Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel.
Von der literarischen, moralischen und philosophischen Tätigkeit des Herrn von Migurac

Da indessen Herr von Miguracs Mangel in gleichem Maße wuchs, wie sein literarischer Beruf, so ward er zwiefach davon abgehalten, den Ratschlägen des Herrn Mottet streng zu folgen. Er beschloß, sein Glück bei einem Buchhändler der Rue des Prouvères zu versuchen. Maître Pommelard hatte ein freundliches Gesicht, außerdem besaß der Biedermann eine ziemlich hübsche Frau, deren Augen, wenn Herr von Migurac es nur der Mühe wert gefunden hätte, hineinzuschauen, ihm sehr verheißungsvoll erschienen wären. Aber seit er sich zur Philosophie bekannte, interessierten ihn selbst die Frauen nur mit Unterbrechungen.

Er hatte einen schönen milden Nachmittag gewählt, wie solcher wohl eine Krämerseele zu rühren imstande ist, und betrat Maître Pommelards Schwelle, der ihn mit zuvorkommendem Lächeln empfing. Aber sein Gesicht verdüsterte sich, als Herr von Migurac, anstatt irgendeinen Einkauf zu machen, ihm erklärte, daß er sich verpflichtet fühlte, der Menschheit die Frucht seines Nachdenkens anzubieten. Indem er ein umfangreiches Paket auswickelte, das er unter dem Arm trug, legte er ihm vier Manuskripte auf die Knie, jedes von ungefähr dreihundert Seiten, die betitelt waren: »Ueber Moral«, »Arthise oder die tugendhafte Courtisane«, »Abhandlung über die Berechtigung der Menschenfresserei«, »Gedanken eines Kosmopoliten«. Bei diesem Anblick faltete Maître Pommelard mit hoffnungslosem Gesicht die Hände und erklärte, sein Geschäft sei bereits zu sehr belastet, um Werke von solcher Bedeutung in Verlag zu nehmen. Indessen ließ er sich durch die Bitten von Madame Pommelard erweichen, die im rechten Augenblick in seinem Kontor erschien und dem niedergeschmetterten Edelmann zu Hilfe kam, und willigte ein, sich die Sachen anzusehen. Herr von Migurac küßte der Dame die Hände, ging voller Hoffnung fort und kam nach Ablauf von zwei Wochen wieder.

Aber er mußte sich zu seinem Kummer überzeugen, daß wenn Maître Pommelard seine Frau und die Philosophie liebte, er ihnen seine Börse doch noch vorzog. Denn der Buchhändler, der den Verführungskünsten des Gedankens unzugänglich war, gab ihm sehr höflich seine vier Manuskripte zurück und bat ihn, sie bis auf bessere Zeiten aufzuheben. Herr von Migurac wollte eben ganz kleinlaut abziehen, als der Biedermann ihn zurückrief. Seine Gattin hatte ihm zu bedenken gegeben, daß sich für unsern Edelmann wohl eine Beschäftigung böte, die, wenn er sie übernehmen wollte, ihn vorteilhaft bekannt machen und ihm etwas Geld einbringen würde.

Mademoiselle Chlorinde, eine berühmte Nymphe der Oper, glaubte sich von den Damen Elvira und Aglaë, nicht minder hervorragenden Kurtisanen, beleidigt. Folglich hegte sie den Wunsch, sie durch eine Schmähschrift zu verunglimpfen, aber da sie versäumt hatte, schreiben zu lernen, sah sie sich gezwungen, ihre Zuflucht zu einem Manne vom Handwerk zu nehmen.

Herr von Miguracs erste Regung war, eine Aufgabe zurückzuweisen, die seines Talents so wenig würdig war. Aber die schönen, enttäuschten Augen der Madame Pommelard machten ihn unschlüssig. Als Herr Pommelard noch hinzugefügt hatte, daß das Honorar etwa fünfzig Taler betragen würde, stellte er sich mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit vor, daß er nicht drei mehr in der Tasche hätte. Und er nahm es an.

Sein Libell erschien drei Wochen später unter dem Titel: »Die Nymphen von Babylon, aus dem Assyrischen übersetzt«. Vielleicht wäre es unbemerkt geblieben, wenn nicht Mademoiselle Chlorinde die Vorsicht gebraucht hätte, es selbst ihren Rivalinnen zukommen zu lassen. Mademoiselle Aglaë, die von dem Polizeileutnant ausgehalten wurde, beeilte sich den letzteren zu bitten, das Libell als einen Frevel gegen die guten Sitten beschlagnahmen zu lassen. In der Tat hatte Herr von Migurac, der in der großen Welt gelebt hatte, es für überflüssig gehalten, ihre Schändlichkeiten zu verschleiern, und so war sein Werk, von allem andern abgesehen, ziemlich scharf gewürzt, zumal der Buchhändler noch einige Zeichnungen hinzugefügt hatte, die geeignet waren, das Gewagte des Buches noch zu mehren. Es wurde also bei Herrn Pommelard beschlagnahmt und eingestampft. Man fahndete sogar auf den Schriftsteller, um ihn zum Nachdenken in die Bastille zu schicken. Jedoch der Polizeileutnant war der Ansprüche von Mademoiselle Aglaë müde und betrieb die Verfolgung ihres Verleumders nicht mit solcher Leidenschaft, daß Herr von Migurac sich ihr nicht hätte entziehen können. Einige Exemplare des Libells wurden auch fernerhin heimlich in Umlauf gesetzt und sehr teuer verkauft. In mehreren Alkoven vornehmer Damen wurde der Name des Verfassers genannt, und er genoß unverzüglich einen gewissen Ruf als sittenloser Schriftsteller. Derart war das erste schriftstellerische Auftreten des Herrn von Migurac in seiner philosophischen Laufbahn.

Doch es hieße unsern Helden schwer verleumden, wollte man glauben, daß er durch den ersten Erfolg verführt, nach einer Skandalberühmtheit getrachtet hätte. Ganz im Gegenteil. Den edelsten Kämpfen auf dem Felde der Moral und politischen Wissenschaft widmete er den besten Teil jenes Feuers, das er einst auf Schlachtfeldern vergeudet hatte. Während der zehn oder zwölf Jahre, die seiner Rückkehr nach Paris folgten, war seine Feder eine der eifrigsten jener Zeit und der des Herrn Rétif de la Bretonne oder des Herrn Sébastien Mercier zu vergleichen. Er ließ die fruchtbarsten Physiokraten noch hinter sich.

Es ist ein unglaublicher Fall, daß das Verzeichnis dieser Werke, die es so verdient hätten, der Nachwelt erhalten zu werden, unvollständig auf uns gekommen ist. Selbst Herr Joineau gibt nur einen sehr ungenügenden Katalog. So weit man urteilen kann, waren es Schriften verschiedener Art.

Eine gewisse Anzahl, zu denen sich der Marquis nur mit Schmerzen bekannte, schrieb er lediglich zur Bestreitung seiner leiblichen Bedürfnisse, und die moralische Tendenz fehlt darin. Die Erfahrungen, die der Marquis über das Liebesleben in Frankreich und im Ausland gesammelt hatte, die vielfachen Liebesabenteuer, die ihm unter verschiedenen Breitengraden begegnet waren, lieferten ihm Stoff für eine Unmenge von Erzählungen, Novellen, Fabeln, Romanen, Gesprächen und Schriften jeder Art. Sie wurden ohne Namen des Verfassers oder pseudonym veröffentlicht, zuweilen auch mit seinen Anfangsbuchstaben gezeichnet und bildeten manches Mal die Freude der Zeitungsherausgeber, die immer auf Schriften dieser Gattung fahnden. Sie waren bemerkenswert durch die recht weitgehende Wahl der Stoffe, bewunderungswürdige Freimütigkeit in der Schilderung und vollendete Kenntnis jeder Verderbtheit.

»Der Führer des Kosmopoliten in Cythere«, wurde wegen Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit vernichtet. »Die schändlichen Liebschaften der Schauspielerin Cl …« trugen dem Buchhändler eine bedeutende Geldstrafe und Herrn von Migurac einen dreiwöchigen Aufenthalt im For-l'Evêque ein. Es läßt sich nicht bestreiten, daß von allen aus seiner Feder hervorgegangenen Werken diese die größte Berühmtheit erlangten; dergleichen machte mehrere Monate in den Boudoirs und literarischen Kreisen Furore. Herr von Migurac gab dies ohne Umschweife zu; aber weit entfernt, seine Eitelkeit zu befriedigen, berührte ihn dieser Erfolg peinlich, und als später ein geachteter Kritiker ihm heftig vorwarf, dem schlechten Geschmack des Jahrhunderts gefrönt zu haben, verteidigte er sich gar nicht, aber in seiner Schrift: »Antwort eines Mannes von Herz an den Herrn Abbé Miollens« legte er seine Grundsätze in ihrer ganzen Klarheit dar.

Mit dem Tone der Unschuld wies er die Anschuldigungen der Immoralität zurück, mit denen man sich bemühte, ihn anzuschwärzen, und behauptete, das Laster nur zur Abschreckung abkonterfeit zu haben.

»Aber,« fügte er hinzu, »wenn es manchmal den Anschein hatte, als ob meine Feder die Abscheulichkeiten mit einigem Wohlgefallen geschildert hätte, so möge man nicht mein Herz, sondern die Schändlichkeit unsers Jahrhunderts dafür zur Rechenschaft ziehen. Jeder Mensch hat ein Existenzrecht. Nun ist aber die allgemeine Verderbtheit bei einem solchen Grade angelangt, daß es einem zartfühlenden Menschen nur gelingt zu leben, indem er die Laster ausbeutet, die sie selbst erzeugt hat. Kauft doch die tugendhaften Bücher des philosophischen Verfassers, ihr Leser, und er wird keine andern mehr schreiben. Oder wenn ihr sie verächtlich verstauben laßt, dann gebt ihm Brot, oder wenigstens erhebt keinen Einspruch, wenn er eurer Lüsternheit die Weide bietet, die sie fordert, und die ihn verhindert, Hungers zu sterben.«

Es ist nur gerecht zu bemerken, daß Herr von Migurac, als er durch den Wechsel seines Schicksals auf den Gipfel des Reichtums gehoben wurde, die Exemplare seiner schlüpfrigsten Werke sorgfältig aufstöbern ließ, um sie zu verbrennen. Aber die Wirkung dieser lobenswerten Absicht war eine ganz andre, als er sich vorgestellt hatte. Denn es zogen nicht nur diejenigen, die unzüchtige Werke berufsmäßig verkaufen, großen Nutzen daraus, da die Preise sehr in die Höhe gegangen waren; sondern auch die Habgier einiger erbärmlicher Verleger wurde erregt, und sie veranstalteten ziemlich zahlreiche unerlaubte Nachdrucke, so daß seine unsittlichen Schriften nie mehr verbreitet waren, als seit dem Tage, wo er versuchte, ihrer Verbreitung Einhalt zu tun.

Am Schluß dieser Bemerkungen, die unsre Gewissenhaftigkeit als Historiker uns vorschrieb, sei nochmals die Tatsache betont, daß solche Erzeugnisse für Herrn von Migurac niemals ein andres Interesse als das des Broterwerbs hatten, und daß der Schwung seiner großmütigen Seele ihn in eine ganz entgegengesetzte Richtung drängte. Aber von der Mehrzahl der Werke über die Fragen der Moral und Politik, die ihm besonders am Herzen lagen, sind die Ausgaben, die übrigens nur klein waren, leider unter dem Stampfhammer verschwunden. Es ist eine merkwürdige und zugleich beklagenswerte Tatsache, daß Herr von Miguracs Feder, die in schlüpfrigen Dingen so gewandt und ausdrucksvoll war, in dem Bereich der hohen philosophischen Spekulation weniger glücklich gewesen zu sein scheint.

So sehr seine galanten, mit liederlichen Abbildungen illustrierten Gespräche in den Alkoven der Kurtisanen Verbreitung fanden, so wenig wurden seine Abhandlungen in Oktav, in denen er die Laster der modernen Gesellschaft brandmarkte, bekannt. Auch hatte er mehrmals die Kränkung zu erdulden, daß man ihn für einen unsittlichen Schriftsteller, anstatt für einen Moralisten hielt, was ihn schmerzlich berührte; doch er tröstete sich, denn im Herzen war er seiner Tugend gewiß.

Uebrigens wurden nicht alle Schriften dieser Gattung mit Gleichgültigkeit aufgenommen. Auf einige wurde in den angesehensten zeitgenössischen Werken verwiesen, so in den Briefen von Bachaumont, in Metras Journal oder in Grimms Korrespondenz. Der leidenschaftliche Haß, den Herr von Migurac in seiner Seele gegen die Despoten und gegen die Art nährte, wie sie ihre Untertanen verderben, um sie zu knechten, gab ihm beim Tode Ludwigs XV. eine rächende Satire ein, die wir schon angedeutet haben. Er forderte die Völker auf, sich ihrer Tyrannen zu bemächtigen und sie an die Schwellen ihrer Paläste zu nageln, wie es die Bauern mit den Fledermäusen tun. Er war sehr nahe daran, wegen dieser Flugschrift, die er ableugnen mußte, in die Bastille zu wandern.

Da er in seinem Leben siebenundsechzig Duelle, davon vierzehn mit tödlichem Ausgang gehabt hatte, so konnte niemand besser als Herr von Migurac die ganze Barbarei dieses Brauchs würdigen. Deshalb trieb es ihn auch, ihn in einer glänzenden, weitblickenden Betrachtung zu geißeln, die ihm die Anerkennung des Erzbischofs von Paris und einen Ehrenhandel mit einem elenden Raufbold zuzog. Dieser hatte seine veränderten Ansichten für Heuchelei erklärt und empfing von ihm einen Degenstoß, der ihn zu den Heiligen beförderte. Aufgefordert, sich zu rechtfertigen, daß er nicht nach seinen Grundsätzen gehandelt hätte, schrieb Herr von Migurac in seiner »Abhandlung über scheinbare Widersprüche«: »Nicht das schwache, empfindliche Einzelwesen darf man anklagen, wenn seine Handlungen mit seinen Grundsätzen nicht im Einklang stehen, sondern den Zustand der Gesellschaft, der die Sitten und die Geister bis zu einem solchen Grade verderbt, daß der, der die natürliche Gerechtigkeit begreift, verhöhnt werden würde, wenn er nach ihr leben wollte. So unterscheidet sich der tugendhafteste Mensch oft nur dadurch vom Verbrecher, daß er die gleichen Taten begeht und ihm nur darin überlegen ist, daß er sie haßt.«

Uebrigens ist nichts betrübender als zu sehen, mit welchem Eifer böswillige Kritiker seine Aeußerungen mit seinen Handlungen in Widerspruch zu setzen oder empörende Schlußfolgerungen aus seinen Grundsätzen zu ziehen trachteten. Ein elender Zeitungsschreiber erhob ein großes Geschrei und versuchte das Publikum gegen ihn aufzureizen, weil er in seiner »Erörterung über die Berechtigung der Menschenfresserei« erklärt hatte, daß im Fall einer Hungersnot ein Sohn durchaus das Recht hätte, seinen Vater zu töten und sich von seinen Gliedern zu nähren. Um die Anklage empörender Immoralität, die man ihm zur Last legte, zu entkräften, wird es genügen, daran zu erinnern, daß Herr von Migurac sich beim Aufstellen dieser Behauptung in den Naturzustand versetzte, der mit dem Zustande der Gesellschaft nichts gemein hat. Es wird nicht überflüssig sein, hinzuzufügen, daß er seit seiner Rückkehr aus Deutschland sich der Fleischnahrung im allgemeinen enthielt, um sich der Absicht der Natur, die dem Menschen nur vier Reißzähne gegeben hat, anzupassen. Zugleich gab er darin dem Zartgefühl seines Herzens nach, das ihn in den unschuldigen Geschöpfen Brüder sehen ließ, die wir in tausendjähriger Barbarei unsrer Freßgier opfern. Und das war der Mann, den die Bosheit eines Schurken zum Apostel des Kannibalismus machen wollte!

Derselbe stellte ihn freilich auch als Anwalt der Blutschande hin, weil er die Verbindung zwischen Sohn und Mutter oder Vater und Tochter im Naturrecht für rechtmäßig erklärte. Worauf Herr von Migurac ihm ohne Mühe antwortete, er solle doch zusehen, wie es die Tiere halten, die sich von dem prähistorischen Menschen alles in allem kaum unterscheiden. Die Schreiberseele erwiderte, daß, wenn solches die Bräuche im Naturzustande wären, es keine schrecklicheren Bedingungen gäbe. Und er eiferte in groben Sarkasmen gegen die Spieler mit Paradoxen, die sich ihrer bedienten, um den Zustand der Gesellschaft zu brandmarken. Aber Herr von Migurac verfolgte den Streit nicht weiter, weil sein Geist ohne Zweifel auf andre Dinge gerichtet war.

Denen, die sich anmaßten, ihn auf Grund seiner Schrift »Die Rechtfertigung des Weltbürgertums« als einen Feind des Königs bloßzustellen, hielt er triumphierend seine Feldzüge im Siebenjährigen Kriege und seine Verteidigung des französischen Namens an mehreren fremden Höfen entgegen. Und er fand hierdurch Gelegenheit, in den ewigen Vorwurf des Selbstwiderspruchs, mit dem man ihn geflissentlich anschwärzte, ein für allemal eine Bresche zu schlagen. Er gab ohne Umschweife zu, daß der soziale Zustand neue Pflichten und Rechte schafft, denen der Mensch sich nicht ohne Aergernis entziehen könnte, so tief sind die Vorurteile bei uns eingewurzelt, und selbst nicht ohne Unbequemlichkeit, denn wir sind bei einem solchen Grad von Verderbtheit angelangt, daß unsre größten Uebel nur durch andre Hebel geheilt werden können.

So ist auch, wenn man ein Beispiel nehmen will, das Almosengeben ein Brauch, der eine Demütigung der Menschenwürde ist und zugleich gegen die gute Ordnung eines Staates verstößt. Trotzdem wird sich der Weise ihm seufzend fügen, damit seine Mitmenschen nicht durch seine Schuld in die Lage kommen, Hungers zu sterben, und um nicht das beste Teil seiner Seele, das Gefühl, zu ersticken.

Dieses natürliche Gefühl stellte Herr von Migurac seinen Brüdern als Richtschnur ihrer Handlungen hin; anderseits aber warnte er sie vor den blinden Antrieben der Leidenschaften. Diese letzteren klagte er mit ebensoviel Beharrlichkeit an, wie der Herr Abbé von Mably selbst, und hier hätten die böswilligsten Tadler keinen Widerspruch zwischen seinen Grundsätzen und seiner Lebensführung gefunden. In dem Augenblick, wo seine Taschen am wenigsten gefüllt waren, gab er die reichlichsten Almosen, und niemals befleißigte er sich mehr der Müßigkeit, als an den Tagen, wo er großen Hunger verspürte. Und später beging er drei Tage nach seiner zweiten Heirat eine Untreue gegen seine angebetete Gattin, nur um nicht der Sklave eines egoistischen Gefühls zu sein. Denn, sagte er, ebenso wie der Mensch den berechtigten Wünschen der Natur gehorchen soll, ebenso sehr soll er alle ausschließlichen Neigungen für bedenklich halten. Den Weisen erkennt man daran, daß er über dem Glück und den Ereignissen steht und jeden Vorteil, an dem seine Mitmenschen keinen Teil haben, weit von sich stößt.

Herr von Migurac bewies also durch Handlungen voll erhabener Tugend, daß seine Philosophie nicht lediglich theoretisch war. Nicht weniger rührend ist die Großmut, mit der er beflissen war, seine Zeitgenossen sogar aus seinen Irrtümern Nutzen ziehen zu lassen, indem er sein Bestreben, sie in die Bahnen des Fortschritts zu lenken, hoch über die Einflüsterungen seiner Eigenliebe stellte. Von Beispielen dieser Art ist keines ergreifender als der Einfall, der sich eines Abends seiner bemächtigt, als er über Gebühr viel getrunken hatte und beim Verlassen der Schenke mit taumelnden Schritten an der Mauer entlang streifte. Vergebens versuchten seine Freunde, ihn nach Hause zu schleppen, um ihn zu Bett zu bringen. Er klammerte sich mit unüberwindlicher Energie an einen Baum, der der verfluchten Schwelle gerade gegenüberstand, und forderte die Vorübergehenden mit Stentorstimme auf, sich anzusehen, zu welcher Verworfenheit das Uebermaß des Trinkens den Weisen herabziehen kann. Bis zu später Nachtstunde fuhr er fort, sich mit Verwünschungen zu überhäufen, und er ward nicht müde, der versammelten Menge immer wieder die Armseligkeit der menschlichen Natur vorzuhalten, die bis zum Philosophen hinauf unvollkommen ist.

Herr von Migurac betätigte dieselbe Freimütigkeit, wenn er seinen Zeitgenossen die Geschichte seines Lebens und besonders die seiner Liebschaften zur Belehrung überlieferte. Er tat dies mit soviel Wohlgefallen, daß manche sich darüber entrüstet hatten. Neben seinen Schriften, meinten sie, wären selbst Rousseaus Bekenntnisse noch beschönigt, und sie setzten seine umständliche Lebensschilderung auf Rechnung seiner Eitelkeit und Gewinnsucht. Eine Unterstellung, die man füglich als falsch erklären muß, wenn man der edeln Absicht bei dieser ganz der Erbauung geweihten Aufgabe die Ehre gibt. Er selbst hat an mehreren Stellen seiner Werke, besonders auf den letzten Seiten seines Romans: »Zelmis oder die Bekenntnisse eines Philosophen« seine Absicht mit großer Bestimmtheit ausgedrückt. Nach Erzählung seiner Abenteuer schloß der Held mit dieser pathetischen Beschwörung an den Leser:

»Mensch von Gefühl, ich habe dieses Buch geschrieben, damit du darüber belehrt würdest, bis zu welcher Maßlosigkeit eine für die Tugend geborne Seele sich zu versteigen vermag. Wenn die Schilderungen des Lasters sich darin häufen, so geschieht es, um deinen Abscheu vor ihnen zu verstärken; wenn ich seine Verlockungen nicht verhehlt habe, so ist es, um dich besser gegen sie zu wappnen. Möge unter seiner eignen Schande erliegen, wer dem Verfasser dieser Zeilen eine andre Absicht zuschreibt. Mit seinem Blut und seinen Tränen hat Zelmis diese Bilder entworfen, unbekümmert darum, ob er ausschweifend, ungeheuerlich, eitel, verwegen und indiskret erscheinen könnte, aber in dem Glauben, seine Mühe nicht verschwendet zu haben, wenn der Anblick seiner Verirrungen irgend einem seiner Brüder nur eine einzige ersparen kann.«

Wir könnten dies Kapitel unschwer verlängern. Aber wir haben sicherlich genugsam betont, wie Herr von Migurac seine Rolle als sozialer und moralischer Mensch auffaßte, so daß der Leser die selbstsüchtigen Verleumdungen seiner Feinde richtig einschätzen kann. Unser Wille ist nicht, uns zum Verteidiger aller seiner Taten zu machen, noch uns all seinen Theorien anzuschließen; denn die unbedingte Vollkommenheit ist nicht von dieser Welt. Es genügt uns, festgestellt zu haben, mit welchem Feuer er sich seiner Aufgabe widmete, mit welcher Fruchtbarkeit er sich ihrer entledigte, und mit welchem Eifer er seinen Zeitgenossen und der ganzen Menschheit alles das zugute kommen lassen wollte, was in ihm selbst Lobenswürdiges oder Tadelnswertes war. In diesem Sinne hat er nicht ohne Grund von sich sagen können, daß keiner tugendhafter gewesen sei als er; denn keiner hätte die Tugend mit aufrichtigerem Herzen und mit vollkommenerer Leidenschaft geliebt.


 << zurück weiter >>