirbel unzusammenhängender Gedanken verloren, die abwechselnd wütend, verzweifelt und gerührt waren. Bald schien es ihm, als ob er nur den einen Entschluß fassen könnte, nämlich sich eiligst auf die Verfolgung der Flüchtlinge zu machen, Herrn Beaumanet seinem Grimme zu opfern, Marie Agnes mit Gewalt nach Hause zurückzuführen und dann seinen Streit mit Herrn von Cadriot auszufechten. Aber dann schämte er sich, dem blinden Triebe seiner tyrannischen Eifersucht zu gehorchen. Er rief sich die frohe Jugend von Marie Agnes ins Gedächtnis, daß sie noch ein Kind gewesen war, als er sie heiratete, daß er im Vergleich zu ihr ein Greis war und ihr jetzt nicht einmal mehr Reichtum zu bieten hatte. Und nach und nach sank ihm eine schreckliche Last auf die Brust, die ihn zermalmte, die sein Handeln und selbst sein Denken lähmte, wie wenn etwas, das stärker war als er, das Leben in ihm zerstörte. Plötzlich hörte er die Stimme des Abbé; sie schien aus weiter Ferne zu kommen und schlug ihm vor, im Garten frische Luft zu schöpfen. Er wollte ja sagen und sich erheben. Aber er fühlte sich sehr schwach, das Blut pochte gewaltig in seinen Schläfen, es wurde ihm trüb vor den Augen, und er stürzte zu Boden.

Als Herr von Migurac die Augen wieder öffnete, fand er sich in seinem Bett im Schlafzimmer liegen, und beim Schein einer Nachtlampe sah er den Abbé am Kopfende seines Lagers eingeschlummert. Sogleich kehrte ihm die Erinnerung an sein Unglück zurück, und er wünschte, nie wieder erwacht zu sein. Mehrere Stunden lang wälzte er dieselben Fragen in seinem Kopfe; aber seine Aufregung hatte sich gelegt; er betrachtete alle Dinge ohne Zorn, und eine Traurigkeit, die vielleicht tiefer, aber ruhiger war, bemächtigte sich seiner.

Endlich, beim ersten Tagesgrauen, gähnte der Abbé, rieb sich die Augen und richtete sie mit dem Ausdruck liebevoller Teilnahme auf seinen Herrn.

Herr von Migurac sagte mit höhnischem Lächeln:

»Abbé, jetzt betrachte und bewundere ich Sie schon seit einer halben Stunde, denn ich glaube nicht, daß Sie je daran gedacht haben, mich zu verraten, obwohl Sie lange Zeit unter meinem Dach gelebt haben.«

Diese bei dem Marquis so ungewöhnliche Bitterkeit berührte den Abbé peinlich, und er antwortete:

»Mein lieber Sohn, wenn ich Ihnen raten darf, schlagen Sie sich das bedauernswerte Ereignis, das Ihr Leben getrübt hat, aus dem Sinn. Hören Sie auf, sich in die Erinnerung an eine leichtfertige, falsche Frau zu vertiefen …«

Trotz seiner Mattigkeit unterbrach Herr von Migurac den Abbé mit einer energischen Bewegung:

»Sie haben recht, Herr Joineau. Es ist nicht in der Ordnung, daß meine Seele sich ausschließlich dem Gefühl, von dem Sie sprechen, hingibt. Aber trotzdem lassen Sie mich Ihnen erklären, ich werde kein ungünstiges Urteil über Madame von Migurac dulden; sie ist die edelste der Frauen …«

Und als der Abbé bestürzt und mit offenem Munde dasaß, nahm er mit wachsender Lebhaftigkeit wieder das Wort.

»In selbstsüchtiger Leidenschaft habe ich mich einige Augenblicke einer unberechtigten Wut hingegeben. Es war unrecht, daß ich mir anmaßte, die blühende Jugend von Marie Agnes mit dem reifen Herbst meiner Jahre zu verbinden. Eine solche Anmaßung stand einem Manne von Erfahrung nicht an, und ich hätte das Unglück, das mich heute trifft, voraussehen müssen; es verstößt in keiner Weise gegen die wahre Ordnung der Dinge. Madame von Migurac ist mir viele Monate lang eine unvergleichliche Gattin gewesen. Sie ist es nicht mehr, und die Schuld liegt nicht an ihrem Herzen, sondern an der Ueberfülle ihrer Jugend, die nach Liebe verlangte und die sie gezwungen hat, einen Schwur zu verletzen, dessen Ernst sie nicht erwogen hatte. Man muß das Unglück, dessen Heldin sie ist, nicht als eine schändliche Handlung auffassen, für die sie verantwortlich wäre, sondern als den offenbarsten Beweis, daß die Ausübung der Tugend bei der jetzigen Weltordnung nicht möglich ist, da die reizendste aller Frauen scheinbar davon abgewichen ist.«

Diese Erklärung schloß Herrn Joineau den Mund. Er rieb sich die Hände, weil der Morgen kühl war, und nach einigen Sekunden fragte er:

»Was gedenken Sie jetzt zu tun?«

In seiner Rede fortfahrend erklärte er, daß das Häuschen in Auteuil auf Herrn Beaumanets Namen gemietet wäre, der allein die ganzen Kosten getragen hätte. Der Vermögensabschluß des Herrn von Migurac hätte in der Tat das traurigste Ergebnis gehabt; aber auf Befehl des Finanzpächters wäre dem Marquis dies Unglück verheimlicht worden. So hätte er ohne Nebengedanken die Freuden des Landlebens genießen können, da er glaubte, seinen Anteil zu den Ausgaben für das gemeinsame Leben beizusteuern, während der ganze Haushalt aus der Kasse des Herrn Beaumanet bestritten wurde, oder vielleicht zum kleinen Teil durch die Güte des Herrn von Cadriot.

Dieser neue Kummer entlockte Herrn von Migurac wiederum einen Seufzer, und er sagte mit sanftem Tone:

»Eine solche Entdeckung vermehrt mein Leiden. Ehemals hätte ich in dieser Handlungsweise nur eine köstliche Feinheit der Freundschaft erblickt, heute muß sie mir wie eine Kriegslist erscheinen, die bestimmt war, das Herz von Marie Agnes zu umgarnen. Aber je empörender diese Arglist ist, um so kleiner wird ihr Verbrechen, denn sie hat nur infolge abscheulicher Ränke unterliegen können.«

Herr von Migurac erkundigte sich darauf, wann er ausziehen müßte. Als Herr Joineau ihm gesagt hatte, daß die Miete für sechs Monate im voraus bezahlt wäre, beschloß er, seinen Aufenthalt noch einige Zeit zu verlängern, bis er einen Entschluß gefaßt hätte.

»Da Herr Beaumanet,« sagte er, »mir meine Gattin geraubt hat, so kann man mich nicht tadeln, wenn ich sein Haus benutze, das wohl hundertmal weniger kostbar ist.«

Und nachdem er dem Abbé Befehl gegeben hatte, die ganze Dienerschaft, ausgenommen eine alte Magd, die als Köchin fungieren sollte, zu entlassen, schlief er wieder ein.

Herrn Joineaus Amt als Verwalter wurde also sehr vereinfacht. Während der folgenden Wochen lieferten die bändergeschmückten Schafe, die indischen Enten und die cochinchinesischen Hühner den Braten und der Garten die Gemüse und Früchte.

Indessen verbreitete sich die Nachricht von seinem Unglück durch die Stadt und bis nach Versailles und lenkte die verdoppelte Aufmerksamkeit auf ihn. Das Publikum rief sich nicht nur seine erhabenen Theorien, sondern auch sein feuriges Temperament, seine Duelle und seine stürmische Laufbahn ins Gedächtnis, und die Neugierde war groß, zu wissen, wie er sein Unglück hinnehmen würde. Ob die Philosophie ihm die Seelengröße geben würde, es zu verachten, oder ob er nicht im Gegenteil seinem heftigen Groll nachgeben würde.

Und so erschien denn eine Menge von Kutschen, Kaleschen, sogenannten »Nachttöpfen«, englischen Wiskis, Einspännern und Wagen jeder Größe und jeder Form in Auteuil und setzte dort viele vornehme Damen, Schauspielerinnen, Dichter, Edelleute und so weiter ab, den Schwarm der Zeitungsschreiber nicht zu vergessen. Herr Joineau, dessen Seele voller Mitleid war, hätte vor dieser ganzen Sippschaft am liebsten die Tür zugemacht, um seinem Herrn das Kränkende einer solchen Zudringlichkeit zu ersparen. Aber Herr von Migurac verbot ihm, dergleichen zu tun.

»Das Glück,« sagte er, »ist für mich tot. Aber das Unglück des Philosophen kann belehrender sein als sein Glück. Verhindern Sie die Leute nicht, mich leiden zu sehen.«

Wenn Herrn Joineaus Absicht aus einem guten Herzen kam, so kann man nicht verkennen, daß auch Herrn von Miguracs Wunsch der einer ungewöhnlichen Seele war. Wie wir schon bemerkt haben und zum Erstaunen derer, die nicht die ganze Bosheit des Menschengeschlechts erfahren haben, wiederholen müssen, hatte Herr von Migurac, dessen ganzes Leben dem Kultus der Brüderlichkeit geweiht gewesen war, unglaublich viel Haß und Neid erregt.

Die Hälfte von allen denen, die an seine Tür pochten, wünschte nichts weiter, als sich an seinem Elend zu weiden und ihn schlecht zu machen. Aber keiner von ihnen zog sich zurück, ohne von Achtung über die Vornehmheit, mit der er sein Leid trug, durchdrungen zu sein. Er antwortete auf die zudringlichsten Fragen, enthielt sich jedes bitteren und heftigen Wortes, und doch war auch keiner, der nicht aus seinem bloßen Aussehen erkannte, wie tief seine Wunde war. Einige Wochen hatten genügt, um seine körperliche Erscheinung merklich zu verändern. Er, der sich vor der Katastrophe scheinbar die Jugend und Kraft eines Dreißigers bewahrt hatte, schien jetzt die Fünfzig überschritten zu haben. Sein Haar war gebleicht, das Auge erloschen und die Haut faltig geworden. Aber seine Energie war die alte geblieben, und er haderte nicht mit dem Schicksal. Warum auch sollte er nicht dasselbe erdulden, was durch seine Schuld Madame Isabella, die erste Marquise von Migurac, erduldet hatte?

Trotz seiner Niedergeschlagenheit war es ihm auf die Dauer doch nicht möglich, in dieser Untätigkeit und Einsamkeit zu verharren, zumal seine Trauer von Tag zu Tag tiefer und bitterer ward, sowohl weil er immer mehr die Leere seines Lebens empfand, als auch, weil es ihm bitter war, bei seinen Besuchern mehr böswillige Neugierde als Sympathie zu erraten. Herr von Migurac hatte sich nach so viel schlimmen Erfahrungen doch eine hohe Meinung von der Menschheit bewahrt. Aber man hätte sagen können, daß sein eignes Unglück ihm in dieser Zeit die Augen geöffnet hatte. Mit unerbittlichem Scharfblick erkannte er die dunkelsten Falten der Gewissen, und sein Schmerz wurde durch die Berührung mit so viel Lastern und Verderbtheit noch verschärft. Auch der Zustand der öffentlichen Angelegenheiten bot ihm keinerlei Ablenkung. Die Lage wurde von Tag zu Tag bedenklicher, und die Wiederkehr des goldenen Zeitalters schien auf unbestimmte Zeiten verschoben.

In dem Gefühl, in einer so mit Fäulnis durchsetzten Luft ersticken zu müssen, faßte Herr von Migurac einen unvergleichlichen Gedanken, der zu dem berühmtesten Unternehmen seines Lebens führte, das allein imstande wäre, ihn unsterblich zu machen.


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