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Fünftes Kapitel

Das Zelt, das die Indianer für sie aufschlugen, bedeutete für Ralph mehr als bloßes Obdach, es galt ihm als ein Symbol der Wildnis und aller mutigen Expeditionen. Es war aus Ballonseide und hatte einen an den Seitenteilen festgenähten Boden, so daß die menschenfresserischen Moskitos des Nordens keine Ritze fanden, durch die sie hätten hineinschlüpfen können. Die fünf Netzfenster wurden von Seidenklappen geschützt, die bei Regen mittels sinnreich im Inneren des Zeltes angebrachter Schnurzüge heruntergelassen werden konnten.

Die Fenster hatten etwas Theatralisches an sich, das in Ralph eine kindliche Fröhlichkeit wachrief, wie sie in seinem ernsthaften Leben etwas ganz Ungewöhnliches war. Er lachte, als er die Fensterklappen hinauf- und hinunterschob, Woodbury lachte und freute sich mit ihm, und in glänzender Laune krochen sie hinaus unter das Moskitonetz, um ihre erste Lagermahlzeit in Angriff zu nehmen – den Tee, den Speck und den Sterz, den der alte Charley, der Oberste der Führer, für sie hergerichtet hatte.

Nun ist Sterz, technisch, eine Abart von Brot. Aber nur bei den Wald-Crees mit ihren Eisenmägen wird er für eßbares Brot gehalten. Als Ballast, als Wurfgeschoß oder als Anker genießt er einen guten Ruf, aber was seine innerliche Verwendung betrifft, muß er auf eine Stufe mit Kuttelflecken und Pemmikan gestellt werden. Sterz wird ohne Hefe gemacht, er besteht aus Mehl und Wasser, die man zum Haften bringt, indem man sie über einem rasenden Feuer auf Fett in einer Bratpfanne kocht. Aber Ralph brachte es zustande, ihn in der Kehle durch reichliches Schmieren mit Butter und Marmelade zum Gleiten zu bringen; den Tee machte er sich durch Mischen mit kondensierter Milch schmackhafter; und bei dem Speck eiferte er dem großen Woodbury im Essen mit den Fingern nach.

Woodbury bewies mit geradezu zelotischem Eifer, wie tüchtig und männlich er in der großen freien Natur sein konnte, von der alle Stadtbewohner so bewunderungsvoll sprechen. Er war mit vielen Freuden ebenso eifrig bemüht, sich mit Fett zu beschmieren, wie er sich in New York davor zu hüten gesucht hätte. Und er war genial im Entdecken von Amüsements für den Abend.

Jetzt im Juni blieb es im Norden bis elf Uhr hell, und sie hatten keine Lust, schlafen zu gehen, obgleich sie um fünf Uhr aufstehen mußten, um den Flußdampfer zu erreichen. Der Abend zog sich ziemlich lange hinaus. Ralph bemühte sich, der Gesellschaft Woodburys Geschmack abzugewinnen, aber die Unterhaltung über Gemeindeobligationen und die Schönheiten des Strumpfgeschäfts machte ihn etwas melancholisch.

Anderer Vergnügungen gab es im Flecken Whitewater wenig. Ein Kino hatte hier nie existiert, und die letzte Theatergesellschaft war die Große Lionel Lornton Londoner Zelt-Theatergruppe gewesen, die vor nunmehr sieben Jahren »Die Kleine von Tennessee« und »Die Gefahren von Limehouse« aufgeführt hatte; und selbst wenn Ralph eine ausgesprochene Vorliebe für Gebetversammlungen gehabt hätte, heute fand in der kleinen Holzkapelle keine Vorstellung statt. Ihr Freund von der Mounted Police war über Land gefahren, um einen Schweden, der naturalisiert werden wollte, zu examinieren. So suchten die beiden verzweifelt den Ort nach Zerstreuungsmöglichkeiten ab – und sie entdeckten eine gesellige Versammlung.

Vor der »British Jack General Supply Company: Hüte und Mützen, Kleider und Tafeldelikatessen; Pelzankauf zu höchsten Preisen und Felchen-Versand. Unser Motto: Ehrlich währt am längsten«, einer mit Teerpappe gedeckten Blockhütte, saßen drei Männer in Overalls. Ralph und Woodbury setzten sich zu ihnen, begrüßt von nicht unfreundlichen »'n Abend«-Grunzern.

Siebzehn Minuten debattierte die Gesellschaft darüber, ob im Norden des Renntiersees Heu gezogen werden könnte. Neun Minuten erörterten sie den Grund, warum Pete Wrzskas Außenbordmotor – der an seinem roten Ruderboot, nicht der alte Motor, den Pete von Harry Larssen gekauft hatte, vor zwei Jahren – heute morgen nicht hatte anspringen wollen.

Ralph und Woodbury begaben sich weiter zur nächsten Soirée; zu den vier Männern und einer Frau mit Schürze, die vor der Villa des Doktors standen und dessen Bericht über den Stand von Frau Bjones Rheumatismus lauschten. Aber das schien eine Privatsache zu sein; sie hatten das Gefühl, daß sie nicht stören dürften.

»Sage ihnen, was wir tun werden – sage ihnen, was wir tun werden!« frohlockte Woodbury. »Sie kennen doch den Ortspolizisten, der hier stationiert ist. Ja, das sind immer gute Burschen – richtige ausgekochte Brüder – werden ihn rauskitzeln und ein Spielchen Poker aufziehen. Sie haben noch nie 'nen Poker hier oben im Norden gesehen. Junge, das hier sind die richtigen Jungens, die spielen können. Trapper und Händler und alle, und auch ein paar von den Indianern. Bluffen mit 'nem Paar Zweier. Mensch, ich habe, also ich habe Ihnen 'nen Pelzaufkäufer gesehen, der bis auf seine letzten zwanzig Dollar erledigt war, rein erledigt – ich habe gesehen, wie er alles bis auf den letzten Cent auf die Chance von 'ner einzigen Karte gesetzt hat. Großartige Sache! Haben hier oben in den Wäldern gespielt, in 'ner Blockhütte, mitten zwischen den dicksten Föhrenstämmen, auf 'nem rohen Föhrentisch, bei 'ner ollen blakigen Öllampe, haben bis zur Dämmerung gespielt, und dann sind sie alle in den See gesprungen, zum Schwimmen, gerade wie die Sonne übers Wasser raufkam. Junge, das heißt leben!«

Ralph war zwar im stillen der Meinung, daß das eine besonders beschwerliche Art zu leben wäre, aber er lächelte, so warm er nur konnte, und folgte möglichst freundlich und guten Willens, als Woodbury dem Haus des Ortspolizisten zugaloppierte und voller Pokerbegeisterung rief: »Werden sehen – er wird wild sein auf ein Spielchen – totscharf – möchten immer gern so'ne Häschen wie uns zum Spielen kriegen und ausziehen – aber bei mir werden sie kein Glück haben – werden schon sehen!«

Es war halb zehn, der Sonnenuntergang brannte noch über dem trüben Lauf des Flambeau, hinter den Weiden am Ufer, hinter dem hageren Eisenblechschornstein der verlassenen Sägemühle. In dem leuchtend gelb und weißen Häuschen des Ortspolizisten war alles still, auf ihr Klopfen kam keine Antwort.

»Das ist toll«, sagte Woodbury. »Halb zehn ist ein bißchen zu früh zum Schlafengehen in dieser Großstadt, ungefähr 'ne Viertelstunde zu früh, aber zum Ausgehen, Besuchmachen oder so was, ist es verflucht spät. Irgendwas stimmt da nicht. Wahrscheinlich hat Bert Bunger den Polizisten im Bett ermordet.«

Aus der weißgetünchten Blockhütte nebenan, die ein stattliches Stiefmütterchenbeet und zarte wilde Rosen schmückten, kam ein Alter mit silberweißem Bart, die Brille auf der Nasenspitze, herausgekrochen und krächzte:

»Ihr sucht wohl wen?«

»Den Polizisten.«

»Den Polizisten?«

»Ja.«

»Hat wer was angestellt?«

»Nein.«

»Schön. Schön! Seid fremd hier, nicht wahr?«

»Ja. Sagen Sie, ist –«

»Fahrt morgen mit dem Flußdampfer weiter?«

»Ja. Sagen Sie, ist der Polizist schlafen gegangen, oder was –«

»Heh?«

»Ist er schlafen gegangen?«

»Der Polizist? Schlafen gegangen?«

»Ja.«

»Hach, neee! Türlich nicht!«

Der gute Alte war beleidigt und erstaunt. »Er und seine Alte, die sind hinuntergegangen zu Milligans, das Kreuzworträtsel in der Winnipeger Zeitung, die heute gekommen ist, das wollen sie nämlich auflösen.«

»Glauben Sie, daß er gern 'ne Partie Poker machen würde?«

»Der? Der Polizist? Hach, der ist doch 'n Sabbath-Adventist! Der hat gar kein Laster, überhaupt kein einziges. Na, ja, außer Tabakkauen vielleicht, und daß er 'n paar Tropfen Fusel aufschlabbert, nur ganz wenig, wenn er mal 'ne Destillierblase ausräumt. Neee, Herr. Der ist 'n braver moralischer Bursche. Na ja, aber ich, wie ich noch Trapper war, vor vielen Jahren, das war bevor ich zur Handelsgesellschaft gegangen bin – für die hab' ich 'n paar schöne Jährchen gearbeitet, ja, dann hab' ich 's mit dem Rheumatischen gekriegt, aber meine Tochter, die hat den Ed Toggermann geheiratet, ein feiner Junge ist das und ein zäher guter Arbeiter auch, wenn er nicht die Saufsträhne hat, also der schickt mir sechzig Dollar im Monat, regelmäßig wie 'ne Uhr, er hat nämlich 'nen neuen Posten gekriegt, oberhalb von Regina, auf 'nem Holzplatz, dort steht er sich recht gut. Ja, was ich sagen wollte, wie ich noch Trapper war, damals hab' ich ja auch 'n bißchen gespielt, aber ich weiß nicht, ich hab' mich nie viel um Karten geschert, hab' immer lieber 'nen kleinen Nicker gemacht. Aber ich meine, wenn die Herren 'n kleines Spiel machen wollen, ich könnt's ja mal versuchen, um Ihnen zu Gefallen zu sein. Ich glaub', ich erinner' mich noch halbewege, wie man richtig spielen muß, und dann könnten wir vielleicht meine Enkelin haben. Sie ist erst zwölf, aber aasig schlau – sie ist nicht die Tochter von Ed, sie ist die Tochter von meiner anderen Tochter, die im Bon-Ton-Laden arbeitet, und ich weiß eigentlich nicht, ob sie Poker spielt, aber sie und ihre Ma, das weiß ich, spielen manchmal Kasino –«

Sie wendeten die Gefahr eines Familienpokers ab. Sie setzten sich vor ihr Zelt, auf einen Eimer und eine große Konservenbüchse, und sahen dem Fließen des Wassers zu.

Es hörte nicht auf zu fließen.

Vor elf waren sie im Bett.

Auf Ralph übte sein Bettzeug den gleichen eigenartigen Reiz aus wie das Zelt. Es war ein Schlafsack, außen mit heiterem grün-und-braunen Segeltuch bezogen, innen mit Decken gefüttert, die mit weichen Eiderdaunen unterlegt waren. Da waren Knöpfe, Riemen, Schnallen; da war eine Klappe für den Kopf, falls es regnen sollte. Es war in sich ein kleines Haus, und mit einem Gefühl von Abenteuerlichkeit und gleichzeitigem Geborgen- und Abgeschiedensein kroch Ralph hinein.

Er hatte begonnen sich auszuziehen, aber Woodbury hatte geschnaubt: »Was fällt Ihnen denn ein, was machen Sie da? Alles, was Sie im Norden ausziehen, sind Schuhe und Rock. Sie armseliges Hühnchen! Und jetzt werden Sie mir womöglich noch erzählen, daß Sie sich ein Kissen mitgenommen haben?«

Ralph hatte eines mitgenommen, ein ganz reizendes kleines Kissen aus den allerbesten Daunen. Für ihn bedeutete ein Kissen das Schönste vom Schlaf. Er liebte es, sich hineinzukuscheln, es zum Schutz vor der zudringlichen Außenwelt um seine lärmmüden Ohren zu stopfen. Er war stolz darauf gewesen, wie praktisch sein neues Reisekissen war. Es war so angenehm klein und mit schmutzsicherem Kattun überzogen, außerdem hatte es ein fröhliches Papageien- und Orchideenmuster, auf dem das Schlafen für jedermann eine Freude sein mußte.

»Warum denn kein Kissen?« greinte er.

»Du lieber Gott! Es nimmt so viel Raum ein wie 'ne Dreitageration. Übrigens, jeder Mensch hier oben wird sich über Sie totlachen, wenn Sie so'n Weichling sein werden. Rollen Sie Ihren Rock zusammen und schlafen Sie drauf wie'n richtiger Mann!«

Ralph rollte seinen Rock zusammen, aber nun auch darauf zu schlafen wie ein richtiger Mann – das gelang ihm nicht.

Eine Sekunde lang streckte er sich, müde von dem steifen Sitzen während der Bahnfahrt und von dem Zank mit Bunger, behaglich zwischen seinen Decken aus. Aber die festgetretene Erde am Fluß war unglaublich hart. Je schläfriger Ralph wurde, desto bösartiger stieß der Boden nach ihm. Die Erde lieferte ihm eine Schlacht. Sie bäumte sich auf und schlug ihn. Er entdeckte die Wichtigkeit seiner Schultern und Hüftknochen. Sie schmerzten von den unaufhörlichen Mißhandlungen.

Woodbury war für einen Augenblick schnarchend in Schlaf gefallen, aber auch ihn weckte die unnachgiebige Erde, und er wälzte sich, trübe, unklare Nachtgeräusche erzeugend, hin und her. Es war noch nicht dunkel im Zelt. Ralph lag da und studierte die sich stärker abzeichnenden Nähte am First; er litt unter der Schläfrigkeit und konnte nicht einschlafen – auf diesem harten Boden einzuschlafen, war einfach unmöglich.

Und der wehrhaft zusammengerollte Rock lag wie ein Holzbrett unter seinem Ohr.

»Wach?« grunzte Woodbury.

Ralph schwieg.

»Wach?«

Noch hielt Ralph sich zurück. Aus einem nicht ganz klaren Grund gelüstete es ihn, Woodbury mit etwas Schwerem zu stoßen, das aber glatt in der zugreifenden Hand liegen sollte.

»Die verdammte Erde ist so verdammt hart, daß einem jeder verdammte Knochen im Leibe weh tut. Na, werden uns dran gewöhnen müssen«, sagte Woodbury erläuternd, dann drehte er sich wieder um und schien einzuschlafen.

Während Ralph in den Krallen schleichender Lähmung dalag, erinnerte er sich und suchte zu vergessen, und erinnerte sich wieder, daß er Woodbury davonlaufen könnte – und daß dies seine letzte Möglichkeit sei, ihn zu verlassen. Er malte sich Camp-Hotels in Maine aus: die Kiefern ebenso schön wie hier, der See ebenso strahlend, aber Essen, das für Magen mit Selbstachtung bestimmt war, und vernünftige Betten in wohlriechenden Blockhütten. Er gedachte eines freundlichen Gasthofs auf einem Hügel in New Hampshire. Er sah eine Pension im Bayrischen Oberland vor sich, mit den Bergen hinter den geschnitzten Giebeln der Bauernhäuser; einen Gasthof an der bretagnischen Küste; einen Pfad durch die Hochlandheide. In sechs Tagen konnte er auf einem Schiff sein, unter zivilisierten Menschen, die auch von etwas anderem reden würden als von Gemeindeobligationen und dem Strumpfgeschäft; in zwölf Tagen konnte er in Southampton landen – die Schornsteinaufsätze und die Fleischextraktreklamen wiedersehen und die anregende Rauchatmosphäre einschnüffeln, die London bedeutete.

Diesem engen Beisammensein mit Woodbury entkommen, diesem rohen, traditionslosen Land, dieser sinnlosen Komfortlosigkeit …

Die blödsinnigste aller unserer amerikanischen Fabeln: sich durch die Wildnis schlagen!

Die männererfreuende freie Natur – Wes Woodbury will Poker spielen!

Dann schwor er sich: »Nein. Ich will es nicht tun. Es gefällt mir hier nicht. Ich mag diesen Kerl, den Woodbury nun einmal nicht. Aber ich habe zu verweichlicht gelebt. Ich muß es aushalten. Nur –«

Als wollte er eine Schar anklagender Sportsleute herausfordern, schrie er, mit großem Getöse, obwohl alles sich in seinem Hirn abspielte:

»Nur muß ich Euch jetzt unbedingt sagen, daß Baseball mich ankotzt, und Fischen halte ich für langweilig, und Poker für noch langweiliger, und wenn es mich mein amerikanisches Bürgerrecht kosten sollte: ich behaupte, Schlafen auf dem Erdboden ist einfach Quatsch!«

Erschöpft von diesem Bekenntnis seines Ketzertums, schlief er eine halbe Stunde und erwachte zu einer weiteren Herausforderung, die so fürchterlich war, daß die Menge seiner Ankläger nach Luft schnappte.

»Und ich würde eine Ente, die sitzt, ebenso gern schießen wie eine im Flug. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es ein so mordsriesengroßer Unterschied für eine Ente ist, ob sie sportsmännisch umgebracht wird oder sonstwie. Verstanden?

Und ich will mein kleines Kissen nicht wegwerfen! Ich werde es mir heimlich mitnehmen!«


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