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Achtzehntes Kapitel.
Wie Herr von Migurac aus einem armen ein reicher Mann ward

Wenige Tage später kam Herr von Migurac sehr spät von einem Abendessen in den Porcherons heim, bei dem die Damen Lange, Parrat und Sainte-Omphale, berühmte Nymphen des Kolosseums, die Gäste durch ihre Vorurteilslosigkeit und ihre schlüpfrigen Reden in Erstaunen gesetzt hatten. Als er seine Kerze mittels eines Feuerzeugs angezündet hatte, bemerkte er auf dem Tisch einen großen, mit mehreren Siegeln verschlossenen Brief. Aber da ihm der Kopf von dem Champagner noch wirr war, öffnete er ihn nicht, sondern schlief in einem Zuge bis Schlag elf Uhr, wo ihm die Frau, die seinen Haushalt besorgte, sein kärgliches Mahl brachte. Bald nach Beendigung seines Frühstücks warf er wieder einen Blick auf den Briefumschlag und langte ihn sich mit nachlässiger Bewegung heran. Es kam ihm so vor, als ob er die Handschrift erkannte. Er riß ihn auf: ein Brief fiel heraus und noch ein geschlossener Umschlag.

Der Brief war von dem Herrn Abbé Joineau, der ihm in angemessenen Ausdrücken das Hinscheiden seiner Gemahlin anzeigte und ihm einige Einzelheiten über ihre letzte Lebenszeit und ihren sehr christlichen Tod gab. Er fügte hinzu, daß sie laut Testament, das von dem Notar, Maître Guicheteau aufgesetzt wäre, ihn zum Erben ihres ganzen Vermögens einsetzte. Ihm, dem Abbé Joineau, habe sie den Auftrag hinterlassen, ihn davon in Kenntnis zu setzen und seine Befehle auszuführen.

Herr von Migurac erbrach darauf das Siegel des zweiten gefalteten Schreibens. Es enthielt nur diese, von zitternder Hand geschriebenen Zeilen:

 

»Mein Herr,

Ich will, daß die letzten Aeußerungen dieses erlöschenden Lebens Ihnen geweiht seien, wie es Ihnen stets gehörte, seit dem Tage, wo ich Sie kennen lernte. Ich will Ihnen Dank sagen für das Glück, das Sie mir gewährt haben, und Sie um Verzeihung bitten wegen der Leiden, denen Sie sich meinetwegen vielleicht aussetzten. Es hat Ihnen nicht gefallen, meine Wünsche zu erfüllen, indem Sie mir erlaubten, bei Ihnen zu leben. Ohne Zweifel war ich unwürdig, Ihr Schicksal zu teilen, und eine so schwache Seele wie die meine war nicht imstande, sich zur Höhe der Ihrigen zu erheben. Wenigstens habe ich die Genugtuung gehabt, Ihrem Willen gewissenhaft zu gehorchen und von ferne einige Gerüchte über Ihre bewunderungswürdige Laufbahn zu hören. Nun ich nicht mehr bin, wird nichts Sie verhindern, nach Migurac zurückzukommen, oder, wenn Sie es vorziehen, in Paris ein Leben zu führen, das dem Glanz Ihres Geschlechts angemessener ist, denn ich wage zu hoffen, daß Sie einer Toten nicht abschlagen werden, was das unvergleichliche Zartgefühl Ihrer Seele Sie bis jetzt zurückweisen ließ. Ich meine den Besitz meines Vermögens, das immer das Ihrige gewesen ist.

Lassen Sie mich Ihnen die Hand küssen, mein Herr, denn die Schatten des Todes verdunkeln schon diese traurigen Augen. Ach, warum sind Sie nicht hier! Wie schön wäre der Tod! Aber nein, ich hätte nicht mehr den Mut zu sterben, denn das Leben würde mir zu süß sein, und es ist besser, daß ich sterbe. Leben Sie wohl, mein Herr, alles, was ich an Glück gehabt habe, kommt von Ihnen. Empfangen Sie die dankbaren Segenswünsche Ihrer sehr demütigen und sehr treuen Gattin und Dienerin

Isabella.«

 

Obwohl Herr von Migurac seine Frau seit fast zwanzig Jahren nicht wiedergesehen hatte, war sein Zartgefühl doch so groß, daß er diese Epistel nicht lesen konnte, ohne davon gerührt zu werden, und die Tränen strömten über seine Wangen und bis aufs Papier. Was eigentlich der Grund dieser Bewegung war, wäre schwierig anzugeben. Denn der Schmerz um diesen Todesfall konnte ihn nicht so tief niederdrücken, da er ja aus freiem Willen darauf verzichtet hatte, seine Gattin auf dieser Erde wiederzusehen. Ohne Zweifel war er von der Ergebenheit, die sich in diesen Zeilen ausprägte, überrascht. Bedauern erfaßte ihn, daß dieses Dasein nicht glücklicher gewesen war, und er beklagte die Launen und Härten des Schicksals.

Wenn er den großen Edelmut der Verstorbenen erwog, so hatte er wenigstens den Trost, einen gleichen Edelmut bewiesen zu haben. Gewiß hatte seine Trennung von ihr der Marquise viele Tränen gekostet, aber sie hatte den Mann, den sie geheiratet, doch wenigstens nach seinem wahren Werte schätzen gelernt: er war wohl fähig gewesen, zu fehlen, aber seine Seele war zu erhaben, um seine Sünde nicht zu hassen und sich eine Züchtigung dafür aufzuerlegen. Ja, vielleicht hätte die Marquise weniger Tränen vergossen, wenn er eingewilligt hätte, seine Tage bei ihr zu beschließen; aber mußte die Freiheit seiner Seele eingeengt werden, und durfte er die Menschheit der Leuchte seines Geistes berauben? Die Großmut der Entschlafenen zeichnete ihm noch jetzt klar seine Pflicht vor. Mit überschwenglicher Zärtlichkeit küßte er das von seinen Tränen benetzte Papier und rief:

»Unvergleichliche Frau, unglückseliges Geschöpf, dessen Tugend so groß war wie sein Unglück, mögen deine Manen nicht zürnen, wenn ich deinem letzten Wunsch nicht willfahre. Die Beständigkeit deiner Liebe hat dir geboten, mir dein Vermögen zu schenken; die Beständigkeit meiner Ehre verpflichtet mich, es zurückzuweisen. Nur, wenn ich dir auch über den Tod hinaus widerstehe, zeige ich mich deiner würdig, wie du meiner würdig bist.«

Und indem er über den grausamen Widerspruch nachdachte, der ihre Geschicke getrennt hatte, gelobte sich Herr von Migurac, einen so zarten Stoff in Wechselstrophen zu bringen.

Unter solchen abwechselnd süßen, ernsten und schmerzlichen Gedanken verfloß der Nachmittag, und plötzlich, als der Tag sich neigte, fiel es Herrn von Migurac ein, daß er vergessen hatte zu essen. Er kleidete sich also an, ging Schlag sechs Uhr fort und begab sich nach der Schenke »Zum Grauen Kakadu«, wo er seine Gefährten wußte, denn nach einer so aufregenden Einsamkeit empfand er große Sehnsucht nach Gesellschaft.

Er wurde in seiner Erwartung nicht getäuscht: die Kneipe war übervoll von Menschen und Lärm. Er setzte sich an seinen Stammplatz, ließ sich einen Krug Bier mit Straßburger Sauerkraut bringen und begann schweigend zu essen, teils, weil er vor Hunger umkam, und teils auch, weil seine Gedanken sich von den eben erfahrenen Ereignissen nicht losreißen konnten. Um ihn her erhob sich unterdes eine hitzige Unterhaltung inmitten des Pfeifenqualms und des Geklappers der geräuschvoll auf den Tisch gesetzten Krüge und Gläser. Plötzlich klopfte ihm einer seiner Genossen, der sein Schweigen bemerkte, auf die Schulter und wunderte sich, daß er nicht wie gewöhnlich das große Wort bei der Unterhaltung führte. Er entschuldigte sich kurz und fuhr fort zu essen.

Als mehrere in ihn drangen, erklärte er endlich mit gerunzelten Brauen, daß er den Tod seiner Frau erfahren hätte und große Betrübnis darüber empfände, trotzdem ihre Beziehungen seit einigen Lustren sehr gering gewesen seien. Ein teilnehmendes Gemurmel ging durch die Gäste; alle Hände streckten sich dem Witwer entgegen, und mehrere Größen des Parnasses umarmten ihn und drückten ihn an die Brust.

In seinem Schmerz geschmeichelt, glaubte Herr von Migurac sich zu etwas mehr Mitteilsamkeit verpflichtet, und zählte mit Wärme alle Tugenden der Verstorbenen auf. Besonders betonte er das Unrecht, das er an ihr begangen, und die unerschütterliche Zuneigung, die sie ihm bewahrt hätte.

»Der beste Beweis,« schloß er, »ist der, daß ihr letzter Gedanke darauf gerichtet war, mich durch ihren Tod bereichern zu wollen, indem sie mir ihren ganzen Besitz und alles, was sie von ihrem Vater geerbt hatte, vermachte. Sie vergaß, daß dasselbe Bedenken, das mir zu ihren Lebzeiten verbot, aus ihrem Ueberfluß Vorteil zu ziehen, auch nach ihrem Hinscheiden noch besteht, auch wenn nicht jeder Reichtum für den Philosophen, der die Natur liebt und den Lehren der Gleichheit folgt, ein Aergernis wäre.«

Während Herr von Migurac diesen Ausspruch tat, ließ er seinen Blick mechanisch über die Gesellschaft schweifen, um Beifall dafür zu ernten. Er war überrascht, nur auf Stillschweigen und niedergeschlagene Augen zu stoßen. Herr Camus, ein gewandter Dialektiker, murmelte:

»Ohne Zweifel, ohne Zweifel!« …

Aber Herr Leborgne, ein elegischer Dichter, fragte mit zerstreuter Miene:

»Das Vermögen der Madame de Migurac war doch wohl beträchtlich?«

Aus der Tiefe des Kruges, den er gerade leerte, prustete der Marquis:

»Wie mir Herr Joineau sagt, hatte ihr Vater Schätze angehäuft. Man veranschlagt die Höhe ihres Vermögens auf nicht weniger als zwei oder drei Millionen Taler.«

Eine Art Schauer durchlief alle. Die Gesichter blickten feierlich im Tabaksqualm. Aber Herr von Migurac, der sich wieder Sauerkraut genommen hatte, rief mit einem Lächeln auf den Lippen:

»Glücklich der redliche Mensch, ohne andre Bedürfnisse als die der Natur! Die Millionen des Zöllners können ihn nicht in Versuchung führen!«

»Ohne Zweifel …« wiederholte Herr Camus mit weniger überzeugtem Ton.

Aber ebenso schnell erhob sich Herr Mottet, setzte sein Glas auf den Tisch und sagte emphatisch:

»Möge unser berühmter Freund mir verzeihen, wenn mein Empfinden bei dieser Gelegenheit von dem seinen abweicht und wenn ich ganz im Gegenteil behaupte, daß es seine Pflicht ist, das ihm bestimmte Vermächtnis anzunehmen.«

Bei dieser Erklärung glaubte Herr von Migurac vor Erstaunen vom Stuhle zu fallen und betrachtete wiederum seine Nachbarn in der Erwartung, aus ihren Gesichtern dieselbe Verblüffung zu lesen. Aber die Mehrzahl schwieg. Mehrere schüttelten mit zögernder, sogar zustimmender Miene den Kopf.

Der Aufforderung, sich zu erklären, folgte Herr Mottet mit Nachdruck und Salbung. Das Geständnis ihres edeln Kollegen berechtigte ihn zu denken, daß Herr von Migurac zu Lebzeiten seiner tugendhaften Gattin nicht alle seine Verpflichtungen gegen sie erfüllt hätte. Es gäbe nur ein Mittel, sein Unrecht zum Teil wieder gutzumachen: nämlich gewissenhaft ihren letzten ausdrücklichen Willen auszuführen. Soviel Seelengröße darin läge, die Wohltaten einer Lebenden zurückzuweisen, so viel blinder, barbarischer Eigensinn wäre es, die letzten Wünsche einer Toten zu mißachten. Just die Ueberwindung, die Herr von Migurac sich auferlegen, das Opfer seines eignen Stolzes, das er bringen müßte, würden die rührendste Sühne für seine Verirrungen sein.

Auf diese Rede folgte ein solcher Ausbruch der Begeisterung, daß unser Edelmann ganz betäubt wurde und einen Augenblick sprachlos war. Doch faßte er sich und erwiderte, mit der Faust auf den Tisch schlagend, daß er unter dem Vorwand der Buße sich selbst zum Opfer bringen könnte, aber wäre es geziemend, die Philosophie ebenso zu behandeln? Welcher Triumph für ihre Verleumder, wenn einer ihrer erwiesensten Adepten die glorreiche Armut verleugnete und dem schändlichen Götzen unsrer Gesellschaft opferte!

Durch seinen ersten Erfolg ermutigt, gab Herr Mottet eine schlagende Antwort, wieder unter allgemeiner Zustimmung.

Ohne Zweifel sei der Reichtum in den Augen der Natur ein Verbrechen. Aber folgt daraus, daß der Weise bei dem gegenwärtigen Zustand der Dinge ihn auch ängstlich meiden solle? Liege in dieser ausschließlichen Sorge nicht etwas Feigheit, eine Art von demütigendem Bekenntnis, daß seine Tugend fähig sei, in den goldenen Banden Plutos zu unterliegen? Möge der Weise nicht nach Vermögen streben, möge er alles, was unreinen Ursprungs ist, verwerfen – nichts könnte besser sein. Aber auf einen ehrlich erworbenen Besitz verzichten, das sei nicht Vernunft, sondern Wahnsinn oder Kleinmut. Da unsre Gesellschaft einmal so beschaffen ist, daß die Ungleichheit darin herrscht, würde nicht der Philosoph das schönste Beispiel dadurch geben können, daß er zeigte, wie selbst das Gold nicht imstande sei, ihn zu verderben? Nicht dadurch, daß er verzichte, sondern dadurch, daß er den ausgezeichnetsten Gebrauch davon mache, werde er wahrhaft auf der Höhe seiner Pflicht stehen. Auf seiner Weigerung zu beharren, würde von seiten des Herrn von Migurac nichts als eine gewöhnliche und kleinliche Handlungsweise sein. Seine Millionen dem Dienste der Philosophie, der Künste und ihrer Jünger zu weihen: das sei eine seiner würdige Aufgabe.

Donnernder Applaus lohnte diese hochtrabende Rede. Herr von Migurac suchte sich vergebens zu verteidigen; er stieß nur auf Widerspruch, und als es Mitternacht schlug, war er mit seinen Gründen zu Ende. In dem Gefühl, daß seine Vernunft nicht hinreichte, um das strittige Problem zu lösen, entschloß er sich, es dem Zufall anzuvertrauen, und warf ein Dreifrankenstück in die Höhe. Wenn der Kopf des Königs beim Herunterfallen oben läge, würde er sich in Madame Isabellas Wunsch fügen. Zwanzig Paar Augen senkten sich schnell, und zwanzig Lippenpaare riefen ihm Beifall zu: denn allen sichtbar schrieb ihm das Bildnis Ludwigs XV. seine Pflicht vor: er sollte reich sein. Herr von Migurac ergab sich also in sein Schicksal. Er hätte seinen Sinnen nicht getraut, wenn er beim Hinausgehen das spöttische Augenzwinkern und das Achselzucken gesehen hätte, das mehrere seiner Kollegen austauschten, indem sie ihn halblaut einen Heuchler und Komödianten schalten.


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