Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel

Sie weinte nicht und schalt nicht. Sie logen, sie versicherten einander, daß Lawrence ganz gewiß zurückkehren würde. Aber ihre ineinandergetauchten Blicke verrieten die gemeinsame Befürchtung.

»Vielleicht warten wir noch einen halben Tag, ob er zurückkommt«, schlug sie vor.

»Ja … Gott! Ohne Kanu! Na, wir werden versuchen müssen, zu Fuß zum Handelsposten zu kommen. Wie weit kann das sein? Wie sieht's denn auf der Karte aus, Al?«

»Es müssen achtzig Meilen sein – das heißt, wenn wir nah am Ufer bleiben können und nicht auf 'ne Menge Klippen und dichtes Unterholz stoßen, so daß wir in den Wald hinein müssen und uns vielleicht überhaupt verirren. Aber, Lieber« – sie versuchte Zuversicht zu zeigen – »dem Himmel sei Dank, mein Lieber, daß Lawrence nicht auch das Angelzeug hat mitgehen lassen. Und ich hab' genug Streichhölzer. Wir können immer Fische fangen und sie in ihrem eigenen schönen Saft schmoren. Und außerdem hab' ich ja den Revolver und eine Schachtel Patronen … Wer weiß, wozu wir die beiden letzten Patronen noch brauchen werden!«

Bis zum Mittag saßen sie am Strand und warteten, zwei Kinder im Walde, die nur tapfer waren, weil sie einander ihre Angst verhehlen mußten. Sie sahen aus wie Wilde. Ralph hatte sich seit vier Tagen nicht rasiert. Als noch Jesse und Louey wacker für ihn paddelten, hatte er sich jeden Tag, den Taschenspiegel auf den Knien und den Pinsel über Bord ins Wasser tauchend, elegant in seinem Kanu rasieren können, aber während der letzten Fluchttage war nie Zeit dazu gewesen. Er hatte ein ganzes Dickicht schwarzer Stoppeln im Gesicht, seine Nägel waren schmutzige Schaufeln, seine Segeltuchjacke, einstmals der Stolz der geschniegelten jungen Sportexperten bei Fulton & Hutchinson, war voller Fischschuppen und mit Enten- und Schnepfenblut beschmiert

Doch sein Mund zeigte energische Festigkeit. Er senkte und verzog sich nicht mehr unter dem Zwang eitlen Philosophierens.

Aus Alverna war eine wahnsinnige Zigeunerin geworden. Wie sie so neben ihm saß, still, ohne etwas zu verlangen, und Steinchen von einer Hand in die andere warf, glich sie einem Waldgeist. Ihre weiße Bluse und der Rock waren zerrissen und mit einer Kotkruste überzogen. Ihr helles kurzes Haar war glatt gekämmt, das Gesicht hatte sie sich zwar eifrig im kalten See gewaschen, dann aber bei der Sterzbereitung die eine Wange komisch beschmiert, was ihr etwas von dem unverschämten Aussehen eines Foxterriers mit einer schwarzen Backe gab. Ein Strumpf war zerrissen, den anderen hatte sie ganz weggeworfen, und über den einen ihrer Segeltuchschuhe lief ein langer Riß, dessen Ränder blutig waren. Und doch drückte ihr ganzer Körper Mut und Hoffnung aus, als sie sagte:

»Ich weiß nicht, ob du es aushalten kannst, aber ich werd' ›Drei Uhr früh am Morgen‹ singen. Wenn wir in Winnipeg sind, mußt du mit mir tanzen gehen – bevor du mich nach Minneapolis schickst und vergißt – wenn wir da überhaupt rauskommen.«

Dann konnte sie nicht mehr weiter und weinte:

»Vielleicht werden wir zusammen sterben müssen, Liebling.« Sie versuchte zu lächeln. »Bist du sehr traurig?«

Er log unbeugsam.

Sie sprang auf. »Wir können die Zeit wenigstens zu was Nützlichem verwenden. Ich werd' diesen scheußlichen Rock waschen. Ich hab' nicht genug Seife, aber ich kann's mit Sand machen. Und du, Ralph, deiner Männerschönheit wird's auch nichts schaden, wenn du dich rasierst. Maniküre gefällig, Sir, Ultrabestrahlung?«

Er rasierte sich – mit kaltem Wasser und dem bißchen Schaum, das der Rest Seife hergab. Es tat weh. Sie wusch voller Fröhlichkeit nicht nur ihren schmutzigen Matrosenanzug, sondern auch seine stolzen, mannhaften roten Baumwolltaschentücher. Sie kniete am Rande des Sees, sang und schrubbte wie eine italienische Wäscherin am Tiber.

Sie warteten nicht länger auf Lawrence und brachen zu Mittag auf, nachdem sie sich vorgemacht hatten, daß ihnen die letzten Sterzkrumen und der einzige armselige, magere Fisch, den Ralph hatte fangen können, schmeckten. Für einen Hundert-Meilen-Marsch hatten sie viel zu tragen, obwohl sie das Zelt, Alvernas geliebtes schwarzes Kleid und die Pumps zurückgelassen hatten. Mitgenommen wurden nur Decken, Mehl, Schmalz, das Angelgerät, der Revolver, Streichhölzer, die Moskitonetze und die eine Bratpfanne, auf die der gute Lawrence gnädigst zu ihren Gunsten verzichtet hatte.

Aber Ralph trug auch Alvernas perlenbesetzte Handtasche mit Rouge, Lippenstift, Puder, drei lächerlich kleinen gestickten Taschentüchern und dem kostbaren Stückchen Seife.

»Ach, laß doch die dumme Tasche da«, sagte sie wehmütig.

»Nein. Das ist alles, was von der alten Alverna übrig ist … Vom alten Ralph ist nichts mehr da!«

Sie blickte ihn lange an. »Wird schon wieder da sein, wenn du aus den Wäldern heraus bist. Dann wirst du mich hassen!«

»Nie! Hör mal! Wir werden Joe schreiben und ihn um Scheidung bitten.«

»Nicht, Liebster. Bitte! Wir wollen keine Pläne machen. Nicht zu denken anfangen!«

Sie stapfte zum Strand hinunter, und er folgte ihr.

Die ersten drei Meilen konnten sie dem Ufer des Mitternachts-Sees folgen. Der nachgiebige Sand machte jeden Schritt zu einer Mühsal, aber sie kannten wenigstens ihren Weg. Dann stiegen die Felsen auf. Eine Zeitlang stolperten sie hoch über dem strandlosen Wasser, auf dem Rücken der Klippe, zwischen Kiefernstämmen hindurch. Einmal mußten sie sich fünfzig Schritt weit über den Grat vorschieben und an Zweigen und Büschen festhalten. Sie wurden in den Wald gedrängt, und voller Schrecken sahen sie sich bei jedem Schritt nach dem Wasser um, das zwischen den Bäumen hindurchschimmerte. Bald konnten sie es nicht mehr erblicken, sie verirrten sich und arbeiteten sich aufgeregt, einander ängstliche Blicke zuwerfend, durch dichtes Unterholz. Als sie hinauskamen und plötzlich wieder den See vor sich hatten, setzte Alverna sich auf die Erde und fing zu weinen an, so daß er stehenbleiben und ihr beruhigend über das Haar streichen mußte.

Dann senkten sich die Klippen, und sie gingen Zoll für Zoll mühsam über harten Kiesel und durch zähen Schlamm. Als sie bei Einbruch der Dunkelheit zu marschieren aufhörten, hatten sie in zehn Stunden vierzehn Meilen zurückgelegt – von achtzig oder hundert oder, wenn sie auf Buchten stoßen sollten, die auf ihrer Karte nicht verzeichnet waren, vielleicht zweimal hundert Meilen, mit Proviant, der kaum für einen Tag reichte.

Es gelang ihm nicht, auch nur einen einzigen Fisch für das Abendessen zu fangen, und sie verzehrten einen kläglichen Rest Sterz mit Tee, bevor sie sich unter den Moskitonetzen, die sie ungeschickt über Pfähle gehängt hatten, in ihre Decken einrollten.

Den ganzen nächsten Vormittag, während sie sich vorwärts mühten, gab es für Ralph nur vier Dinge in der ganzen Welt: Alvernas nie klagenden Mut, den zunehmenden Rauch des unbekannten Waldbrandes, die Tatsache, daß er durch seine dünngewordenen Mokassins und Gummischuhe jeden scharfen Stein schmerzhaft fühlte – und die absurde Unmöglichkeit der ganzen Angelegenheit.

Es war unglaublich, daß er, Mr. Prescott von Beasely, Prescott, Braun & Braun, Ralph Prescott vom Yale Club, R. E. Prescott, dessen Vetter dritten Grades Gesandtschaftssekretär war – daß er in der Wildnis des Nordens verhungern und zugrunde gehen mußte, daß aus dem Spiel fürchterlicher, entsetzlicher Ernst geworden war und daß ein Ex-Manikürmädchen der ganze Sinn des Lebens für ihn sein sollte.

Als sie mittags Rast machten und Alverna, die auf einem schlüpfrigen Felsen saß, ihm beim Angeln zusah, rief sie plötzlich: »Ralph! Ich hör' einen Aeroplan.«

»Aber, Kind, bist du verrückt geworden? Demnächst wirst du noch Kreisler Geige spielen hören! Du darfst – Nanu! Jetzt hör' ich's auch, nein – wahrscheinlich ist es ein Außenbordmotor. Wenn das nun Joe wäre, der – nein! Es ist ein Aeroplan!«

Ungläubig sah er über dem See ein Fleckchen in der rauchigen Luft, das langsam größer, dessen Summen immer lauter wurde – ein Flugzeug.

»Das ist unsere Befreiung! Wink' ihnen! Gerettet!« schrie Alverna, tanzte wie wild auf dem Strand herum und rannte achtlos ins Wasser, um mit dem Taschentuch zu winken. Ralph unterstützte sie und schwenkte seinen schmutzigen Segeltuchhut hin und her.

Trotz aller Erleichterung war er ein klein wenig traurig darüber, daß ihr Abenteuer zu Ende sein sollte, daß er mit einem Male wieder der Mr. Prescott aus New York war.

Es war ein Hydroplan. Der Pilot flog niedrig. Er sah sie, kam in einer riesigen Schleife herunter, setzte sich auf den See und fuhr in einer Kaskade aufgepflügten Wassers auf sie zu – ein Schauspiel, das in dieser Wüstenei von Waldland und totem See ebenso sonderbar wirkte wie eine Gondel mit singenden Mädchen.

Die Maschine lief auf den Strand, Ralph und Alverna galoppierten hin und stierten die Insassen an mit Gesichtern, die vor Überraschung idiotisch aussahen.

Drei Mann waren an Bord. Der Führer knurrte: »Was is los?«

»Ich heiße Prescott – New York. Bin auf einer Angeltour gewesen. Das – äh – ist meine Frau. Unser Proviant ist knapp geworden, und unser Indianerführer ist uns durchgebrannt. Hat unser Kanu gestohlen. Wir sind am Verhungern, und ich weiß nicht, ob wir's bis zum nächsten Handelsposten schaffen werden. Können Sie uns mitnehmen?«

»Oh! Ich bin in der Canadian Air Force – das hier sind zwei Förster. Waldbrand. Ich wollte, wir könnten Sie mitnehmen, aber es ist ganz unmöglich. Sie sehen, wir haben keinen Platz, nicht einen Zoll.«

Dieselbe Alverna, die tagelang selbstlose Ergebenheit für Ralph gewesen war, fühlte sich augenblicklich durch den Anblick dreier Männer gekitzelt, vor allem durch den Anblick des Fliegeroffiziers – der, wie Ralph eifersüchtig bei sich konstatierte, eine verdammte Ähnlichkeit mit Curly Evans hatte. Sie strahlte ihn an, sie zierte sich, sie strich ihr Haar zurück. Auf irgendeine unbegreifliche Weise hatte sie es in den letzten zwei Minuten zuwege gebracht, sich die Lippen zu schminken.

Sie sagte beschwörend:

»Ach, Major, Sie werden uns doch nicht hier lassen, nicht wahr? Oh, Sie können doch nicht so hart sein! Wie können Sie nur! Und ich hab' immer geglaubt, Armeeoffiziere wären so schrecklich zuvorkommend und alles!«

Der Pilot war unerbittlich.

»Aber können Sie denn nicht sehen, Madam, daß kein Platz da ist? Übrigens bin ich nicht Major! Es könnte ja eventuell einer der Förster mit Ihrem Mann hier bleiben und Ihnen seinen Platz abtreten, aber wir sind unterwegs, um den Waldbrand zu bekämpfen – die Ansiedler zu warnen und Feuerlinien zu organisieren. Und wenn Sie mit uns kämen, könnten Sie vielleicht verbrennen. Wir müssen in die schlimmste Sektion. Aber – Prescott, Sie würden gut tun, die Richtung zu nehmen. Das Feuer kommt von dort.«

Sie schrie auf. Einen seltsam klingenden, hoffnungslosen kleinen Schrei. Schon war sie aller Koketterie bar … Aber sie war gerade lange genug kokett gewesen, um Ralph ihre ganze Kameradschaft vergessen zu lassen und sein Mißtrauen wieder wachzurufen.

Die drei Männer im Hydroplan sahen einander unglücklich an. Einer der Förster schlug vor: »Ich glaube, wir können ihnen 'n bißchen Proviant und ein Faltboot mit 'n paar Paddeln dalassen.«

»Richtig«, stimmten die anderen zu. Während die Förster das Boot, eine Speckseite, einen kleinen Sack Mehl, einen Kübel Schmalz und eine märchenhaft schöne Konservenbüchse Mais ausluden, erkundigte sich der Flieger:

»Ihr Führer ist durchgebrannt, was? Das passiert sehr selten. Wo kommen Sie her?«

»Wir – äh – wir sind einige Zeit in Mantrap Landing gewesen«, sagte Ralph.

»So, dort waren Sie? Ich hab' gehört, daß Joe Easter der Waldheger, bei dem wir heute nacht waren, hat erzählt, daß jemand Joe Easter, dem Freihändler dort, seine Frau gestohlen hat und daß die beiden von ihm verfolgt werden. Ich hab' sie nie gesehen, aber es heißt, daß sie ein sehr hübsches Mädel –«

Während er sprach, wurde die Miene des Piloten mißtrauisch und sehr unfreundlich. Er blickte von Ralph zu Alverna.

Sie mußten zu gewollt unschuldig ausgesehen haben, um einen unschuldigen Eindruck zu machen.

Die Stimme des Fliegers wurde trocken:

»Und am Mudhen-Creek, als ich Kurs auf den See hier nahm, sah ich ein Kanu mit einem Burschen, der, soviel man aus fünfhundert Fuß Höhe beurteilen kann, ausschaute, als ob er dieser Easter sein könnte. Wenn ich der Betreffende wäre, würde ich verdammt schnell machen …

»Fertig, Kromer? Gut. Lebt wohl, Leute. Nehmt euch vor dem Feuer in acht. Lagert immer nahe am Wasser.«

Der eine der Förster hatte die Maschine hinausgestoßen und ein wenig gedreht, und schon raste der himmlische Befreier in aufstiebendem Gischt davon, erhob sich vom Wasser und stieg in die Höhe.

In dem darauf folgenden Schweigen blickte Ralph Alverna starr an. Er war jetzt nicht nervös oder böse wegen der Koketterie, die sie sofort entfaltet hatte, als ihr ein zweites männliches Wesen vor die Augen kam, er war voller Mitleid und versuchte sich einzureden, daß sie mit dem Flieger nur kokettiert habe, um ihre Befreiung durchzusetzen.

»Na, wir wollen uns lieber auf den Weg machen! Kopf hoch!« sagte er. »Vielleicht findet Joe uns nicht. Wenn wir ihn kommen sehen, werden wir schnell an Land gehen und uns verstecken.«

Sich vor Joe Easter, seinem Freund, verstecken zu müssen – es war Ralph, als sollte er sich in einer Gosse verkriechen. Schweigend, aller romantischen Gefühle beraubt, sah er sich das Faltboot an.

Als es auseinandergebreitet war, glich es einer sechs Fuß langen Seifenschüssel aus Segelleinwand. Die Insassen mußten auf dem Boden kauern. Es schwankte unaufhörlich und sah nichts weniger als vertrauenerweckend aus, aber sie beeilten sich, ihre kleinen Vorräte darin zu verstauen, und fuhren, ohne an ihren Hunger zu denken, los. Der See war nicht allzu glatt. Die Wellen gingen immer höher. Beide waren zu unerfahren, um zu wissen, wie man eine Welle zu nehmen und zu überwinden hat. Unaufhörlich sprühte Spritzwasser in ihre Leinwandschüssel, und Alverna hatte ununterbrochen damit zu tun, das Boot mit einem Moosziegel wie mit einem schlechten Schwamm auszuösen, während er sich bemühte, gegen den Wind zu halten. Obgleich sie versuchten, unter der Küste zu bleiben, wurden sie immer wieder hinausgetrieben, und Ralph war von der seltsamen Neugier besessen, ob sein Leichnam, wenn sie untergingen, über den See treiben oder irgendwo am Ufer hängen bleiben würde.

Aber ein anderer Gedanke war stärker. Jetzt, da seine süßen Illusionen über Alverna wieder zerstört waren, jetzt, da die Möglichkeit, daß Joe ihnen auf der Spur war, zur Wahrscheinlichkeit, zur Gewißheit wurde, begann er nachzudenken. Er sah Joe vor sich, diese naiven Augen, diese stetige Freundlichkeit, diese ehrenhafte Tapferkeit. Tagelang war es ihm gelungen, dieses Gesicht von sich abzuwehren und sich einzureden: »Joe war ein Narr. Ein guter Freund, aber ein törichter Liebhaber. Er hat sie nicht verstanden. Ich verstehe sie. Er konnte sie nicht halten. Ich kann's. Ich fühle mich nicht im mindesten schuldig.«

Jetzt fühlte er sich schuldig genug, so schuldig, daß ihm auch die Überlegung, er hätte sie vor dem einsamen und elenden Hungertod im Wald errettet, keinen Trost gewährte.

Und doch waren die ganze Zeit seine reuigen Gedanken und seine Gewissensbisse schwach vor Alvernas Jugend. Es war seine erste Liebe, das erstemal in seinem Leben war er so durcheinandergeschüttelt worden, daß er alle Vorsicht und Würde über Bord warf. Gut! Mochte sein Schicksal besiegelt sein! Einmal hatte er wenigstens gelebt!

Alles das, während er mit den anstürmenden Wellen kämpfte.

Sie näherten sich einer Landzunge, die sich einige Meilen weit in den See vorschob, in hochgehendes offenes Wasser, in dem das Segeltuchschifflein verloren gewesen wäre. Mühselig krochen sie die Halbinsel entlang. Als sie an die Spitze kamen, blickten sie ängstlich auf die andere Seite hinüber.

»Wir können's nicht schaffen. Der Wind ist gegen uns. Dagegen ist nichts zu machen. Wir werden hier bleiben müssen, bis der Sturm sich legt«, sagte Ralph.

Aber keine Furcht, keine Reue konnte dem olympischen Genuß, wieder zu essen, Abbruch tun – der Herrlichkeit des Specks, der Solidität des Sterzes und der köstlichen Wonne der Büchse Mais, die er ungeduldig mit seinem Taschenmesser aufriß.

Alverna war während des Paddelns schweigsam und fleißig gewesen, und während sie den Sterz zubereitete, trällerte sie munter vor sich hin (nur ertappte er sie dabei, daß sie beobachtende Blicke auf ihn warf, um zu sehen, was für einen Eindruck das auf ihn machte). Als sie endlich genug hatten und sich befriedigt ausstreckten, warf sie hin: »Aber wir wissen ja gar nicht, ob's Joe war, den er gesehen hat.«

»Nein, das stimmt.«

»Na also, da brauchen wir uns doch keine Sorgen zu machen. Natürlich, Joe kann nie draufkommen, daß wir diesen Weg gegangen sind! Jetzt, wo wir wieder Futter haben und das nette kleine Boot, das – verdammte Dreckdings!« Ihr Versuch, unbekümmert zu lächeln, gelang ausgezeichnet. »Wir werden zum Handelsposten kommen und dort 'n richtiges Kanu kriegen und 'nen Indianer für die Arbeit. Und zwei Büchsen Mais. Die werd' ich ebenso schnell runterschlingen wie die hier – hlup! Hast du genug Geld?«

»Ja, ich denke wohl. Widerwärtig, wie der Wind anhält.«

»Ach, seien wir froh, daß wir uns ausruhen können. Hast du wirklich genug?«

»O ja!«

»Bist du schrecklich reich?«

»Nein, ich bin – oh, ich verdiene ganz schön.«

»Was verdienst du eigentlich, Ralph? Ich hab' gar keine Idee, ob du vier Mille im Jahr verdienst oder vierhundert.«

»Na, sagen wir gegen vierzig.«

»Vierzig – tausend – Dollar – im – Jahr?! Herrje! Na, hoffentlich hast du dir was erspart, weil du mir Geld für die Weiterfahrt leihen mußt, wenn wir in Winnipeg sind, und außerdem noch so viel, daß ich mir Schuh' und Strümpfe kaufen kann. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, daß ich wieder saubere Seidenstrümpfe anhaben werd'.«

»Ich glaube, das werden wir schaffen können. Vielleicht sogar zwei Paar.«

»Ralph!«

»Eh?«

»Ach! Bitte!«

»Was hast du, Kind?«

»Du bist – du warst bös, weil ich mit dem Flieger kokettiert hab', ich hab's gemerkt.«

»Oh, du mußtest natürlich alles mögliche tun, damit er uns mitnimmt.«

»Nein. Wir wollen nicht lügen. Wir sind die ganzen letzten Tage aufrichtig gewesen, und, Herr Gott, ich bin wirklich überrascht, wie gern ich das bin. Ich glaub', das ist das erstemal, seitdem ich in der ersten Klasse angefangen und unseren Schulprof bemogelt hab'. Du hast mich ganz einfach gehaßt, wie ich dem Flieger schöne Augen gemacht hab'. Du warst wütend, wie ich versucht hab', ihn rumzukriegen. Du hast dir überlegt, ob ich wieder anfangen werd', sobald wir auf dem Pflaster sind. Nicht wahr, Schatz? Aufrichtig

»Ja, ein bißchen.«

»Du wirst staunen. Ich hab' auch dran denken müssen! Oh, ich glaub', ich bin ein schrecklicher Fliegenfänger. Aber ich hab' gedacht, ich hab's mir abgewöhnt in den letzten paar Tagen … Oh, Ralph, lieber Ralph, was werden wir tun?«

»Ich weiß nicht.«

»Na ja, überleg mal. Angenommen, ich bekomm' die Scheidung. Angenommen, du hast das Gefühl, daß du mich heiraten müßtest –«

»Müßtest? Du lieber Gott, weißt du denn nicht, wie schrecklich lieb ich dich –«

»O ja! Lieb! Aber wenn du zurückkommst, wenn du wieder 'n smarter Anwalt bist und schrecklich zu tun hast – angenommen, du heiratest mich. Oh, ich könnt' lernen wie sechzehn College-Profs, und ich könnt's schon fertig bringen, geleckt zu reden, aber manchmal, so nach zwei Cocktails, werd' ich ja doch rausplatzen, und deine verdammt feinen Vettern werden sich scheußlich genieren und werden sagen: ›Diese Jane ist ein ganz ordinäres Manikürmädel, das ist sie und nichts anderes‹, und du wirst Zahnweh in deiner gesellschaftlichen Stellung kriegen. Und dann wirst du das Gefühl haben, daß du Joe dreckig mitgespielt hast und – wirst mich hassen.«

»Was ist denn, Alverna! Kind! Aber – wirst du denn nie lernen, nicht zu kokettieren? Weißt du nicht –«

»Du armer Zinnsoldat! Du hast ja noch nicht einmal gelernt, wie man sagt: ich hab' dich lieb! Nicht einmal jetzt. Ich weiß. Und ich weiß – oh, nachdem wir zusammen gehungert haben, und nachdem ich gemerkt hab', was für ein gut geöltes Hirn du hast, werd' ich nie – ich glaub' wirklich, ich werd' mich nie mehr in einen anderen verlieben. Aber ich möcht' nicht, daß du dich für mich schämst. Das könnt' ich nicht aushalten, Liebling. Grad' weil ich dich lieb hab'! Hol's der Geier!«

Sie lief von ihm weg, am Ufer entlang. Er streckte sich auf dem Sand aus, legte seinen müden Kopf auf den Arm und versuchte nachzudenken – was ihm völlig mißlang.

Ein Schrei von ihr, direkt über ihm, schreckte ihn auf: »Ralph! Ralph! Ich glaub', Joe kommt! Oh, ich hab' solche Angst! Vielleicht ist es nicht Joe, aber –«

Mit einem Ruck setzte er sich auf. Er konnte das entfernte Ticken eines Motors hören, er konnte im Nordwesten einen Fleck auf dem See erkennen und sehen, wie weit draußen der Bug eines Kanus sich bei jeder Sturzwelle aufstellte.

Immer noch hatten sie den Wind hoffnungslos gegen sich, und in den Wald zu fliehen, wäre sinnlos gewesen. Dort konnten sie nur verhungern, wenn sie nicht schon vorher vom Feuer erfaßt wurden und in den Flammen umkamen. Besser bleiben und schnell sterben.

Denn Ralph wurde sich bewußt, daß er in diesem Augenblick in Gefahr war, ermordet zu werden. Er entsann sich, wie erbarmungslos Joes helle blaue Augen diesen springenden Esel E. Wesson Woodbury gemustert hatten.

Er zog die Möglichkeit in Betracht, zuerst auf Joe zu schießen. Er konnte Alvernas Revolver nehmen –

Nein. Abgesehen von der großen (und lächerlichen) Wahrscheinlichkeit, zu fehlen, sträubte sich sein ganzes Ich dagegen, auf einen Menschen zu schießen, ganz besonders auf Joe Easter, den er trotz allem, was er ihm angetan hatte, liebhatte.

Alverna rieb sich wie ein Kätzchen an seinem Arm. Er küßte sie ein letztes Mal und stand ruhig da, zerfetzt und verschmiert, sehr stolz und aufrecht, und erwartete die Ankunft des unbekannten Kanus.


 << zurück weiter >>