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Siebzehntes Kapitel.
Der Leser wird an andre Orte geführt

Es dauerte nicht lange, bis Herr von Migurac sich in den literarischen Kaffeehäusern und zwei oder drei Salons einen gewissen Namen gemacht hatte. Nicht daß er zu jenen Autoren gehört hätte, um deren Werke die Buchhändler sich reißen, und die sie nachmachen, wenn sie sie nicht veröffentlichen können, oder den die vornehmen Damen sich streitig machen wie einen Mops nach der neuesten Mode. Aber einige seiner Schriften waren durch ihre ungewöhnliche Darstellungsweise leicht verständlich; die Art, in der die Kritiker über mehrere herzogen, lenkte die Neugierde auf sie; und endlich war ein gewisses Gerücht von Originalität, das seine Person umgab, seinem Ruf als Schriftsteller günstig.

In der Schenke »Zum Grauen Kakadu« genoß er gemeinsam mit Herrn Mottet königliches Ansehen. Selbst die Eifersucht verschonte ihn dank seiner Gutmütigkeit, die sogar Literaten zu entwaffnen vermochte. Man gestand ihm einen besonderen Geist und Gefühl zu, und die Federfuchser fühlten sich durch die Erfolge eines Marquis nicht beleidigt; sie schrieben sie seiner Geburt und seiner Erziehung zu.

Mehrere Damen der besten Gesellschaft, wie die Präsidentin von Vergne und die Gräfin von Pontruan, setzten ihren Stolz darein, ihn bei ihrer Toilette zu haben. Zu jener Zeit hatte die Mode die Wortspiele abgetan, um zu den Schriftstellern überzugehen, ehe sie sich den Pferderennen zuwandte. Deshalb sahen die Leute von Stand mit Befriedigung einen der Ihrigen unter den Löwen des Tages und wußten es ihm Dank, daß er weder das Aussehen noch die Ungeschliffenheit genialer Flegel hatte. Die Damen bildeten gern einen Kreis um ihn, wenn er seine Theorien entwickelte oder nach dem Abendessen seine Verse deklamierte. Diderot, der einmal mit ihm bei Fräulein von Lespinasse speiste, versicherte ihn seiner Achtung. Wenn man ihn in seinem schlichten Rock von schwarzem, geknöteltem Wollstoff mit weißer Weste und ebensolcher Hose, buntgewirkten Strümpfen und niedrigen Schuhen mit silbernen Schnallen erscheinen sah, ging sein Name von Mund zu Mund.

Doch eine unvorhergesehene Katastrophe warf wiederum seine ganze Lebenseinteilung über den Haufen.

Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß der Marquis, seit er vor einer schönen Reihe von Jahren aus Migurac verschwunden war, von denen, die er verlassen, nichts mehr gehört hätte. Seine Frau Mutter und Madame Isabella hatten nicht nachgelassen, bis sie wußten, was sein Schicksal gewesen war; und trotzdem er seinen Wohnort so häufig wechselte, hatte er doch ihre Sendschreiben erhalten. Die Form derselben war verschieden, ihr Inhalt jedoch stets der gleiche. In ihrer hohen, steilen Handschrift unterrichtete die verwitwete Marquise ihren Sohn über ihren Gesundheitszustand, den Ertrag der Aecker, und drückte den Wunsch aus, daß er bald seine Reise beendet haben und ihnen das Datum seiner Heimkehr anzeigen möge.

Die Briefe der jungen Marquise mit ihren abschüssigen Linien und ungleichen, schiefen Buchstaben, die aufs Geratewohl hingeworfen schienen, waren nichts als lange, flehentliche Bitten an den Marquis. Ach, daß er käme, um seinen Platz im Schloß wieder einzunehmen! Sie selbst würde sich in den Schatten stellen, sich zurückziehen, wenn ihre Gegenwart ihm verhaßt wäre! Sie nähme die ganze Schuld ihrer Uneinigkeit auf sich, und wenn er sich nicht erbitten ließe, sondern den Aufenthalt in fremden Ländern vorzöge, so beschwöre sie ihn, wenigstens zu gestatten, daß sie ihm einen Teil ihrer Einkünfte zukommen ließe.

Es konnte nicht ausbleiben, daß Herrn von Miguracs außerordentliche Empfindsamkeit durch solche Aeußerungen gerührt wurde. Obgleich er in seinen stürmischen Jahren selten Zeit gefunden hatte, ihr Nachricht von sich zu geben, hatte er doch etwa vier Briefe an die verwitwete Marquise geschrieben, um sie seiner Achtung zu versichern, und fünf oder sechs an seine Frau, in denen er ihr seine Hochschätzung vor dem Adel der Empfindung, den sie ihm bewies, zollte. Er verglich sie mit Ariadne und andern Heldinnen des Altertums, klagte sich sehr reumütig seiner Abneigung gegen das Eheleben an, entschuldigte sich ausdrücklich, ihr Schmerzen bereitet zu haben, wies unerbittlich ihr Geld zurück und ermahnte sie, einen Unglücklichen aus ihrem Herzen zu verbannen und ihre Leidenschaft einem würdigeren Gegenstand zuzuwenden.

Solche Episteln, obwohl die Marquise sie mit Entzücken empfing, verfehlten nicht, sie hinterher in einen um so tieferen Kummer zu versenken. Beim Zeitungslesen war es ihr vorgekommen, daß sie darin den Namen des Herrn von Migurac und einige seiner Abenteuer fand, und sie fragte sich, warum sie von allen Frauen die einzige wäre, die er nicht lieben könnte. Mehrere Male war sie im Begriff abzureisen, um ihn aufzusuchen und sich ihm zu Füßen zu werfen. Ihr schien, daß sie den Ton gefunden hätte, um ihn zu überzeugen. Aber ihre natürliche Zaghaftigkeit und die Furcht, ihn zu reizen, hielten sie zurück.

Sie blieb in ihrem Schlosse vergraben, an dem sie nach der Flucht ihres Gatten keine Reparatur geduldet hatte. Die Zuvorkommenheit der Edelleute des Landes berührte sie nicht, obwohl sie auffallend war: sie galt nicht nur ihrer Schönheit, sondern, nachdem Herr Moriceau im Jahre 1770 gestorben war, auch ihrem Vermögen, dem größten auf dreißig Meilen in der Runde.

Ihr Reichtum ließ sie kalt. Die einzige Gesellschaft, die ihr angenehm war, war Maguelonne, die Louis Lycurgue genährt, der alte Pierre Antoine und Gilles, die ihm gedient, und Herr Joineau, dessen Lehren bei ihm so wenig gefruchtet hatten. Ihr ausschließliches Vergnügen war, die Hütten der Bauern zu besuchen und dort im Namen des Marquis reichliche Almosen auszuteilen, die ihm eine Fülle von Segenswünschen eintrugen, von denen er keine Ahnung hatte. Manchmal lud sie auch alle kleinen Kinder des Dorfes zu appetitlichen Mahlzeiten ein und fand mit bittrer und doch süßer Empfindung in dem Gesicht irgend eines Louiset oder Henricou, einer Marichette oder einer Thereson, den gleichen Schwung der Nase, das klare Auge und den hochmütigen Zug um den Mund von Louis Lycurgue wieder. Dann wurde ein Aufruhr von widersprechenden Gefühlen in ihrem Busen entfesselt. Sie dachte an das Kind, das ihr nicht geschenkt war, und das ihren Gatten hätte an sie fesseln oder doch wenigstens die Qual seines Fernseins hätte lindern können; und sie faßte für diese kleinen unschuldigen Wesen einen unaussprechlichen Haß und eine unaussprechliche Zärtlichkeit, – Haß, weil sie von andern Frauen, und Zärtlichkeit, weil sie von ihm waren. Und schließlich umarmte sie sie weinend und forderte sie auf, wiederzukommen.

Indessen welkte sie nach und nach hin, wie eine Pflanze, die keine Sonne hat. Sie schwand noch schneller hin als Madame Olympia, die infolge einer ans Herz getretenen Gicht gestorben war. Es hatte nie große Zuneigung zwischen den beiden Frauen bestanden; aber nach Louis Lycurgues Flucht hatte ihre gemeinsame Liebe sie einander genähert. Sie hatten einander nicht das Herz geöffnet, aber die gleiche Erinnerung war darin lebendig, und Madame Isabella wurde nicht müde, mit Entzücken und Verzweiflung zuzuhören, wenn Madame Olympia ihr irgendeine Geschichte aus Louis Lycurgues Jugend immer wieder erzählte.

Deshalb war auch Madame Olympias übrigens sehr christlicher Hintritt, dem nach dem geheimen Wunsch der edeln Dame eine prunkvolle Beisetzung folgte, für Madame Isabella ein schmerzvoller Schlag, als wenn die Erinnerung an den Heißgeliebten mit ihrem Tode weiter von ihr abgerückt wäre. Die junge Frau wurde wegen ihrer Herzensgüte aufrichtig geliebt, und man beunruhigte sich über ihr Hinschwinden. Herr Joineau hielt es für seine Pflicht, den Marquis von dem traurigen Zustand seiner Gemahlin in Kenntnis zu setzen. Er schrieb ihm also einen oder zwei Briefe, die ohne Zweifel verloren gingen, oder die er vielleicht in der Zerstreutheit zu öffnen vergaß.

Die gegen den Willen der Verlassenen gerufenen Aerzte waren nicht zufrieden, und als sie erst einmal den Weg nach dem Hause wußten, ging es noch schneller mit ihr zu Ende. Und zwar durch vieles Purgieren, durch Aderlässe, Oele, Tränke und Pillen jeder Art so rasch, daß sie den Tag ihres Todes voraussehen konnte. Sie sah ihm mit Ruhe entgegen, ließ einen Notar aus Bordeaux kommen und setzte mit seiner und des Abbé Joineau Hilfe gewissenhaft ihr Testament auf. Die letzte Woche ihres Lebens verwandte sie, ebenso wie einst der Marquis Henri, darauf, die Dienerschaft des Schlosses und die Bauern aus dem Dorfe mit guten Ratschlägen und etlichen Geschenken zu bedenken. Sie standen vor ihr, drehten ihre Mützen zwischen den plumpen Fingern und gingen feuchten Auges heim, als hätten sie einen Engel gesehen.

Als sie ihr Ende nahen fühlte, beichtete sie und empfing andachtsvoll das Abendmahl aus der Hand des Herrn Joineau. Dann ließ sie ihre Leute eintreten und bat alle, ihr ihre Beleidigungen zu verzeihen, sagte ihnen Lebewohl und hatte für den Abbé noch ein Kopfnicken und einen vertraulicheren Händedruck, als wenn sie ihn an ein Versprechen erinnerte. Dann verlangte sie, mit Maguelonne allein gelassen zu werden.

Die Alte legte ein kleines, sehr ähnliches Miniaturbild, das ehedem von Louis Lycurgue angefertigt worden, in ihre mageren Hände. Sie heftete ihren Blick darauf und sagte sanft:

»Erzähle, Maguelonne.«

Und die gute Frau wiederholte umständlich mit ihrer etwas heiseren Stimme die hundertmal gehörten und doch immer neuen Geschichten aus Louis Lycurgues Kindheit, von seinen Krankheiten und seinen liebenswerten Zügen, wie er lachen gelernt hatte, und von der Sonne, die er hatte greifen wollen. Dieweil betrachtete Madame Isabella sehnsüchtig das Gesicht des Heißgeliebten und prüfte die Züge dieses angebeteten Wesens einen nach dem andern: diese Augen, die sie nicht mehr hatten sehen wollen, diese Hand, die die ihre gemieden hatte, diese Lippen, die ihre Küsse verweigert hatten …

Plötzlich zitterte die Alte und stieß einen leisen Schrei aus: das Bildnis war den Fingern der Madame von Migurac entglitten und beim Hinunterfallen zerbrochen. Maguelonne hob es auf und wollte es der Marquise reichen, aber als sie ihre Handflächen berührte, fand sie, daß sie kalt waren. Da wußte sie, daß ihre Herrin hinübergegangen war, und sicher schon seit einiger Zeit.

Gemäß Madame Isabellas Wunsch legte man das zerbrochene Bildnis in ihren Sarg, und ihr Begräbnis war sehr bescheiden. Die Leute aus dem Schlosse und aus dem Dorfe waren die einzigen Leidtragenden und setzten sie weinend im Familiengrabe bei.


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