Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.
Von der Erziehung des jungen Louis Lycurgue

Die Hefte des Abbé Joineau ebenso wie die Aufzeichnungen des Herrn von Migurac, welche die Grundlage dieser wahren Geschichte bilden, enthalten begreiflicherweise viele Fingerzeige über die Studien des jungen Louis Lycurgue und besonders über das Verhältnis zu seinem Mentor. Frischgebacken vom Seminar gekommen und begierig, seinem Beschützer, dem Bischof von Condom, sowie seinem Brotherrn, dem Marquis von Migurac, zu gefallen, hätte der Abbé seinen Schüler am liebsten mit jeglicher Wissenschaft erfüllt. Wir sehen in seinem Lehrplan nicht nur Religion und lateinische Literatur, die gewöhnliche Grundlage jeder Erziehung, sondern auch Griechisch, fremde Sprachen, alte und neue Geschichte, Mathematik, Physik, Alchimie, Astronomie, Geographie, Anatomie und sogar Philosophie.

Wir dürfen jedoch nicht glauben, daß sich in dem jungen Kopfe Louis Lycurgues ein solcher Wissensberg aufgehäuft hätte. Bescheiden und wahrhaftig, wie der Abbé Joineau war, scheint er doch nicht jeder menschlichen Schwäche bar gewesen zu sein. Es steht zu bezweifeln, daß das Wissen, das er im Seminar zu Condom angehäuft hatte, so allumfassend war. Wäre es aber auch der Fall gewesen, so hätte er doch offenbar Mühe gehabt, es einem Schüler zugute kommen zu lassen. Augenscheinlich war der Charakter des Abbé sanft, versöhnlich und leicht zu befriedigen, der seines Zöglings dagegen schwierig und ungeduldig. Er ertrug ungern Zwang und sträubte sich gegen jede andauernde Arbeit. Den Abbé aber bewogen eigne Neigung und Rücksicht auf sein zeitliches Wohl, nicht darauf zu bestehen, daß Louis Lycurgue ein großer Schriftgelehrter würde. Dies läßt er selbst in einer Stelle seiner Memoiren deutlich durchblicken.

Eines Tages hatte er seinem Schüler eine schöne Stelle aus der Rede Pro Archia poëta, die wohl geeignet war, ihm Geschmack und Verständnis für klassisches Latein beizubringen, zum Auswendiglernen bezeichnet. Aber am folgenden Tage mußte er sich überzeugen, daß der junge Edelmann, anstatt seine Aufgabe zu lernen, seine ganze Zeit damit verbracht hatte, sich mit der Dorfjugend herumzuprügeln. Da dies Vergehen bei ihm nur zu gewöhnlich war, so bemächtigte sich der Abbé eines Lineals, um ihm damit auf die Finger zu klopfen. Aber Louis Lycurgue packte das Stück Holz sehr rasch und entschlossen, brach es entzwei und warf ihm die Stücke ins Gesicht; und ehe er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, war der Vicomte aus der Tür und hatte den Schlüssel hinter sich umgedreht. Die erste Regung des Abbé war, um Hilfe zu rufen und bei der Marquise Klage zu führen. Bei ihrem Respekt vor der Kirche und deren Ansehen würde sie den Rebellen hart gezüchtigt haben. Indessen tat er nichts dergleichen, aus mehreren Gründen, die er uns darlegt.

»Erstlich,« sagt er, »schien es mir ungebührlich, einem jungen Edelmann, der ein gutes Herz hat, und dessen Verschulden mehr in Leichtsinn als in Bosheit besteht, eine strenge Strafe zuzuziehen. Widerspenstig und reizbar, wie er ist, hätte diese Behandlung vielleicht zuviel Bitterkeit bei ihm zurückgelassen. Zweitens glaubte ich, daß wenn man die Frau Marquise von diesem Vorfall in Kenntnis setzte, sie nicht verfehlen würde, mich der Schwachheit zu zeihen und mich vielleicht gar durch einen andern Erzieher zu ersetzen. Dieser wäre möglicherweise von minder guten Absichten beseelt, und ich hätte mich gezwungen gesehen, ein meinen Fähigkeiten weniger entsprechendes Amt zu suchen. Nachdem ich dies überlegt hatte, rief ich nicht nach dem Lakaien, sondern trat ans Fenster, um die balsamische Landluft einzuatmen und zu warten, bis es dem jungen Schalk gefiele, mich herauszulassen.«

Diese Betrachtungen, die wir wiedergeben, stammen keineswegs aus den ersten Monaten seines Aufenthalts im Schloß, sondern aus einer spätern Zeit. Immerhin werfen sie ein klares Licht auf das Verhältnis zwischen Herrn Joineau und seinem Schüler. Der Abbé war der Ansicht, daß ein Marquis nicht das Wissen eines Benediktiners zu haben brauchte, deshalb wandte er keine Härte an, um das ungestüme Wesen seines Schülers zu unterdrücken. An manchen Tagen, wenn der Geist Louis Lycurgues durch irgendeinen Kobold zu merklich aufgeregt wurde, war es Herr Joineau selbst, der ihn veranlaßte, sich ein wenig auszuruhen, Bilder zu besehen oder sich durch einen Spaziergang im Parke zu erfrischen. Da er indessen gewissenhaft war und nicht vergaß, daß er besoldet wurde, um wissenschaftlich zu arbeiten, so sagte er sich selbst die Oden des Horaz auf, feilte an einem Distichon oder ersann eine Predigt nach dem Muster des Herrn von Meaux.

Durch gütlichen Zuspruch erzielte er manchmal, daß der Knabe einige Stunden, sogar zwei Tage oder eine Woche fleißig war, und er freute sich, ihn so glücklich mit Gedächtnis und lebhaftem Geist begabt zu sehen. Aber im Augenblick, wo er glaubte, ihn dem Studium gewonnen zu haben, wechselte die Laune des kleinen Vicomte, und er war nur mehr aufgelegt, sich für den Flug der Fliegen und das Gurren der Turteltauben zu interessieren. Alsdann erinnerte sich der Abbé, daß ein Uebermaß geistiger Anstrengung an dem Körper eines Kindes zehrt, und sein Gewissen sprach ihn frei, wenn er nicht weiter auf dem Unterricht bestand. Er bewunderte lieber die schönen, rosigen Wangen Louis Lycurgues, sein heiteres Lachen und die Gelenkigkeit seiner Beine. »Wenigstens habe ich seine Jugend nicht getrübt,« sagte er sich, »und der Lehrer, der sich enthalten hat, seinem Schüler zu schaden, hat nichts verschuldet.«

Die Stunden bei Maître Pierre Antoine, der vom jungen Gilles unterstützt wurde, fanden im Gegenteil in Louis Lycurgue einen unermüdlichen und enthusiastischen Schüler. Die Freude blitzte ihm aus den Augen, und lebhafte Ungeduld zuckte ihm in den Gliedern, wenn er am Schluß des Unterrichts bei dem Abbé einem Bedienten befahl, sein Pferd zu zäumen, und dann in den Sattel sprang. In Begleitung des alten Pierre oder ganz allein jagte er mit Windeseile und wie rasend über Heiden und Hügel auf der Spur eines Hasen, eines Rehes oder Fuchses oder ganz einfach auf gut Glück, nur weil es ihm Lust machte, über Hecken und Bäche zu springen, sich den Wind ins Gesicht schlagen zu lassen und das edle, gehorsame Tier unter seinem Leibe zittern zu fühlen. Manchmal stieß er im Eifer Rufe und Verwünschungen aus oder brach in Gelächter aus, zur Verwunderung der Bauern, die, wenn er dahergebraust kam, eilig zur Seite sprangen.

Alle körperlichen Uebungen wurden ihm schnell vertraut. Nach einigem Herumplätschern im Schloßteiche konnte er wie ein Delphin schwimmen und hielt dabei Degen und Pistole über dem Kopf oder zog sich während des Schwimmens aus. Beim Wettlaufen, beim Springen und Ringkampf dauerte es nicht lange, bis er es seinen Lehrern gleichtat, nicht nur dem alten Pierre Antoine, den das Alter schwerfällig gemacht hatte, sondern auch Gilles, der ihm an Größe und Kraft überlegen war. Unter den ritterlichen Künsten fesselte ihn jedoch von Anfang an vorwiegend das Fechten mit Degen und Dolch. Es war ein Vergnügen, ihm zuzusehen, wie er, kaum so groß wie sein Florett, Stellung nahm, einen Ausfall machte, wieder zurückging, mit verkehrter Hand parierte und von neuem mit italienischem Sprung ausfiel.

So wurde er in kurzen Jahren kräftig und gewandt. Zugleich befleißigte er sich unter Madame Olympias Leitung der Sitten des Salons und des Hofes. Jeden Nachmittag nach beendigter Siesta hatte er den Vorzug, seiner Mutter die Hand küssen zu dürfen; und sie unterrichtete ihn in den Formen ebenso wie in den Ansichten, die einem Edelmann ziemen. Sie saß dabei kerzengerade in ihrem hohen Sessel, die Hände über dem etwas stark gewordenen Leib gefaltet. Ein Anfang von Schnurrbart begann ihre Oberlippe zu beschatten, aber sie war noch schön, und ihr Antlitz heischte Ehrerbietung. Mit volltöniger Stimme beschrieb sie Louis Lycurgue die Wunder des Hofes und die Etikette, und bisweilen vergaß sie sein jugendliches Alter und ergötzte sich damit, alles was sie beobachtet, gesehen oder gehofft hatte, mehr für sich als für ihn wieder aufleben zu lassen.

Von edler Abstammung und sorgfältig nach den gediegensten Ueberlieferungen erzogen, aber mittellos, hatte sich Madame Olympia glücklich geschätzt, Herrn von Migurac zu heiraten, dessen Familie der ihrigen an Vornehmheit gleichkam und sie an Vermögen übertraf. Da ihr Naturell der Leidenschaft nicht zugänglich war, hatte sie ihm die Achtung, die eine christliche Ehefrau ihrem Gatten schuldet, gelobt und weder in Taten noch in Worten jemals gegen ihren Schwur der Treue gefehlt. Aber vergebens hätte sie sich zu verhehlen gesucht, daß diese Verbindung ihr nicht alle erwarteten Freuden gebracht hatte, und die Ursache dieser Enttäuschungen war eine Laune des Schicksals und ebenso der Charakter ihres Gatten. Kurz nach ihrer Heirat nämlich, im Augenblick, da das junge Paar bei Hof vorgestellt worden war und mit dem ersten Adel von Versailles und Paris zu verkehren begann, hatte der plötzliche Tod des alten Marquis Jean Philippe gewaltsam in ihr Leben eingegriffen, denn durch ihn kam seine Vergeudung des Miguracschen Vermögens an den Tag. Bei diesem Unglück waren zwei Auswege möglich, deren einer der war, in Paris zu bleiben, auf Borg zu leben und ein Haus zu machen, bis die Gunst des Königs oder eines Ministers ihre Angelegenheiten geordnet hätte. Der Marquise kam, um die Wahrheit zu sagen, nichts andres in den Sinn, und ihre Ueberraschung war groß, als ihr Gemahl ihr eines Tages erklärte, daß es sich weniger darum handle, vornehm als ehrenhaft zu leben, und daß ihnen nichts übrigbleibe, als sich auf ihre Güter zurückzuziehen. Dies erschien ihr wie eine Abdankung, und sie konnte sich nicht enthalten, einige Einwendungen zu wagen; doch sie mußte bald ermessen, daß ihr Geist und der des Marquis nicht vom gleichen Schnitt waren. Sie schwieg und fügte sich. Nach Migurac zurückgekehrt, betrug sie sich als musterhafte Gattin und vollendete Dame, und nichts verriet ihre bittere Enttäuschung als gelegentlich ein ironisches Lächeln und ein herber Ton. Nein, sie war nicht in die Laufbahn gekommen, für die sie bestimmt war, und daran trugen die Verhältnisse weniger schuld, als dieser Mann, dessen Ansichten nicht die eines großen Herrn, dessen Fehler nicht die seines Standes, dessen Tugenden bürgerlich und kleinlich waren. Wenn Pflicht und Frömmigkeit es ihr erlaubt hätten, so würde sie für diesen Ehemann ohne Schulden und ohne Maitressen etwas Verachtung gefühlt haben.

Mit solchen Gefühlen, die sie zwar nicht aussprach, die er aber mit dem unfehlbaren Instinkt des Kindes dunkel erriet, weihte Madame Olympia ihren Sohn in die Formen der besten Gesellschaft ein. Sie beschränkte sich nicht darauf, ihn äußerlich in hoffähigen Verneigungen, artigen Salonmanieren, Handküssen und verschiedenen Arten von Tänzen und Arien auszubilden, sondern bemühte sich gleicherweise, ihm die Grundsätze der großen Welt einzuprägen und niedrige Neigungen sowie plebejische, kleinliche Gesinnung mit der Wurzel auszureißen. Obgleich die Ehrfurcht, die ihm seine Frau Mutter einflößte, nicht mit viel Vertraulichkeit gepaart war, hörte er ihr doch mit Andacht zu. Er war von Natur anmutig, behend und wohlgebaut, und es war ihm ein Spiel, sich allen Schnörkeln der Mode anzuschmiegen. Wäre die Marquise den Schwachheiten ihres Geschlechts unterworfen gewesen, so hätte sie vor Rührung geweint, wenn er beim dünnen Ton des alten Spinetts Ellbogen und Knie bog, während Jungfer Seraphine als Gegenüber ihren Rock mit zwei Fingern faßte und nach allen Regeln ihre Reverenz machte. Mit derselben Inbrunst gab er sich ihren geistigen Unterweisungen hin, fast als ob sie einem geheimen Triebe seines Wesens geschmeichelt hätten. Er hätte ganze Stunden zuhören mögen, wenn seine Mutter von der erlauchten Herkunft und den Galanterien des Sonnenkönigs erzählte, von der Liebenswürdigkeit des Regenten, dem Luxus der Madame de Prie und der Herzogin von Bourbon, dem großen Passepied von 1733, den Opernballets, der Vollendung der italienischen Schauspieler, den ersten Liebesabenteuern des »vielgeliebten« jetzigen Königs, den achtbaren, aber veralteten Tugenden der polnischen Königin … Er sog die Worte der Marquise in sich ein, und seine Lippen wurden feucht vor Begierde, eine Flamme leuchtete aus seinen Augen, so daß die Brust der Marquise bei seinem Anblick von geheimem Stolze schwoll, indem sie sich sagte, daß sie an ihrem Sohne zwiefach Mutter würde, erst an seinem Körper und dann an seiner Seele.

Nach Beendigung dieser Gespräche pflegte Louis Lycurgue seinen Vater in dem großen Arbeitszimmer aufzusuchen, in dem er holde Stunden verbrachte. Wenn der Knabe eintrat, erhob der Edelmann den Kopf, lehnte sich zurück und zeigte ihm seine etwas eingefallenen, vorzeitig gealterten Züge, die trotz der Landluft bleichen Wangen, den klaren Blick seiner Augen und das Lächeln vollkommener Güte um seinen halbgeöffneten Mund. Wie entzückt auch Louis Lycurgue von den mütterlichen Lehren sein mochte, ein einziger Blick seines Vaters bewegte ihm die Seele tiefer als alle Worte der Marquise. Sie sprach mit einer Stimme, die aus ihm selber sprach; die Stimme seines Vaters dagegen schien aus dem Jenseits, von einer höheren Weisheit zu kommen. Die Rührung des Kindes spiegelte sich in seinen beweglichen Zügen, und für die Marquise war die Macht, die dieser Träumer mit dem ungeschickten Körper und der mittelmäßigen Unterhaltungsgabe auf die unbändige Jugend Louis Lycurgues ausübte, ein Gegenstand eifersüchtigen Staunens, das sie dem Abbé beichtete.

Meistens blieben Vater und Sohn nicht in den Zimmern, sondern sie nahmen ihre Hüte, ließen das Schloßgitter hinter sich und gewannen das freie Feld. Im Gehen bemühte der Marquis sich, unauffällig, wie gerade der Weg oder die Wendung ihres Gesprächs dazu Anlaß gaben, die Seele des Kindes dem Lichte zu öffnen, mit dem er sie erfüllt zu sehen wünschte. Die Zeit, wo er in Paris und am Hofe verkehrt, hatte ihn mit Entrüstung und Trauer über den verderbten Gesellschaftszustand erfüllt. In der Berührung mit der Natur, angesichts der ruhigen Schönheit des ländlichen Lebens hatte er klar eingesehen, daß die Kultur die Vernunft des Menschen verwirrt und durch eine Verkettung von Irrtümern das Unglück der Menschheit verursacht hat. Seine eignen Erfahrungen wurden bestärkt durch das Studium einiger namhafter Schriftsteller und einer großen Zahl von anonymen, im Ausland erschienenen Flugschriften, und er erkannte mit Schmerz, wie weit sich die Menschen von der ursprünglichen Gleichheit entfernt hatten. In dem Wunsch, seinen Sohn vor der Finsternis des Aberglaubens zu bewahren, nahm er jede Gelegenheit wahr, ihn aufzuklären und von Vorurteilen freizumachen. Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf das reifende Korn, den grünen Mais, die verschlungenen Weinreben, die Kraft der rotbraunen Ochsen, den azurnen Glanz des Himmels und der murmelnden Gewässer und gewöhnte ihn daran, das Werk der Natur und die Wohltaten, mit denen sie die Menschheit überschüttet, zu segnen. Er hieß ihn die düsteren Hütten der Bauern, ihre plumpen Glieder und ihre Lumpen betrachten und zeigte ihm, wie wenig die menschliche Weisheit verstanden hatte, den Ungerechtigkeiten des Schicksals abzuhelfen; ja, daß sie im Gegenteil noch beschäftigt scheine, sie zu verschlimmern und zu mehren. Durch seine reichlichen Almosen lehrte er den Sohn Freigebigkeit; dadurch, daß er sie in zarter, höflicher Weise gab, führte er ihm die Gleichheit der Menschen zu Gemüt und zeigte ihm, daß die Unterschiede unter ihnen weniger vom Verdienst abhingen, als vom Zufall der Geburt, auf den sie keinen Einfluß hätten. Und der Knabe, der sich für die Lehren der Mutter begeistert hatte, entbrannte noch mehr für die des Vaters. Er ward es nicht müde, ihn nach der Geschichte der verflossenen Jahrhunderte und der Umwandlung der menschlichen Gesellschaft zu fragen. Seine Wißbegierde wandte sich ebenso oft der Zukunft wie der Vergangenheit zu, und angelegentlich fragte er den Marquis, wie man die Uebel der Kultur heilen könne. Obwohl dieser kein blinder Optimist war und auch die Gleichgültigkeit des Schicksals und die unheilvolle Schwachheit des Menschen kannte, so widerstrebte es ihm doch, das Kind seiner Hoffnung zu berauben, und er selbst wollte sich auch nicht damit abfinden, daß das Unglück der Menschheit unabänderlich sei.

Damals zimmerten die beiden Pläne einer idealen Gesellschaft, in der die veredelte Menschheit einig und brüderlich leben sollte. Und wie ehemals Feen und Geister, so erregten jetzt diese Phantasien den enthusiastischen Geist des Knaben und verfolgten ihn bis in seine Kinderträume, hinter die Kattunvorhänge seines Kinderbetts.

Derart herrschte bei der Erziehung Louis Lycurgues keinerlei Mangel, weder an Lehrern noch an Lehrstoff, und was man ihm beibrachte, hätte zweifellos genügt, Herz und Hirn mehrerer Edelleute auszustatten. Aber es ist nur schwer zu verstehen, in welcher Weise so viele Lehren in seiner Seele ineinander aufgingen oder sich widerstritten.

Wir wollen ein Beispiel dafür anführen. Nach einer Lehrstunde des Abbé, der ihm an der Hand von Bibelsprüchen Vergebung von Beleidigungen gepredigt hatte, bewies ihm Madame Olympia, daß ein Mann von Ehre weit eher berechtigt sei, einer Beleidigung zuvorzukommen, als sie hinzunehmen, und der alte Pierre brachte ihm einen geheimen Kunstgriff bei, mit dem man den Widersacher unfehlbar zu Boden streckte. Darauf machte es Herr von Migurac sich zur Pflicht, ihm auseinanderzusetzen, wie schwankend und dehnbar das Vorurteil der Ehre sei und wie lächerlich die öffentliche Meinung, die die Genugtuung fordert. Es wäre fürwahr befremdlich gewesen, wenn in dem jungen Geist keine Verwirrung entstanden wäre, schon allein durch seine verschiedenen Erzieher. Außerdem trug Louis Lycurgue lebensfähige Keime in sich, die man nicht übersehen darf. Es ist eine dunkle Frage, bis zu welchem Punkte die Erziehung die natürliche Grundlage von Gefühlen verändert, die wir bei der Geburt mitbringen. Sicher ist es aber, daß diese Grundlage sehr veränderlich ist, sei es infolge körperlicher Anlagen, sei es durch den unerforschlichen Willen der Vorsehung. Gleichwie dieselben Samenkörner, in verschiedenes Erdreich gestreut, nicht dieselben Blumen hervorbringen, so erwecken die gleichen Lehren nicht die gleichen Tugenden in verschiedenen Seelen, und Louis Lycurgues Seele scheint nicht sehr bildsam gewesen zu sein.

Dies werden ohne Zweifel einige der von Herrn Joineau aufgezeichneten Anekdoten bestätigen, deren Wiedergabe wir für angezeigt halten; sie beziehen sich auf die Sitten seines Zöglings, und der Beobachter wird in ihnen vielleicht etwas von dem feurigen, großmütigen, raschen und schwer zu bändigenden Temperament wiederfinden, von dem Maguelonnes Busen die ersten Wirkungen verspürte.


 << zurück weiter >>