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Erstes Kapitel

Der Strom schoß zwischen den buckligen Felsen hindurch, und Ralph hatte das Gefühl, daß seine heißen Finger etwas Hartes, Schlüpfriges berühren würden, wenn er dieses schwellende Glatt anfaßte, das dahinfloß wie polierte Bronze. Aber jenseits der gefahrdrohenden Enge wirbelten zwischen den halb unter Gischt begrabenen Felsen hundert Strudel in dem schäumenden, außer sich geratenen Fluß.

Ralph war die ganze lange Tragstrecke unter seiner Last fast besinnungslos vorwärtsgetaumelt, und jetzt, während des angestrengten Paddelns, hielt er besorgte Ausschau nach den Trichtern des Geisterkatarakts, spähte immer wieder rückwärts, ob der Mann, der ihn und das Mädchen verfolgte, hinter ihnen her war.

Er war froh, daß er es geschafft hatte. Das Boot war bei den berühmten Stromschnellen angelangt, die Uferfelsen flogen an seinen Blicken vorbei, und er merkte, daß es mit der Geschwindigkeit eines Flugzeugs in den Maëlstrom ging. Der Indianer im Bug war aufgesprungen und wies mit dem Paddelruder auf die einzige sichere Fahrtrinne durch das Rasen der brandenden Wassermassen.

Plötzlich waren sie in dem ruhigen Wasser hinter den Schnellen, und erleichtert atmete Ralph über dem erhobenen Ruder auf, so daß das Mädchen sich überrascht umblickte und der Indianer zu kichern begann. Es entstand ein heiliger Augenblick der Ruhe. Aber noch immer drohte die Möglichkeit, daß der aufgebrachte Mann hinter ihnen herjagte – wütend und rachedurstig.

Ralph Prescott war wohl das vorsichtigste Mitglied des überaus vorsichtigen New Yorker Anwaltsbüros Beaseley, Prescott, Braun und Braun. Er spielte Prozeß, wie er Schach spielte. Zank war ihm ebenso unbegreiflich wie eine Schlägerei, und er erschrak immer wieder, wenn er konstatieren mußte, daß er in Händel mit Klienten, Kellnern und Taxichauffeuren geriet.

Er murmelte: »Überarbeitet – muß alles leichter nehmen! – Zu aufreibend, diese Verhandlungen unter Hochdruck! – Werd's mal mit ein bißchen Golf versuchen.« Aber das bißchen Golf konnte seine Nerven nicht beruhigen, und sogar die unerhörte Ausschweifung, in die »Follies«, statt nach Hause zu gehen und über den Akten zu arbeiten, unter deren Last seine Regale ächzten, beruhigte ihn noch weniger, und Nacht für Nacht erwachte er in panischem Schrecken, lag er erstarrt unter unbegreiflichem Alpdruck.

Mit vierzig Jahren war Ralph Junggeselle mehr denn je. Denn da ihm seine verständnisvolle Mutter heiterer und schöner erschienen war und viel mehr Verständnis für ihn hatte als alle Mädchen, die er kennen lernte, hatte er die Gesellschaft seiner Mutter aller Romantik vorgezogen. Aber seit zwei Jahren war sie tot, und in den Stunden um Mitternacht, wenn sie ihn vom Schreibtisch weggeschmeichelt hatte, um mit ihm zu plaudern und zu lachen und ihm noch ein Glas Milch zu geben, bevor sie ihn ins Bett schickte, in diesen Stunden quälte ihn jetzt die Leere, die sie hinterlassen hatte, und er arbeitete, bis eins – bis zwei – bis zur müden Dämmerung.

Ralph war ein schmächtiger Mann mit Augengläsern, freundlich, ernst, vielleicht ein wenig naiv, beliebt bei seinen Freunden, dem Dutzend Rechtsanwälten, Ärzten, Ingenieuren und Börsenmaklern, die er im College kennengelernt hatte und nun allabendlich im Yale Club traf.

Trotz aller Anerkennung, die seine Geschicklichkeit und gründliche Tüchtigkeit in der Durchführung von Rechtsfällen fanden, bezeigte er doch allen Künsten und schönen Wissenschaften noch immer die gleiche Ehrfurcht wie seinerzeit im College, als er bei Professor Phelps Literaturvorlesungen gehört und Thoreau, Emerson und Ruskin von ferne verehrt hatte.

An einem Maitag in den zwanziger Jahren merkte Ralph Prescott, wie verbraucht seine Nerven waren.

Er fuhr an diesem Sonnabendnachmittag nach White Plains zum Buckingham Moors Country Club, um Golf zu spielen. Er benutzte sein eigenes Kupee, das mit seinen blanken Nickelverschlägen, seinen Fenstern aus fleckenlosem Spiegelglas, seinen züchtigen Kissenüberzügen aus vielgewaschenem Drillich so niederdrückend korrekt wirkte wie das Wartezimmer einer Beerdigungsanstalt.

Es war der erste wirklich schöne Sonnabend des Spätfrühlings, und was in New York irgendeine Art Motorgefährt zur Verfügung hatte – vom neunzehnhundertzehner Ford bis zum neuen Rolls-Royce, von der Limousine bis zum fiebrig zitternden alten Motorrad – alles wurde von derselben Begeisterung erfaßt und drängte hinaus, um sich in Westchester County umzusehen. Als Ralph aus der Siebenunddreißigsten Straße im Osten, wo seine kleine, bescheidene Mietswohnung lag, in die Fünfte Avenue einbog, war er zu abgespannt, um einen Kampf mit der grausamen und unnachgiebigen Wagenmenge aufzunehmen.

Nur durch Akrobatenkunststücke und mit Lebensgefahr vermochte er im Zickzack den anderen Wagen vorzufahren. Meilen hindurch kroch er hinter einem ehrwürdigen Sedan einher – erschrocken anhaltend, so oft dieser anhielt – bis er schließlich die leuchtende Glatze des Chauffeurs vor ihm zu hassen begann. Immer mußte er auf die andere Wagenreihe an seiner linken Seite achten, mußte an den Wagen hinter ihm denken, der anscheinend den Ehrgeiz hatte, ihn niederzurennen.

»Und das soll nun ein freier Nachmittag zur Erholung sein!« seufzte er. »Ich muß ganz einfach schauen, daß ich wegkomme. Das ist kein Leben. Ich müßte irgendwohin gehen, wo ich mich rühren und wieder atmen kann.«

Einmal, als ihm ein Verkehrsschutzmann, gerade als er an die Kreuzung kam, Halt gebot, ein zweites Mal, als ein kleiner Junge unmittelbar vor ihm über die Straße lief, blieb ihm das Herz fast stehen, mit einem Entsetzen, das so grotesk war und so nervenzerreißend wie der Schrei eines Wahnsinnigen. Während des Fahrens ließ seine Spannung nicht nach, er wartete nur voller Verzweiflung auf das Ende dieser Prüfung.

Endlich hatte er das scheußliche Sammelsurium von Tankstellen, Würstelbuden und häßlichen Häusern hinter sich und kam in den Frieden des geräumigen Klubgeländes. Er ließ seinen Wagen in der Kurve der Kiesstraße vor der Rhododendronhecke halten und klammerte sich kraftlos an das Lenkrad an.

»Muß mehr acht geben auf mich«, grübelte er. »Elendiglicher Zustand. Außerdem rauche ich zu viel.«

In dieser schlappen Stimmung ekelten ihn die Garderobenräume des Klubs noch mehr als gewöhnlich an. Feuchte Zementmauern, ein kiesiger Zementboden, der Geruch von Schweiß, Gin und alten Badetüchern, der Anblick bäuchiger Männer mittleren Alters, die sich in ihren Sporttrikots wie Jungen gebärdeten, der Lärm überlauten Gelächters und mehr oder weniger witziger Aufschneidereien über Spielerfolge – er hatte diese Höhle immer gehaßt! Aber heute war es geradezu unerträglich, und es war eine Erleichterung, als Mr. E. Wesson Woodbury ihn mit lärmender Jovialität begrüßte.

Woodbury war Vorsitzender des Spielplatzausschusses, sonst Vizepräsident und Verkaufsmanager der außerordentlich mächtigen Twinkletoe-Strumpf-Company, deren geschmeidige Waren an der Hälfte aller Mädchenbeine im Lande zu sehen sind, bei den japanischen Arbeiterinnen der Konservenfabriken in Seattle ebenso wie bei den Choristinnen in New York. Mr. Woodbury war ein runder, dicker, selbstzufriedener Mann. Er erinnerte an eine ganz besonders große und saftige Keule im Hühnerfrikassee des Sonntagsdinners, und bei seinem lauten, schnellen Lachen fuhr man erschrocken zusammen, wie wenn ein ungeschickter Fahrer die Kupplung klemmt.

Woodbury zog sich nur vier Schränke weit von Ralph um. Er legte karierte Knickerbockers an und Strümpfe mit purpurroten, gelben und erbsengrünen Ringen, die von einigen sparsam angebrachten rautenförmigen Flecken angenehm verziert wurden. Während er sich ankleidete, brüllte er, als wäre Ralph eine Meile von ihm entfernt:

»Kommen Sie lieber mit uns – wir sind drei von einem Vierer – nur drei – ich und Richter Withers und Tom Ebenauer – nur drei – aber eine Mannschaft, Junge, eine Mannschaft, großartige Mannschaft! Kommen Sie nur mit uns – der Richter läßt Sie vielleicht durchschlüpfen, wenn Sie mal wegen einer Schnapsgeschichte auffliegen.«

Sonst pflegte Ralph die Gesellschaft Woodburys zu meiden. Ruhigere, manierlichere und anständigere Männer waren ihm lieber. Aber heute, in seiner erschreckenden Unsicherheit, gab ihm Woodburys aufgeblasenes, strahlendes Patent-Selbstvertrauen einen gewissen Halt. Er hatte dasselbe Gefühl wie ein kleiner Junge in der Sexta, der wohl keine allzu große Achtung vor der Ansicht des Fußballkapitäns über lateinische Deklination hat, sich aber dennoch durch dessen Freundlichkeit glühend geschmeichelt fühlt.

»Gut –« sagte er.

So oder so war Woodbury schon ein Kerl, wie er ihn jetzt brauchte. Er mußte jemand haben, der ihn aus seiner elenden Niedergeschlagenheit herausreißen konnte.

Ralph spielte ein präzises und gewissenhaftes Golf, und trotz der Nervenattacken, die er gegen sich geritten hatte, war er, ohne sich besonders anzustrengen, der beste im Vierer. Während sie sich über die heiteren Wiesen des ulmenbeschatteten Spielterrains bewegten, fand Ralph wieder Ruhe und Kraft und faßte sogar eine gewisse Zuneigung für seine unentwegt spaßenden Gefährten. Aber Woodbury machte keineswegs immer Späße. Er hatte einen Verdruß:

»Ein schönes Pech, das ich gehabt habe. Ich hatte mir 'ne großartige Fisch- und Paddeltour droben in Nordkanada vorgenommen – nördlich hinauf von der Endstation der Bahn, an der Grenze von Manitoba und Saskatchewan entlang – das Land am Mantrap River. Großartige Gegend – ganz weit weg von der Zivilisation; da denken Sie überhaupt nicht mehr an die verdammten Schreibtische und Telephonanrufe und falschen Konti. Vor drei Jahren war ich schon mal oben – nach Mantrap bin ich nicht ganz gekommen, aber in die Nähe. Und Fische! Ich sage Ihnen! Muskalonges, Spitzmäuler (in Kanada nennen sie sie Dorés), Seeforellen von zehn Pfund, fünfzehn Pfund – Junge! Ich hatte schon den ganzen Plan fix und fertig, wollte diesen Sommer mit einem Freund von mir, der in Winnipeg wohnt, hinauf – Kanus gekauft, Route ausgearbeitet, vier fabelhafte Indianer als Führer geheuert; und mit einem Male hat Lou – mein Freund – den niederträchtigen Einfall, sich mit mir zu verkrachen. Sagen Sie, Prescott, Sie sollten sich die Sache wirklich mal überlegen und mit mir in die Gegend da hinaufgehen. Ihr Anwälte habt ja sowieso nie was Ernsthaftes zu versäumen. Lassen Sie Ihre armseligen ollen Klienten 'ne Zeitlang in Ruhe und geben Sie ihnen eine Möglichkeit, 'ne Kleinigkeit Geld zusammenzukratzen, das Sie ihnen nächsten Herbst wieder abnehmen können!«

»Ich könnte einen Urlaub ganz gut brauchen«, murmelte Ralph, viel eifriger mit der wahrscheinlichen Lage seines Balls beschäftigt als mit der großartigen freien Natur.

»Ganz gut brauchen? Me–ensch! 'nen Fünfzehnpfünder rausziehen! Am Lagerfeuer sitzen, den Old Timern zuhören, wie sie über ihre Pioniertaten flunkern! Im Zelt schlafen, ohne Autogetute! Und sehen Sie, Prescott, ernsthaft jetzt: ein schrecklich leichter Trip, so wie ich ihn vorhabe. Die Indianer machen die ganze Schlepperei bei den Tragstrecken; sie kochen das Futter und putzen die Fische und schlagen die Zelte auf. Und wenn wir nicht mit dem Außenbordmotor fahren, paddeln auch sie, nicht wir.«

»Motoren? Kanus? In Nordkanada?« keuchte Ralph. Ein Sakrileg!

Woodbury schüttelte sich in fast hysterischem Gelächter.

»Ach, Sie entzückendes Muttersöhnchen! Sie Manhattan-Hinterwäldler! Jeder Creehäuptling in Kanada – Sie erwarten wahrscheinlich, daß sie alle Wildlederhosen anhaben und in Birkenrindenkanus fahren. Also, es gibt kaum einen Häuptling, der nicht einen Außenbordmotor und das Segeltuchkanu des Weißen hat. Herr Gott, ihr fallt mir auf die Nerven. Ihr – also, Sie wissen genau Bescheid mit London und Paris und der Riviera – ich habe Sie mit Eddie Leroy drüber schwatzen gehört – und von unserem Nordamerika hier kennt ihr nicht mehr wie 'n Karnickel. Himmel noch einmal, Sie wissen aber auch rein gar nichts. Kommen Sie nur mit mir und lernen Sie zur Abwechslung mal richtige Männer kennen!«

Ralph ärgerte sich und machte sich Gewissensbisse. Es war richtig, er wußte nichts, nicht das mindeste von den Trappern und den Schürfern, die noch immer an der Grenze lebten. Er hatte noch nie auf dem Erdboden geschlafen. Er war verzärtelt und furchtsam – er mit seinen netten kleinen Ferien in der Bretagne, in Devonshire und dem bayerischen Oberland! Aber ihn irritierte auch Woodburys überlegene Art, als er ihm, wie ein Radioansager, einen Vortrag darüber hielt, daß es sechs Methoden gäbe, die großen Lastkanus, deren man sich auf den langen Nordfahrten bediene, vorwärts zu treiben: paddeln, staken, motoren, tauen, segeln und sogar, in Tiefwasser, rudern.

Mr. Woodbury verachtete offenbar die lackierten Boote mit roten Kissen und Modenamen, die in Sommerfrischen zu finden sind. Da Ralph aber noch nie andere gesehen hatte, da er für einen bestimmten See, ein bestimmtes Kanu und ein bestimmtes Mädchen, das er in der goldenen Zeit vor zwanzig Jahren eine ganze Meile weit gepaddelt hatte, eine zärtliche Erinnerung bewahrte, war Woodbury für ihn ein Lümmel … Ein fürchterlicher Gesellschafter für das enge Beisammensein, zu dem eine Reise durch die Wildnis zwingt.

Als sie aber das Spiel beendet hatten und zum Klubhaus zurückgeschlendert waren, zum Gin und Ingwerbier, nach denen es Richter Withers ganz besonders dürstete (nach einer harten Woche voller Urteile wegen heimlichen Ginverkaufs), legte Woodbury seinen Arm um Ralphs Schulter und rief mit der bezaubernd jungenhaften Art, die ihm manchmal zu eigen war:

»Seien Sie nicht böse, weil ich Sie aufgezogen habe, Prescott. Sie kennen die Wälder nicht, aber Sie würden sich dran gewöhnen – Sie sind ein ganzer Kerl, und auf den Kopf gefallen sind Sie auch nicht. Wenn Sie's möglich machen könnten, würde ich mich sehr freuen, Sie mitzuhaben. Bedenken Sie! Hinauf zur Hudsonbay, wo schon im August die Nordlichter quer über den Himmel schießen!«

Obgleich er den Vorschlag nicht ernst genommen hatte, fuhr Ralph den ganzen Weg vom Klub zerstreut nach Hause, ohne sich das drängende Schieben des Verkehrs ins Bewußtsein dringen zu lassen, ganz in Visionen vom Norden eingesponnen – in Visionen aus Büchern, die er im Bett verschlang, nach Mitternacht, wenn seine Nerven ihn nicht schlafen ließen …

Der lange Weg. Ein düsterer Pfad unter riesigen Tannen. Oben goldgrünes Licht, das zwischen den Zweigen hindurchgleitet. Verträumte Seen, die das Silber der Birkengehölze wie Ebenholz widerspiegeln. Die eherne Nacht, und in dem ungeheuren Schweigen strahlende Sterne. Finstere, wortlose Indianer, hoch, hakennäsig, Meile für Meile der Fährte eines verwundeten Elens folgend. Eine Blockhütte, und an der Tür eine liebliche Indianerprinzessin. Ein Trapper mit der Last kostbarer Felle, Hermelin, Kreuzfuchs und Biber …

Ein glänzendes Dinner in einem japanischen Restaurant am Croton River stärkte Ralph in seinen Träumen, und in ausgezeichneter Stimmung fuhr er heim und ließ seinen Wagen in der großen, ununterbrochen summenden Garage, in der die Automobile von Syndicis, alkoholschmuggelnden Millionären und Filmschauspielerinnen friedlich nebeneinanderlebten. Pfeifend kam er in das Haus, in dem seine Wohnung war, und pfeifend öffnete er seine absonderlich schwarz und orange bemalte Tür.

Sein Herz machte einen Saltomortale, er fuhr vor Entsetzen keuchend zurück. Ihm gegenüber stand ein Eindringling mit ausgestrecktem Arm, in der Hand einen Revolver …

In zwei Sekunden sah er, daß der Eindringling er selbst war – sein verschwommenes Spiegelbild im großen Spiegel der Badezimmertür. Der ausgestreckte Arm war sein eigener, und der glitzernde Revolver sein harmloser Türschlüssel. Dennoch ließ ihn der Schrecken nicht zu Atem kommen, selbst als er schon durch den Flur in das pedantisch und etwas schwerfällig ausgestattete Wohnzimmer wankte und schlotternd in einen roten Ledersessel fiel.

»Ich – ich muß unbedingt etwas tun, oder es kommt zu einem Zusammenbruch! Ich will mit Woodbury nach Kanada. Schließlich ist er ein riesig guter Kerl, trotz seinem Brüllen und seinen verdammten Dummheiten und Dalbereien. Ich werde gehen!«

In seinem ganzen behüteten und sorgfältig vorausberechneten Dasein hatte er sich noch nie so – verzweifelt entschlossen ausgesprochen. Und in seiner Stimme zitterte der Schrecken noch nach, als er am Telephon Woodburys Nummer verlangte und mit ihm sprach; sie klang kaum weniger geängstigt, als er ein Taxi bestellte und die Portierfrau grüßte, die vom Vestibül aus das Schauspiel genoß, den wohlanständigen Mr. Prescott um elf Uhr nachts das Haus verlassen zu sehen.

»Natürlich – natürlich – kommen Sie nur rüber – macht gar nichts, daß es spät ist. Ich werde meiner Frau sagen, sie soll den Japs ein paar Flaschen richtiges, echtes Bier aufs Eis legen lassen.« Im Taxi, das ihn zu Woodbury führte, war ihm noch ganz warm ums Herz von so viel Freundlichkeit.

»– nicht mehr um die ganze Kreuzworträtselklauberei der Gesetzesbücher kümmern, um die Konzerte und superklugen englischen Wochenschriften, um die behutsamen Bridgepartien! Hinauskommen zu wirklichen Männern, richtiges Männerfutter essen und auf der Mutter Erde schlafen«, murmelte er. »Guter alter Woodbury – er ist doch ein prachtvoller Kerl!«

Woodbury wartete schon in der Halle unten, als Ralph ankam. Er begrüßte ihn, indem er ihm dreimal die Hand schüttelte und ihn dreimal wuchtig auf die Schulter klopfte, dann führte er ihn über die reichgeschnitzte Treppe aus schwarzem Nußholz hinauf, in die »Bude«, ein üppiges, etwas muffiges Zimmer: unzählige herumstehende Nippes, alte Pfeifen, die zum Andenken an die Colgate University an einem mit Brandmalerei geschmückten Gestell hingen, und die Originalplakate – viele Mädchen mit seidenglatten Beinen –, deren Kopien einer sehnsüchtigen Welt die frohe Botschaft von den Twinkletoe-Strümpfen gebracht hatten.

Er führte Mrs. Woodbury vor, eine hübsche Frau von dreißig Jahren.

»Oh, Mr. Prescott, es wäre wirklich zu reizend, wenn Sie mit Wesson mitgehen könnten. Der alte Bär! Er tut immer so, als ob er ein rauher Mann der Wildnis wäre, aber in Wirklichkeit ist er zart wie ein Baby, und ich hoffe, Sie werden mit ihm hinaufgehen und auf ihn achtgeben. Sie sagen, Sie sind solche Strapazen nicht gewohnt, aber wirklich, Sie sehen richtig athletisch aus – wie ein Waldläufer.«

Ihr Gatte gab zu: »Ja, das wird schon stimmen, glaub' ich. Ich bin nicht so tüchtig, wie ich immer tue. Aber trotzdem komme ich mit Speck und Sterz viel weiter, als die kleine Frau da meint, und für Sie könnt' es nur gut sein, wenn Sie in die großen Wälder zum erstenmal mit einem Mann kommen, der nicht so ausgekocht ist und Sie womöglich achtzehn Stunden im Tag vorwärtstreibt.«

Diese Bescheidenheit überzeugte Ralph eher als stundenlanges Prahlen mit verwegenen Pionierstaten, und er fand, daß es schön sein würde, mit ihm zu fahren.

Und als Woodbury wie ein etwas wichtigtuerischer, aber sehr lustiger kleiner Junge seine geliebten Spielsachen aus Kisten und Schränken hervorholte, machten die Schönheiten eines lackierten Fisches (der so unerquicklich tot aussah, daß man unmöglich mit freudigen Gefühlen an den Fang denken konnte) und die Smartheit eines Angelzeugs mit achatgelagerter Rolle auf Ralph weniger Eindruck als ein abgetragenes und runzliges Paar Schnürstiefel.

»Das sind mal richtige Ritz-Tanzpumps«, sagte Woodbury zärtlich. »Kucken Sie sich die Nägel an – als wären sie aus 'nem Salzstreuer draufgebeutelt. Habe ich mir extra machen lassen. Und der Fuß – weich wie ein Mokassin. Die Stiefel – na, ich sage Ihnen, die waren mit mir in Maine, und in Michigan und in Kanada. Viele große, schöne Barsche hab' ich rausgezogen mit den Stiefeln an den Füßen. Auf viele Berge bin ich raufgestiegen. Und jetzt möcht' ich Ihnen was zeigen, das wirklich was ist!«

Er breitete eine auf Leinwand aufgezogene Karte aus, welche die Inschrift trug, »Mantrap River und Umgebung«. Da war Winnipeg, in der Ecke rechts unten; da war der Flambeau River; der Warwicksee und der Mantrap River, Mantrap Landing und der Träumende See, Verlorener Fluß, Weinender Fluß und Mitternachtssee, Geistersquawfluß und Geisterkatarakt.

Ralph konnte sich mehr oder weniger ein Bild von Winnipeg machen, obwohl er nie im Westen von Chicago gewesen war; und er hatte vom Flambeau River gehört. Er stellte sich seine gelben Wasser vor, die mürrisch über tausend Meilen durch riesige Föhrenwälder, durch Weidendickichte und einsame, melancholische Sümpfe rollten. Aber das meiste auf der Karte, in Manitoba sowohl wie in Saskatchewan, war ihm ebenso fremd wie Zentraltibet, und die Namen lockten ihn: Kriegstrommelkatarakt, Singende Schnellen, Neepegosis-See, Mudhen Creek; Donnervogelsee, Föhrenspitze. Und Ansiedlungen, die Whitewater und Kittiko und Mantrap Landing hießen – Flecken, sicherlich entzückend, mit dunkelhäutigen Indianern, kleinen Rothäuten auf den Rücken der Squaws, den Blockhütten der Hudsons-Bay-Company-Posten und Trappern, die in ihren schwarz und rot gewürfelten Hemden froh und zufrieden waren.

Bevor sein sonst scharfes und aller Romantik bares Auge die Karte halb übersehen hatte, wußte er, daß er sich von seinem gewohnten, wohlgeordneten Leben loslösen und in diese Mysterien untertauchen würde, und bevor er die Flasche Bier zur Hälfte geleert hatte, die Woodbury stolz für ihn öffnete (am Griff einer Schublade im Küchenschrank, weil erstaunlicherweise, aber ganz gewiß nur im Augenblick, kein Flaschenöffner zur Hand war), gab Ralph die für ihn fast übertrieben unvorsichtige Erklärung ab:

»Ich glaube wirklich, ich sollte versuchen, ob ich es nicht einrichten könnte, mich frei zu machen, und ich bin Mrs. Woodbury und Ihnen ganz außerordentlich dankbar dafür, daß Sie meinen Besuch zu dieser unziemlich späten Stunde angenommen haben, und –«

Diese Nacht, es war schon sehr spät, legte er den ganzen weiten Weg in die Siebenunddreißigste Straße zu Fuß zurück. Er fühlte sich stark und groß und frei, und während seine Füße in schwarzen Schuhen und sauberen Leinengamaschen stolz über das Pflaster klapperten, war es ihm, als stapften sie über einen sumpfigen Waldweg hoch oben im Norden.


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