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Vierzehntes Kapitel.
Betrachtungen, die Herr von Migurac in seinem Gefängnis anstellte

Wie die meisten Männer der Tat, denen ein solcher Unfall Fesseln anlegt, dachte Herr von Migurac in der ersten Zeit seiner Gefangenschaft nur daran, auf welche Weise er entkommen könnte. Obwohl die vielfachen Wechselfälle seines Lebens ihn schon seit langer Zeit gegen Schicksalsschläge abgehärtet hatten, stand er bei dieser Gelegenheit doch nicht auf der Höhe seiner gewöhnlichen Philosophie, sondern verschwendete seine reiche Einbildungskraft, um sämtliche Listen der Gefangenen aller Zeiten von neuem zu erfinden und sie noch zu vermehren. Abwechselnd versuchte er, den Kerkermeister und dessen Frau und Tochter zu bestechen, die Eisenstäbe seines Fensters zu durchfeilen, die Türfüllung zu durchbrechen, die Decke zu heben, den Fußboden auszuhöhlen, die Zwischenwände zu durchbohren und auf hunderttausenderlei Weise mit der Außenwelt oder den andern Gefangenen in Verbindung zu treten. Er bekundete bei diesen Kunstgriffen eine derartige Erfindungsgabe, daß man ihn zum Lohn für seine Bemühungen in eine andre Zelle brachte. Sie war eng und übelriechend und gewöhnlich für die Gefangenen aus dem Volk bestimmt; in Ansehung seiner erlauchten Geburt hatte man anfangs nicht gewagt, ihn darin einzuschließen. Er geriet sogleich in schreckliche Wut, zerbrach das wenige Gerät, das man ihm gelassen hatte, und erklärte sich für krank, um die Aufmerksamkeit seiner Kerkermeister zu erzwingen. Der Mann der Wissenschaft, der zu Rate gezogen ward, grinste absichtlich über seine Beschwerden und zog sie ins Lächerliche. Außer sich, erklärte Herr von Migurac, daß er sich tot hungern würde; und mehrere Tage rührte er tatsächlich die mittelmäßige Kost, die man ihm reichte, nicht an. Doch der einzige Gewinn, den er aus seinem Unternehmen zog, war der, daß er sich ernstlich krank machte. Sein Stolz verbot ihm, sich fernerhin zu beklagen. Aber er wurde in zwei Wochen so gelb und mager, daß man sich herabließ, ihn wieder in sein früheres Kämmerlein zu bringen, damit seine Henker im Fall seines Todes sich glänzend von dem Vorwurf der Unmenschlichkeit reinigen könnten.

Er starb nicht, sondern genas sogar wieder, dank seiner außerordentlich kräftigen Konstitution. Aber diese Krankheit, die zwei oder drei Monate nach seiner Einkerkerung auftrat, tat das letzte, um die Heftigkeit seines Wesens zu brechen. Da er sich in der Gewalt eines elenden Krautjunkers wußte, den er beleidigt hatte, und nirgends einen Weg zum Heil sah, ließ er sich von düsterer Melancholie überwältigen. Vielleicht wäre er wirklich nach und nach an Auszehrung dahingeschwunden, wenn nicht Jungfer Lisbeth, das blonde und gefühlvolle Töchterlein seines Kerkermeisters, Mitleid mit einem Kavalier von so edelm Benehmen empfunden und ihm eine zwiefache Linderung seines Leidens erwirkt hätte.

Das erste, was ihre Herzensgüte ihr eingab, war, daß sie ihm einen kleinen Käfig mit zwei Kanarienvögeln schenkte. Herr von Migurac nahm sie mit wunderbar großer Freude an. Die körperliche Einsamkeit ist so sehr gegen die menschliche Natur, daß die Gesellschaft dieser beiden Kanarienvögel ihm eine unglaubliche Erleichterung bedeutete. Stunden schlug er damit tot, ihnen zuzusehen, wie sie flatterten, von Stock zu Stock hüpften, in ihrer Sprache schwatzten und ihm Körner und Brotkrumen von den Fingern pickten, die er ihnen mit zärtlichen Worten hinhielt. Und der Anblick ihrer Mätzchen nährte das Gefühl des Lebens in ihm, das bei andern Gefangenen durch die Einsamkeit so schmerzhaft verletzt wird.

Jungfer Lisbeth brachte ihm außerdem noch einen ansehnlichen Packen von Drucksachen. Sie hatten ehemals einem Gefangenen gehört, dessen Verbrechen darin bestanden hatte, in der Landgrafschaft Ansichten zu verbreiten, die dem Gottesgnadentum der Fürsten zuwiderliefen. Herr von Migurac war seit mehreren Jahren des Lesens alter Scharteken entwöhnt, und es vergingen auch zwei Tage, ohne daß er die Bücher anrührte; so völlig war er in das Vergnügen der Unterhaltung mit seinen Vögeln vertieft. Am dritten Morgen sah er gleichgültig auf die Titel; es waren vorwiegend Werke der modernen Philosophie von Jean-Jacques Rousseau, Voltaire, Diderot, Helvetius und andern weniger berühmten Schriftstellern. Herr von Migurac erkannte mit Rührung einige Bände, die er in den Händen seines Vaters gesehen hatte, wie die Gespräche des Herrn von Hontan mit einem Huronen und zwei oder drei Abhandlungen des Abbé von Saint-Pierre und des Präsidenten von Montesquieu.

Er schlug sie zuerst gleichgültig auf und gähnte bei den Kapiteln der Einleitung. Doch ehe noch der erste Nachmittag vorüber war, hatte sich eine erstaunliche Wißbegierde seiner bemächtigt, und in den ersten vierzehn Tagen, die er brauchte, um seine ganze Bibliothek von Anfang bis zu Ende zu lesen, wartete er mit einem Buch in der Hand auf den Aufgang der Sonne und legte es erst nieder, wenn das himmlische Gestirn schon lange seine Fackeln gelöscht hatte; denn seit dem Tage, wo er versucht hatte, seinen Strohsack in Brand zu stecken, gab man ihm keine Kerze mehr. In dem Maß, wie er tiefer in die Bücher eindrang, vollzog sich in seiner Seele eine bedeutsame Wandlung. Die Lehren, die er darin fand, weckten in seinem Herzen vergessene Widerklänge und taten ihm ungeahnte Perspektiven auf. Vor seinen geöffneten Augen schien alles verändert, das Leben, die Menschen und er selbst; und fassungslos vor Erschütterung und Freude war er wie ein Blinder, der die Lider zum ersten Male zögernd zum Licht aufschlägt.

Mit Erstaunen sah der Kerkermeister das Gesicht seines Gefangenen sich erheitern und wieder aufblühen. Am Abend des fünfzehnten Tages schloß Herr von Migurac den achtundzwanzigsten und letzten Band seiner Sammlung in demselben Augenblick, wo die strahlende Sonne in ihrem Purpur zur Rüste ging und mit ihrem letzten Strahl seine Zelle erleuchtete. Während er in tiefem Sinnen die empfangenen Lehren noch einmal durchdachte, fühlte er seine Brust sich weiten. Er brach in Schluchzen aus, und ein Strom von Tränen rieselte über seine Wangen. Aber sein Schluchzen war nicht schmerzhaft und seine Tränen nicht bitter. So weinte Moses angesichts des gelobten Landes, so Pelops, als er aus der Hand der Götter die ersten Gesetze für die Menschheit empfing. Herr von Migurac streckte seine Arme nach dem vergitterten Fenster aus gegen den Himmel, der mit Einbruch der Nacht verblaßte, und von seinen Lippen rang sich dieses Gebet:

»Höchstes Wesen, Gott, Natur oder Jehova, mit welchem Namen du auch genannt wirst, ich segne dich, da ich in diesem Kerker das Geheimnis des Glücks und meines Schicksals erfahren habe. Heiliges Wesen, öffne deinem Kinde dein Herz, höre meinen Schwur: ich weihe den Rest meiner Tage der Pflege der Tugend und dem Wirken für das Glück der Menschheit.«

In dieser Nacht fand Herr von Migurac keinen Schlaf, aber seine Schlaflosigkeit war voller Wonne. Er wurde nicht müde, sich bis ins Unendliche alle Wahrheiten vorzustellen, die er bis dahin verkannt hatte und die ihn jetzt blendeten. Zugleich verglich er diese erhabenen Grundsätze mit den verschiedenen Handlungen seines Lebens. Er gestand seine Irrtümer ein, aber er trauerte nicht über sie; denn er wußte, daß sie nur vorübergehend, nur die Folge seiner Unwissenheit und einer unvollkommenen Erziehung gewesen waren. Von nun an würde er das Böse, das er getan hatte, ohne Mühe hundertfach und mehr wieder gutmachen.

Ach, warum waren ihm die väterlichen Lehren nicht länger zugute gekommen? Mit Rührung stellte er sich vor, wie die bedachtsame Weisheit des Marquis Henri seine Vernunft frühzeitig freigemacht und ihm geholfen hätte, sein Gewissen zu reinigen und die Vorurteile, die seinen Geist verdunkelten, abzuwerfen. Ja, wie jedes menschliche Wesen war er ursprünglich mit edeln Neigungen begabt, und nur die Berührung mit einer verderbten Kultur hatte ihn zufällig vom rechten Wege abbringen können. Er prüfte das ganze Gewebe seines Lebens und war über seine Schlechtigkeiten betrübt; indessen freute er sich auch, denn sie offenbarten sich ihm als die verhängnisvollen Folgen der mangelhaften sozialen Einrichtungen. Balgt sich nicht jedes Kind mit Bauernkindern und beweist so, daß es die tatsächliche Gleichheit der Menschen ahnt? Später hatte er dem Stolz und Despotismus gefrönt; aber hatten nicht der Abbé Joineau und Madame Olympia ihn überzeugt, daß ein Mensch das Recht hat, über andre zu herrschen? Allerdings hatte er aus Berechnung ein junges Mädchen geheiratet, das er nicht liebte. Aber muß der Geist des Besitzes, der in der ursprünglichen Weltordnung nicht vorhanden ist, nicht notwendig Habgier und Selbstsucht erzeugen? Freilich hatte er den Madame Isabella geschworenen Eid der Treue gebrochen und sich Ausschweifungen ergeben; aber wie könnte der Mensch, der der Spielball seiner Gefühle ist, sich bei vollem Verstande durch einen ewigen Schwur fesseln? Und wird nicht der Wechsel der Verbindungen, den die menschlichen Gesetze brandmarken, durch die Natur selbst befürwortet? Ja, er hatte sich vor dem Glanz der Könige und vor der falschen Größe gebeugt; ja, eine irrige Auffassung der Ehre hatte ihn seinesgleichen mit eignen Händen töten lassen. Er hatte sogar das Handwerk des Brudermordes betrieben; aber wie oft hatte eine geheime Stimme ihm seinen Irrtum kundgetan! Nach bürgerlichen und politischen, von Menschen geschmiedeten Gesetzen waren seine Uebertretungen zahlreich, und nicht ohne Grund war er jetzt hinter Schloß und Riegel. Aber war nicht nach natürlichen Grundsätzen selbst Fräulein von Stinkenschnabel Gemeingut?

Je mehr Herr von Migurac sich seine Lebensgeschichte ins Gedächtnis rief, um so überzeugter ließ er sich die Gerechtigkeit widerfahren, daß sein Herz immer rein geblieben war. Von seinen Vergehen waren die einen nur die Frucht einer verkehrten Erziehung, und die andern galten nur nach den willkürlichen Satzungen der Gesellschaft für Fehler. Indem er sich mit Demut seiner Vergehen anklagte, empfand er doch zugleich mit unaussprechlicher Wollust, daß er vielleicht trotz alledem der tugendhafteste und gefühlvollste aller Menschen geblieben war, der nie absichtlich gegen die Natur gesündigt hatte.

Sobald ihm also die notwendige Ordnung der Dinge, die Grundlagen des Staates und die unwandelbaren Menschenrechte klar zu werden begannen, hörte er auch auf, sich über sein Gefängnis zu entrüsten; im Gegenteil wurde ihm alles durch ein inneres Licht verklärt. Ja, zweifellos war seine Gefangensetzung nach bürgerlichem Recht anfechtbar und nach der Ordnung der Natur abscheulich, da die Vernunft jeden Menschen lehrt, daß die Freiheit sein unveräußerliches Erbteil ist. Aber das Bewußtsein der Ungerechtigkeit erregte ihn nicht mehr. Da jede Zivilisation verdammenswert ist, erkennt der Gerechte sich daran, daß er am meisten leiden muß. Lykurg ist verbannt, Romulus ermordet worden, Christus am Kreuz gestorben. Weshalb sollte man sich wundern, daß Louis Lycurgue in Ketten stöhnte? War seine Seele nicht frei geblieben im Dunkel des Kerkers? Drang seine Vernunft nicht durch dicke Mauern? Gibt es Fesseln für den Weisen? Wie könnten Tyrannen Gewalt über ihn haben?

Von der Begeisterung, die ihn verzehrte, angefeuert, empfand Herr von Migurac das Bedürfnis, ihr Ausdruck zu geben. Federn, Papier und Tinte wurden ihm von seinem mitleidigen Kerkermeister nicht verweigert, und er beeilte sich, die in ihm gärenden Gefühle durch Niederschrift zur Ruhe zu bringen. Da er aber zu einem solchen Geschäft wenig geschickt war, schwitzte er anfangs große Tropfen auf sein weißes Papier. Jedoch schon nach wenigen Tagen wurden auch seine Finger von Eifer ergriffen, und es war eine unaussprechliche Erleichterung für ihn, die tintegeschwärzten Blätter aufzustapeln, auf denen er seine Betrachtungen niederlegte.

In drei Monaten verbrauchte er zwei Pinten Altes Maß, nicht ganz ein Liter. D. Uebers. Tinte, die Federn von zwei Gänsen und zehn Pfund weißes Papier. Da er es verschmähte, sich an die peinlichen Vorschriften der gewerbmäßigen Schreiber zu binden, ergoß er sich ohne Unterschied in Prosa oder in Versen, in Form von Abhandlungen, in Beichten, Betrachtungen, philosophischen und andern Erzählungen, Gesprächen, Episteln und Allegorien. Er hatte eine so glückliche Erfindungsgabe, daß er nach Verlauf von wenig Wochen, obwohl Herrn Joineaus Stunden recht weit zurücklagen, seine Sätze beredt aneinander knüpfte und den Stil der Größen der enzyklopädischen Sekte zum Verwechseln wiedergab. Nur die Orthographie ließ ihn immer im Stich, ohne Zweifel noch ein Ueberbleibsel seiner standesgemäßen Erziehung.

Aber seine »Ode an Diderot«, seine »Rede über die Tugend«, seine »Unterhaltungen über die wahre Natur des Menschen« und vieles andre, das er im ersten Rausch seiner Wiedergeburt verfaßte, machen dem Zartgefühl wie der Fülle seines Geistes in gleichem Maße Ehre. Ehrlich gesagt, erreichte die Mehrzahl seiner Schöpfungen noch nicht den Gipfel der Kunst. Aber eine glückliche Fügung hat die erhalten, die man als sein Meisterwerk betrachten kann.

Kurze Zeit vor seiner Gefangennahme hatte er durch eine Zeitung zufällig den Hintritt von Madame Olympia erfahren, die im Alter von siebenundsechzig Jahren verschieden war. Diese Nachricht, die über ein Jahr alt war, als sie ihn erreichte, hatte ihn nicht sehr schwer getroffen, da seine Liebschaft mit Fräulein von Stinkenschnabel gerade im besten Zuge war und er keine Muße hatte, Trauer anzulegen. Aber gleich nach seiner Wiedergeburt im Gefängnis empfand er lebhaft, wie grausam der Verlust der Mutter für ein Herz von gutem Schlage ist. Er brachte ein elegisches Gedicht zur Welt, in dem er den Schmerz über ein solches Unglück besang, und zugleich die Heiterkeit, die der tugendhafte Mensch, der auf die Natur vertraut, trotzdem bewahrt.

Hier folgen, urkundlich festgestellt, die letzten Strophen dieses Kunstwerks:

»Du, deren Name schon der Götter Ohr
Gleichwie ein Klang Elysiums berückt, –
Und er verbleicht doch vor dem Lilienflor,
Mit dem sich wollustvoll dein Busen schmückt:

O Schöpf'rin meiner Tage, zürne nicht,
Daß trotz des Unglücks Stachel aus der Brust,
Der wunden, neu des Fühlens Quelle bricht
Und meine Seel' erfüllt mit seltner Lust!

In dieser Brust voll Trauer flüstert's leise:
›Bezwing den Gram, der dir am Herzen frißt.
Vergiß nicht, Freund, daß die Natur der Waise
Stets eine zweite Mutter ist!‹«

Nur eine übelwollende Kritik könnte wegen des mangelnden Vollklangs der Reime leugnen, daß Herr von Migurac alle Gaben einer für die Dichtkunst geborenen Seele besaß.

Der glücklichen Veränderung, die sich in ihm vollzog, dankte er auch die Verbesserung seiner Lage, denn der Kerkermeister, der Befehl hatte, jede Woche einen Bericht über den Zustand seines Gefangenen aufzusetzen, war sehr erstaunt über seinen Verbrauch von Tinte und Papier und über den Fleiß, mit dem er unablässig über den Tisch gebeugt arbeitete. Da anderseits das Benehmen des Herrn von Migurac sehr verändert war und er, abgesehen von den Stunden der Erregung, eine ungewöhnliche Sanftmut und erstaunliche Gleichgültigkeit bezeigte, so hielt es der Mann für gut, seine Vorgesetzten in Kenntnis zu setzen, daß er um den Geisteszustand seines Gefangenen fürchten müßte.

Darauf schickte man Herrn von Migurac den Gefängnisarzt, einen dicken, in der französischen Sprache wenig bewanderten Deutschen. Er fand unsern Edelmann gerade im Feuer der Begeisterung, als er mit großen Schritten in seiner Zelle auf und ab ging und unverständliche Laute ausstieß. Auf die Fragen, die ihm gestellt wurden, antwortete Herr von Migurac mit engelhaftem Lächeln und einer wirren Ansprache, in der er die Metamorphose seiner Seele erklärte; er machte Gebärden vor dem Fenster und rief den Himmel zum Zeugen seiner Wiedergeburt. Darauf ging er mit begeisterter Miene auf den Arzt zu und bat ihn, den Landgrafen mit seinen Gefühlen bekannt zu machen. Aber der dicke Mensch wich entsetzt zurück und zog schleunigst die Tür hinter sich zu. Als er noch einen Blick durch das Guckloch wagte, bemerkte er, wie der Gefangene ihm Küsse zuwarf, um ihm zu beweisen, daß er keinen Groll gegen ihn hegte, sondern ihm im Gegenteil dafür dankte, seine Pflicht mit Menschlichkeit erfüllt zu haben. Dieser hielt auch seinen Wahnsinn für ganz erwiesen und verfaßte in diesem Sinne einen Bericht, der dem Direktor des Gefängnisses überbracht wurde. Der schickte ihn dem Minister des Innern, der acht Tage darauf mit dem Landgrafen Rücksprache nahm, gerade als dieser Potentat vom Spiele kam und seine Kutsche besteigen wollte.

Nun war der Landgraf gerade guter Laune, weil er im Landsknecht vierzig Pistolen gewonnen hatte, und er überlegte, daß es unvernünftig wäre, einen geisteskranken Edelmann bis an sein Lebensende mit seinem Brot zu füttern. Deshalb befahl er mit vielen Flüchen, ihn bis zur Grenze der Markgrafschaft zu befördern, die vier gute deutsche Meilen entfernt war, und ihn dort in Freiheit zu setzen, mit der Androhung, daß er gehängt würde, wenn er sich wieder in Stinkenschnabel blicken ließe.

Ungefähr drei Wochen also nach dem Besuch des Arztes hörte Herr von Migurac, als er gerade dabei war, den Käfig seiner Kanarienvögel zu reinigen und mit ihnen in ihrer Sprache zu plaudern, ein Geräusch von Stiefeln und Säbeln in dem Gange vor seiner Zelle. Als er sich umwandte, sah er den Polizeidirektor, Baron Strumpf von Donnenberg, von vier Schergen begleitet, vor sich stehen. Dieser stand stramm aufgerichtet an der Türschwelle, schleuderte ihm einen strengen Blick zu und verkündete ihm die außerordentliche Gnade Seiner fürstlichen Hoheit. Er sollte sich am nächsten Tage in der Frühe zur Abreise bereit halten, und übrigens würde er gehängt werden, wenn er jemals wieder einen Fuß in das Fürstentum setzte.

Als der Teutone seine Rede beendet hatte, wandte ihm Herr von Migurac sein lächelndes Gesicht zu und bat ihn mit großer Höflichkeit, den Landgrafen seiner Dankbarkeit zu versichern:

»Denn, nachdem ich ungerecht verhaftet und unter falscher Anklage im Gefängnis gehalten worden bin, war kein Grund vorhanden, weshalb Ihr Herr mir nicht auch noch den Kopf abschlagen lassen sollte. Ich danke ihm also für alles Böse, das er mir nicht zugefügt hat. Gern würde ich ihm auch für das Gute danken, das er mir ohne seinen Willen getan hat. Aber das geht über das Begriffsvermögen eines Fürsten, wäre er selbst Kurfürst. Ich danke Seiner Hoheit also, daß er meinem Körper die Freiheit zurückgibt, die er meiner Seele nicht rauben konnte. Haben Sie des weiteren die Güte, ihn zu überzeugen, daß ich ganz sicher sein müßte, in irgendeinem andern Winkel des Globus langsam geschmort zu werden, ehe es mir einfallen könnte, je wieder einen Fuß in sein Reich zu setzen.«

Dem Herrn Baron von Donnenberg, der mehr Französisch verstand als der Arzt, dünkte diese Sprache mehr unehrerbietig als wahnsinnig. Da er aber glücklicherweise nicht die Aufgabe hatte, sein Gutachten über den Gefangenen abzugeben, sondern ihn mit dem Willen des Fürsten bekannt zu machen, begnügte er sich damit, auf dem Absatz kehrt zu machen und mit seinem Gefolge abzuziehen.

Wie bewunderungswürdig sich auch Herrn von Miguracs Philosophie entwickelt und mit welchem Mute er sein Schicksal auf sich genommen hatte, so konnte er sich die Aussicht auf die Freiheit doch nicht vorstellen, ohne daß ihm schwindelte. Im voraus atmete er den Duft der Wiesen und des fließenden Wassers, die Frische der Felder und die milde Wärme der Sonne auf dem Grase. In seinem Rausch ging er in seiner Zelle auf und ab und dachte nicht einmal daran, die Tränen abzuwischen, die aus seinen Augen flossen. Als er aber den Käfig erblickte, in dem die beiden gelben Vögelchen, seine Gefährten, herumhüpften, fühlte er sein Herz von einem Vorwurf bedrückt.

»Wie?« rief er, »Grausamer! Du bist schon beim Gedanken an die Freiheit vor Freude berauscht, und du konntest zwei unschuldige Geschöpfe, die auch ein Anrecht auf Glück haben, in Ketten halten, um deine Selbstsucht zu belustigen?«

Mit diesen Worten nahm Herr von Migurac den Käfig von dem Nagel, an dem er hing, kletterte auf einen Schemel und öffnete die Tür aus Eisendraht an der Seite des offenen Fensters. Aber die erstaunten Vögel blieben auf dem Boden ihres Häuschens geduckt sitzen und dachten gar nicht daran, fortzufliegen. Voller Trauer stellte der Marquis sich den elenden Verfall der Völker vor, die vom Despotismus zermalmt und sogar unfähig geworden sind, die Wohltaten der Freiheit zu würdigen … Indessen piepste einer der Kanarienvögel, der kühner geworden war, und hüpfte auf das Fenstersims. Pfeifend und den Kopf wiegend, entschloß sich der andre, ihm zu folgen, und plötzlich entfalteten beide ihre Flügel und flogen nach einem Kastanienbaum, in dessen Laub sie verschwanden.

Herr von Migurac schloß das Fenster wieder und stieg von seinem Schemel herunter, von reiner Freude über seine Tat erfüllt. Hatte er nicht das erste Werk seines neuen, zukünftigen Lebens vollbracht, dessen Ziel der Kampf gegen Vorurteile und die Förderung des allgemeinen Glückes sein sollte? Schon sah er sich allenthalben als Verteidiger der gerechten Sache, als Zerstörer der Ungerechtigkeit, als Vorkämpfer für Natur und Vernunft. Und es schien ihm, als ob diese letzte Nacht seiner Sklaverei nie zu Ende ginge. Endlich schlief er ein und hatte wunderbare Träume.

Er erwachte sehr früh, gerade als der erste Schimmer der Morgenröte an dem Dachfenster verblaßte. Obwohl der Augenblick seiner Abreise nahe war, konnte er seine Ungeduld, den Himmel wiederzusehen, doch nicht bezwingen; er stieg auf den Schemel und blickte durch die Scheiben. Ein unerwarteter Anblick trübte seinen Blick. Auf den Steinen der Brüstung lagen die leblosen Körper der kleinen gelben Vögel, die zurückgekommen waren, um vor dem Käfig zu sterben, der ihnen nicht mehr zugänglich war.

Herr von Migurac beklagte dieses Unglück, aber seine Gedanken waren zu erregt, um sich dabei aufzuhalten. Um acht Uhr führten ihn zwei bärtige Gerichtsdiener aus seiner Zelle und schoben ihn in eine Landkutsche, die sich alsbald in Bewegung setzte. Nach zwei Stunden erreichte er die Grenze und nahm von seinen Wächtern Abschied, die ihm etwas Kleingeld ablieferten. Am selben Abend reiste er nach Paris, der einzigen Stadt, die fortan würdig war, den Schauplatz seiner Tätigkeit zu bilden.


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