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Zwanzigstes Kapitel

Eine Woche lang war alles ein böser Traum von Moskitos, von Tragstrecken und gewundenen kleinen Wasserläufen, die sie aufwärts staken mußten, und eine Hölle nichtendenden Paddelns. Ralphs einziger Trost war Alvernas unbeugsame Tapferkeit und ihre lächelnde gute Laune, wenn sie beim Paddeln an die Reihe kam, wenn sie sich auf den Tragstrecken abrackerte, oder wenn sie in einem verschmierten Kleidungsstück, das einmal ein weißer Leinenrock gewesen war, am Lagerfeuer saß und ihre zerschundenen kleinen Hände um die Knie schlang.

Er war mutig, weil sie an seinen Mut glaubte. Wenn sie ihre Hand vertrauensvoll in die seine gleiten ließ und murmelte: »Du bist so wundervoll gut zu mir gewesen«, war er für seine Mühe belohnt.

Wenn er ihren Schlaf bewachte – ihren Schlaf unter zerfetzten, ungenügenden Decken in den kalten Nächten, die nach den atemlosen Tagen voller Sonnenglut auf sie herabstürzten – dann blühte sein vertrocknetes Herz in Zärtlichkeit auf … Zu denken, daß er einmal Leute geschätzt hatte, weil sie Goossens' Musik oder die Bücher von James Joyce verstanden, weil sie gute Kleider trugen und wußten, wie man sich einer Gabel bedient, weil sie aus hölzernen Worten eine Barrikade gegen das brüllende Leben errichten konnten!

Zärtlich breitete er seine eigene Decke über sie und lag frierend unter einer Persenning. Und morgens, wenn sie ihre beschmierten Gesichter nebeneinander in dem eiskalten Wasser eines nordischen Sees wuschen und ihre Wangen in plötzlichem Leben stachen und brannten, lächelten sie einander in stummem Einverständnis zu – und Ralph Prescott war nicht mehr ein vorsichtiger Mann von einigen Vierzig, er war ein zwanzigjähriger Junge voller Romantik.

Über den Geistersquaw-Fluß, den Geisterkatarakt und die Springenden Schnellen, dann über die Tragstrecke zum Verlorenen Fluß (einen Marterpfad, der zur Hälfte über sonnenheiße Felsen, zur Hälfte durch einen moskitorauchenden Sumpf führte) kamen sie zum Hecht-See. Fünf Meilen segelten sie dort, behaglicher als Antonius und Kleopatra in ihrer rotbeschwingten Karavelle.

Ralph konnte nicht begreifen, daß er je während des Segelns ein Gefühl des Unbehagens empfunden hatte. Nach den vielen Tragstrecken und der Tortur des Paddelns im Schatten des geschwellten Segels zu liegen, sich den kühlenden Wind über die verbrannten Wangen streichen zu lassen, Alverna leise singen zu hören – und trotzdem vorwärts zu kommen, mit jedem Augenblick sich weiter von Joe Easters drohendem Zorn zu fühlen: das war ein Paradies, das er nie erträumt hatte.

Noch eine Tragstrecke, ein wahnsinniges Trotten durch fünf Meilen Unterholz und Dickicht, und sie kamen wieder zu offenem Wasser, zum Donnervogel-See. Aber keine Brise kam ihnen zu Hilfe, sie mußten über die ganze, sich endlos dehnende Wasserfläche paddeln. Und dann wurden sie sich allmählich einer Gefahr bewußt.

Ralph hatte sich darüber gewundert, daß die Luft im vollen Sonnenschein so dunstig war. Die Ufer verschwammen, die Sonne war ein roter Ball, in den er ohne zu blinzeln schauen konnte, und ihr Reflex auf den blassen Fältchen des perlgrauen Wassers ein Rubinenhalsband.

Er sah sich im Bug um. »Es wird neblig«, sagte er unsicher.

»Hm. Waldbrand irgendwo – Rauch«, antwortete Lawrence.

»Waldbrand? In unsrer Nähe?«

»Weiß nicht. Vielleicht.«

»Ich hab's schon vor einer Weile gemerkt, aber ich glaub', es ist ziemlich weit«, behauptete Alverna. »Rauch geht Hunderte von Meilen weit.«

Ralph hatte seine Angst vor Joe vergessen. Aber eine neue Gefahr regt die Phantasie auf, und jetzt kam zu den sechzehn Stunden mühsamer Arbeit im Tag die verzweifelte Überlegung, wo man den Waldbrand vermuten sollte, wann die Schrecken der vorwärtsjagenden Flammen sie erreichen würden.

Und er konnte nichts dagegen tun. Er mußte weiter. Er war ebenso hilflos wie in einem Schiff auf hoher See. Keinen Gedanken verwandte er an die Rettung seiner eignen Haut, er dachte nur an Alverna. Lawrence Jackfish mochte brennen wie eine Pechkiefernfackel, aber wenn sie vom Feuer erfaßt würde – er malte es sich aus, langsam, peinvoll, in seinem vom Paddeln ermüdeten Geist –, dann würde er sie beschützen, er würde sie mit seiner Jacke zudecken, würde sie in den See tauchen …

Die Karte zeigte ihnen, daß sie vom Donnervogel-See zum Mitternachts-See, der größten Wasserfläche, die sie zu passieren hatten, über den Weinenden Fluß gelangen würden. Dort drehten die Ströme sich südwärts. Sie würden mit der Strömung fahren, und Ralph erhoffte sich einen schnellen, leichten Übergang zum Mitternachts-See.

Sie lagerten am Anfang des Weinenden Flusses, während die Sonne hinter einem Rauchschleier in purpurroten Wolken unterging. Der Dunst drückte schwer auf die Erde, und über der ganzen Welt schien ein lauerndes Verhängnis zu lasten.

Müde und schweigsam standen sie am nächsten Morgen auf. Keine erfrischende Kühle war in der Luft, und verdrossen begannen sie den Weinenden Fluß hinunterzufahren.

Der Anfang sah versprechend genug aus: braunes, schaumiges Wasser, zwischen sandigen Uferbänken, die von eintönigen niedrigen Weiden begleitet waren. Aber der Fluß wurde so seicht, daß das Kanu den sandigen Grund streifte, und bald hatten sie nur drei Zoll tiefes Wasser, aus dem überall scharfe Steine hervorragten. Darüber mußten sie das Boot hinwegheben, voller Furcht, es könnte so beschädigt werden, daß an keine Reparatur mehr zu denken war – und dann mußten sie einsam in der Wildnis zugrunde gehen.

Statt einen freundlichen Strom schnell hinabzutreiben, kamen sie kaum eine Meile in der Stunde vorwärts, weil sie durch schlüpfrige Tümpel waten und das Kanu ziehen mußten. Alverna war noch tapfer, aber ihr Gesicht sah müde aus, und Ralph trug ihr Leiden mit dem seinen. Und zu alledem summten die Moskitos um sie herum und bedrohten sie unaufhörlich mit ihren giftigen Stacheln.

»Wir müssen es aufgeben und quer über das Land zum Mitternachts-See gehen. Auf der Karte hier sieht es so aus, als könnten wir zum Mudhen-Creek kommen, der in den See fließt. Natürlich ist es möglich, daß die Karte nicht richtig ist. Es ist noch ziemlich viel in diesem Land unerforscht«, sagte Ralph.

»Von mir aus. Gut«, erwiderte Alverna gleichgültig.

Lawrence Jackfish aber sagte gar nichts, er verriet seinen Trotz nur in seinen Blicken, und Ralph überlegte: »Was denkt er? Was plant er? Wie lange wird er mir noch parieren?«

Sie kamen tatsächlich zum Mudhen-Creek und erreichten so schließlich die offenen Wasser des großen Mitternachts-Sees. Doch die Geschichte dieses Übergangs wäre die Geschichte eines verwirrten Deliriums. Ralph konnte sie nie in seiner Erinnerung rekonstruieren, nie konnte er sich darauf besinnen, ob sie vom Weinenden Fluß zum Mitternachts-See dreieinhalb oder viereinhalb Tage gebraucht hatten. Die Tragstrecke zum Mudhen-Creek war der Angsttraum eines Fieberkranken. Zäher Schlamm, der ihnen bis zu den Knien reichte, schaumbedeckte Sümpfe, Strauchwerk, das ihre schutzlosen Gesichter zerriß, während sie sich unter ihrer Last vorwärtsschleppten, unaufhörlich singende Moskitos, zudringliche Schmeißfliegen, die ihnen immer wieder brummend und surrend um die Augen flogen, bis die ermüdeten Herren der Schöpfung wie Wahnsinnige schrien.

Und immer brütete die Rauchwolke des Waldbrandes über ihnen; aber diese Drohung schien jetzt ebenso fern zu sein wie die Möglichkeit, daß Joe sie verfolgte.

Sie begannen sich ihre Proviantknappheit einzugestehen. Alverna hatte zuerst den Mut, davon zu sprechen.

Nicht immer war Ralph zufrieden neben ihr einhergestapft. Vor dem Frühstück und während der Anstrengungen auf der Tragstrecke hatte ihn oft ihr Summen nervös gemacht, die Art, wie sie sich das Haar zurückstrich, und die kühne Annahme, daß alles, was nicht scheußlich oder ekelhaft war, fein oder blendend sein müsse. Aber all das wurde ihm nur selten ganz bewußt. Für ihre Stärke und ausharrende Tapferkeit hatte er dieselbe liebevolle Bewunderung, die er früher Joe gezollt hatte.

»Wir müssen anfangen zu sparen«, erklärte sie plötzlich. »Es wird schwer genug sein, mit dem Proviant bis zum Mitternachts-See auszukommen. Nach der Karte ist dort ein Handelsposten nahe am Südende des Sees. Wenn wir mal dort sind, glaub' ich, werden wir das Schlimmste hinter uns haben und unsere Vorräte ergänzen können. Aber der Proviant muß reichen – wir werden vielleicht von jetzt an lieber nur zweimal am Tag essen und ziemlich bald wahrscheinlich nur einmal.«

»Ich glaube auch, es wird besser sein«, seufzte Ralph.

Speck dreimal am Tag war sein höchster Begriff vom Himmel geworden – außer Alverna.

»He, Lawrence, nicht so viel Sterz fressen! Wir müssen's uns einteilen«, rief Alverna, so sanft sie konnte, aber der Indianer murrte.

Um ihre Vorräte zu ergänzen, hielten sie sich an jedem Tümpel auf, der einen Hecht zu versprechen schien. Aber es waren nur sehr wenige Fische da, und die langen Verzögerungen ließen die Angst vor dem Feuer wieder lebendig werden.

So quälten sie sich lange Stunden und Tage blind und stumm durch Sumpf, Schlamm und Dickicht, und als sie endlich den Mudhen-Creek erreicht hatten, brach Alverna in ein nervöses Weinen aus, und Ralph war zu erschöpft, zu zermürbt, um sie trösten zu können.

Aber als sie, von der Strömung unterstützt, eine Stunde den Mudhen hinabgepaddelt hatten, der sie jetzt zum Mitternachts-See führte – zum Segeln und zur heiligen Nahrung – hob sich seine Stimmung, und sie lächelten wieder.

Aber sie waren so entsetzlich hungrig.

Unterhalb einer flachen Schnelle im Mudhen warf Ralph seine Angelschnur aus und zog einen schönen, zehn Pfund schweren Muskalonge herein. Sie brannten ein Feuer an, zerrissen aber in ihrer Ungeduld – schwarzhändige Wilde – den halbgaren Fisch, und als Ralph Alverna sein besser gekochtes Stück gab, war es die Heldentat seines Lebens.

Er war sicher, daß ihre Marter jetzt ein Ende hatte – nur konnte er sich nicht ganz glauben, daß er sicher war. Als der Mudhen in den ungeheuren Mitternachts-See floß, bedrängten ihn wieder Besorgnisse.

Einen düsteren Anblick bot dieses grausame Gewässer. Ralph verstand den Namen Mitternachts-See angesichts dieser riesigen Wasserfläche, welche die Farbe eines grundlosen Brunnens hatte. Der See war ziemlich glatt, wie eine schwarze Marmorplatte dehnte er sich vor ihnen aus. Aber sich dieser drohenden Unendlichkeit in einem Kanu anzuvertrauen, das hieß sich auf die hohe See hinauswagen.

»Das sieht gefährlich aus. Und keine schützenden Inseln. Ob's draußen wohl sehr böig ist?« überlegte Ralph, verbarg aber Alverna seine Sorgen.

Es war böig.

Bevor sie eine halbe Meile gepaddelt hatten, erhob sich eine Brise. Aber es war ein günstiger Wind, den sie ausnutzen mußten. Es bedeutete eine Erleichterung für Ralph, daß Lawrence so dicht, wie es nur möglich war, unter der Ostküste blieb, doch das war nicht viel, denn die Küstenlinie wurde von vielen Landzungen gebrochen. Sie waren nie mehr als eine Meile vom Land entfernt, rechnete Ralph sich aus, aber ebensogut hätten sie hundert Meilen davon entfernt sein können. Weder er noch Alverna wären imstande gewesen, eine halbe Meile zu schwimmen, wenn sie kenterten, und der galgengesichtige Lawrence würde sicher keine Anstrengungen machen, sie zu retten.

War es wirklich nur eine Meile bis zu jenen fernen Bäumen, bis zu jenem sicheren Strand? Ralph blickte nach Süden, nach Westen – hundertzwanzig Meilen waren es bis zur Südspitze des Sees, und bis zur Westküste vierzig.

Er spielte mit diesen Gedanken und warf sie weit von sich. Er konnte sich nicht den Luxus leisten, furchtsam zu sein, und als Lawrence den Vorschlag machte, sie sollten an Land gehen und Tee kochen, rief er, obgleich das eine halbe Stunde Erholung von seiner Angst gebracht hätte: »Nein, weiter. Der Wind kann umschlagen.«

Sie hatten nach der Karte die größere Hälfte des Wegs nach Whitewater, zur hohen Zivilisation von Bert Bungers Hotel, hinter sich, als sie diesen Abend am Ufer des Mitternachts-Sees Lager machten.

Zum Abendessen hatten sie nichts weiter als Speck und Tee ohne Milch und Zucker.

Als Ralph kurz nach vier aufstand und, sich den Schlaf aus den Augen reibend, hinauskam, war alles in Nebel gehüllt. Bloß ein kleiner Fleck des grauen Sees war sichtbar, regungslos, nur von ganz wenigen Wellchen gekräuselt. Er fühlte die Kraft des feuchten Dunstes. Die Erde schien neu, wiedergeschaffen zu zweifelhafter Jugend, und wäre nicht das Gespenst Joes gewesen, er hätte sich voller Freuden zu allen Wagnissen bereit gefühlt.

Allmählich merkte er, daß in der Landschaft etwas nicht stimmte, daß ihm etwas fehlte. Kein umgedrehtes Kanu lag am Strand. Es war überhaupt kein Kanu da. Und Lawrence Jackfish unter seinem Moskitonetz war nicht zu sehen.

»Lawrence! Lawrence!« Die Angst gab seiner Stimme Stärke.

Alverna trat zerzaust und verschlafen aus dem Zelt.

»Was ist denn, Ralph?«

»Anscheinend ist Lawrence mit dem Kanu weg. Ach, er wird wahrscheinlich draußen auf dem See sein, um einen Fisch fürs Frühstück zu fangen. Man kann in diesem Nebel nicht weit sehen.«

Sie blickte starr, sie lief hastig zu der Persenning, unter der ihre Vorräte lagen.

»Nein. Er ist für immer durchgebrannt«, sagte sie resolut. »Er hat unseren ganzen Proviant mitgenommen, außer einem bißchen Mehl, einem Vierteleimer Schmalz und einer lächerlich kleinen Portion Tee. Er hat alles mitgenommen. Er rechnet damit, daß wir hier sterben.«


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