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Dreizehntes Kapitel

Trotz seines Schreckens, trotz aller marternden Gedanken an Alvernas Hände und Augen mußte er geschlafen haben, denn er wachte auf – um acht Uhr, was für dieses Land fast Mittag ist. Die Sonne jubilierte auf den kleinen Wellen, die Kiefern waren voll heiteren Glanzes, und nach seinem schweren Schlaf war er nicht sicher, ob er die schleichenden Schritte tatsächlich gehört oder nur geträumt hatte.

»Auf jeden Fall werde ich heute nacht ein bißchen Wache halten«, gelobte er sich – und hatte nicht die geringste Lust dazu.

Aber vielleicht würden die Indianer, da sie wußten, daß zwei Männer im Haus waren, nicht den Mut haben anzugreifen. Und vielleicht war es überhaupt nur ein Betrunkener gewesen, der nach Hause torkelte. Und vielleicht –

Ach, das war ja alles Unsinn!

So tröstete er sich wie ein Kind, das sich vor dem blinden Gespenst zwei Stufen weiter unten in der Diele und dem Räuber hinter dem Geländer versteckt, obwohl es Vater und Mutter lachen hört und sich deshalb ziemlich sicher fühlen kann.

Es war ein Morgen, der ein schönes Fischen versprach; aber zuerst mußte Ralph den wichtigen, Woodbury Trotz bietenden Schritt tun und sich mit Mokassins und Gummischuhen aus dem Laden versehen. Joe hatte sein Frühstück schon um sechs Uhr selbst gekocht und verzehrt – jetzt kam er herüber, um Ralph beim Kaffee mit Pfannkuchen freundlich Gesellschaft zu leisten; fröhlich scherzte er auch mit Alverna, und in der ganzen Welt schien es nichts als Freundschaft und Sonne und Herzlichkeit zu geben.

Joe mußte sich über seine Bücher setzen und rüstete Ralph mit Lawrence Jackfish aus, der gleichzeitig den Pflichten des Schiffers, Kutschers, Pförtners, Gärtners und Jägers nachzukommen hatte – in den kurzen Zeiträumen zwischen dem Tanzen mit jungen Squaws und dem Betrunken-in-der-Sonne-Liegen. Lawrence hatte hinterhältige, falsche Augen, aber er konnte Fische auf eine Tiefe von zwanzig Fuß im Wasser wittern. Wären Ralphs Exindianer, Jesse und Louey, mitgewesen, so wäre Lawrence wahrscheinlich ebenso aufreizend geschwätzig gewesen wie diese während des Segelns. Aber jetzt blieb er still, obwohl er ausreichend Englisch konnte; und Ralph schlüpfte in seinem schnellen, leichten Zehnfußkanu zwischen den Eilanden herum, voller Stolz, daß er Bugmann war.

Bei seinem ersten Wurf in das kühle blaue Wasser vor dem Blaunaseneiland sank die Rolle und bog sich die Rute, als ginge ein ganz Großer mit dem Haken los. Er ließ ihn eine Viertelstunde spielen und zog dann eine fünfzehnpfündige Seeforelle mit scharlachroten Tupfen auf den silberglänzenden Flanken ins Kanu.

Strahlend kam er um zwölf Uhr zum Essen heim, die schleichenden Indianer und die häuslichen Zänkereien waren vergessen, und Joe bewunderte die Forelle, als hätte noch nie, in allen Gewässern und zu allen Zeiten, jemand einen solchen Fisch gefangen. Er bestand darauf, Ralph mit dem Fisch in den Armen zu photographieren. (Diese Photographie, pietätvoll bis heute bewahrt, zeigt Ralph stolz und verlegen lächelnd wie eine junge Mutter.)

Alverna sang, während sie die unglückselige Forelle, in Maismehl paniert und gebacken, zu Tisch brachte. Ihre Musik war falsch, aber lieblich; sie brachte es zuwege, daß alle Melodien seltsam ähnlich klangen wie »Hänschen klein«, aber die Töne, die sie dabei hervorbrachte, erinnerten angenehm an das Zirpen der Grillen in der Dämmerung und des Heimchens am Herd.

Daß sie sich je als Märtyrerin gefühlt haben könnte, daß Joe jemals streng zu ihr gewesen sein sollte, war einfach absurd. Joe erzählte ohne Ende Anekdoten von Pop Buck, über den das Gerücht ging, er habe sich, als er keinen mehr ausfindig machen konnte, der ihm im Trinken schwedischen Aquavits über war, einen liebenswürdigen braunen Bären herangezogen und sei dann mit diesem Bären, voller Frohsinn, Weisheit und Alkohol, in einem vereisten Häutezelt unter den Nordlichtern die ganze Nacht aufgesessen.

Ralph sonnte sich im Glück und Frieden seiner Freunde.

Bevor das Geschirr vom Mittagessen abgewaschen war, kamen die zwei weißen Trapper, die zur Sommererholung in Mantrap müßig gingen, hereingestrolcht, um den Fremdling zu begrüßen: Pete Renchoux, ein kleiner, draller Kanadier von vielleicht vierzig Jahren, ein rundlicher Mann, der oft schrill und kurz lachte, und George Eagan, der junge Engländer (es konnte auch ein Ire sein), dessen Schweigen über seine Vergangenheit darauf schließen ließ, daß er die Heimat nicht aus allzu löblichen Gründen verlassen hatte. Sie brachten zwei Quart Fusel mit, einen gewaltigen, radikalen, herzhaften Sprengstoff, farblos wie Wasser und wirksam wie Cholera. Sie überreichten ihn feierlich Joe, mit der beiläufigen Erklärung, daß sie ihn dem Häuptling Burberry von den Mitternachtssee-Crees gestohlen hätten, als dieser saumäßig besoffen war; und sie wiesen darauf hin, daß dies ihr Beitrag zu einem sinnigen Beisammensein sei, von dem sie ernstlich hofften und zuversichtlich erwarteten, daß es jetzt beginnen und, mindestens, den ganzen Tag dauern würde.

Die Wirte taten, was sie konnten, um sich gefällig zu erweisen.

Ralph trank ein Glas Fusel, das barmherzigerweise so weit mit Ingwerbier neutralisiert war, daß es nicht wie Vitriol, sondern nur wie Benzin schmeckte.

Es geziemte sich, daß Joe sich für die Gabe der Trapper revanchierte und sie nötigte, seinen echten Scotch zu probieren. Er hatte Erfolg mit seinem Nötigen, ganz außerordentlichen Erfolg, und um drei Uhr, als Pop Buck hereinwatschelte, in der Hand eine Gallone Löwenzahnwein und im Herzen dieselben Gedanken über das »Beisammensein« wie die Trapper, wurde die Lustbarkeit begonnen.

Natürlich mußte Alverna »Onkel Pop« küssen, und natürlich mußte sie nachher Eagan und Renchoux küssen, um zu zeigen, daß es keine Unterschiede gebe.

Um fünf Uhr hatten Niels Stromberg, McGavitys Assistent bei der Hudsons-Bay-Company, und Biermeier, der Revillon-Frères-Agent, auf telepathischem Wege Nachricht von dem Ereignis erhalten – und um fünf Uhr hatte Ralph genug davon. Er war nie der Ansicht gewesen, daß mehr als fünf Whiskysodas der Anwaltspraxis zuträglich seien.

Er hörte Joe flüstern: »Schleichen wir uns in den Laden hinaus und ruhen wir ein bißchen aus!«

Wie in einem Landkrämerladen mit Patentmedizinen vergangener Zeiten und Stiefeln gewesener bukolischer Tage, staubigen Borden und einem Aroma von Ziegeltabak und Heu – wie in einem Schiffsgeräteladen mit romantischen Kompaßhauslaternchen, alten Gallionsfiguren und geteertem Tauwerk – so sah es im Inneren des Blockhüttenladens der Easter Trading Company aus. Es war ziemlich sauber, denn Joe war ein ebenso peinlicher Haushälter wie Alverna, und noch peinlicher war sein feierlicher Assistent, ein methodistisches Halbblut, das seinem Chef wohl eifrig ergeben war, dessen Haus aber niemals betrat, weil dort den Lastern des Kartenspiels und Alkoholgenusses gefrönt wurde.

Trotz seiner Sauberkeit und Ordentlichkeit enthielt der Laden alle Märchen des Nordens. Da waren Mackinawdecken, scharlachrot und grün, rotbraun und ultramarinblau; dicke Flanellhemden, in fremden, leidenschaftlichen Farben gestreift und gewürfelt; Holzknechtstiefel aus Leder und Gummi; eine Renntierhauttrage, von den Eskimos erworben, die nach Brochet am Renntiersee handeln kamen; Netze für Felchen und todbringende Büchsen für Elche, Fallen für Biber und große Fallen für Bären, Gift für Wölfe und Reihen von leuchtendroten Konservenbüchsen mit Lachs, Pfirsichen und Jam. Auf dem einen Ende des Ladentisches lagen Hüte, die von Hottentottendamen hätten erfunden sein können. Wenn man einen roten Strohhut genommen und mit Leim bestrichen, ihn zunächst in einen Haufen bunter Federn, dann in einen Stapel von Messingschnallen und schließlich in ein Sortiment aller Samtfetzen aus einem Damenschneiderladen getaucht hätte, wäre man der Schöpfer eines solchen Hutes geworden.

»Toll, nicht wahr?« sagte Joe. »Aber die Squaws mögen sie. Wenn Sie hier wären, wenn sie die Regierungsgelder kriegen, könnten Sie sehen, wie sie sich hereindrängen, eins von diesen Dingern kaufen und wieder hinausstolzieren, den neuen Hut auf dem Kopf, über einem Tuch und einem Kalikorock.«

In einem finsteren Raum an der einen Seite waren Pelzballen, eng gepackt, die widerlichen Fleischseiten nach außen. Ralph war enttäuscht. Er hatte erwartet, daß die Pelze in schimmernden Stapeln daliegen würden, wie in dem Palast eines nordischen Märchenkönigs. Diese Ballen zeigten ebensoviel Poesie wie Rindenbündel und waren zehnmal so schwer. Aber er malte sich aus, wie sie, im Kanu, über Tragstrecken, mit der Bahn und im Schiff nach London gebracht, wieder aufblühen, sich um Frauenschultern auf der Place Vendôme schmiegen würden und aus Limousinen leuchten, die durch das nebelverzauberte Mayfair summen.

Joe führte ihn ins Büro hinter dem Laden, ein sehr geschäftsmäßig aussehendes Büro mit Eichenschreibtisch und gelb gestrichenen Briefordnern. Ralph hätte hier auf eine unerfreuliche Weise an Anwaltsbüros und seine Arbeit erinnert werden können, aber im Augenblick barg dieser kühle Friede nichts als Ruhe für ihn nach all dem Lärmen um Alverna.

»Stört Sie der Krach? 's sind gute Jungens, Ralph«, seufzte Joe.

»Ich weiß –«

»Keiner unter ihnen, der nicht sein Leben für den andern riskieren würde. Wenn 'n Kanu umschlägt oder Sie mit ihm draußen in den Wäldern sind und sich 'n Bein brechen würden und von ihm auf 'm Buckel zurückgeschleppt werden müßten.«

»Ich weiß.«

»Ralph – sagen Sie mir: wie wird das Trauerspiel ausgehen?«

»Eh?«

»Alverna wird was auf den Kopf kriegen, oder ich, oder ein Dritter, oder wir alle Drei. Davon bin ich überzeugt.«

Und auch Ralph war überzeugt davon, aber trotz all seiner Erfahrung im Beruhigen bekümmerter Klienten fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können.

Sie saßen brütend da. Aus dem Haus hörten sie Joes Grammophon einen Foxtrott krächzen, hörten schwere Stiefel scharren und Alverna schreien: »Hör jetzt auf, Georgie! Ah, herrje, hör auf!«

Joe seufzte.

Ein anderes Geräusch wurde laut, das Tack-tack-tack eines Gewehrs.

»Was das wohl ist?« brummte Joe, nicht sonderlich aufgeregt.

Sie spazierten durch den Laden zurück und blickten von der niedrigen Plattform über den See. Ralph nahm ein Kanu in der Ferne wahr und darin undeutlich einen Mann, der im Heck stand. Joe rief aus:

»Jetzt wird der Zauber erst losgehen! Das ist Curly Evans – der Bezirkspolizist in diesem Distrikt – großartiger Bursche – feiner Kerl.«

Er lief in sein Büro zurück, kam mit einem Revolver heraus und verschoß alle Kammern in den See. Schon feuerten auch die anderen Läden und die Indianer im Lager Salutschüsse ab, und Curly Evans legte unter dem Tumult einer Admiralslandung an Joes Pier an. Er war in Uniform, mit einem breiten Militärhut, dessen Krempe er auf einer Seite hochgeschlagen hatte wie ein australischer Kavallerist.

Evans war ein kräftiger junger Mann mit gekräuseltem, blondem Haar, dessen großer, lustiger Mund ununterbrochen lachte, ganz besonders, wenn es sich darum handelte, durch Büsche und Strauchwerk einen Mörder zu beschleichen, der sich in seiner Blockhütte eingeschlossen hatte. Er sprang herauf, schüttelte Joe und Ralph die Hand und rief:

»Ihr habt 'ne Sauferei? Ich kann doch mitmachen? Freut mich, Sie kennenzulernen, Prescott. Hab' schon gehört, daß Sie da sind.«

Er lief zum Haus hinauf und wurde am Eingang mit einem jener Küsse begrüßt, mit denen Alverna immer so freigebig zu sein schien.

Ralph überlegte: »Woher konnte er wissen, daß ich hier bin? Telegraph ist keiner da –«

»Kein Mensch kann im Norden auch nur einen Schritt gehen, ohne gesehen zu werden«, sagte Joe. »Sie können sich denken – stellen Sie sich mal vor, Sie hätten ein Verbrechen begangen und wollten jetzt verduften. Irgendein Indianer würde sehen, wie Ihr Kanu vom Ufer abstößt, und es dem nächsten Indianer, den er trifft, erzählen. Wir alle sind keine Sekunde unbeobachtet. Wildnis? Ich sage Ihnen, jeder verbrannte Baumstamm hier oben hat Augen und Ohren. Sie können sich gleich davon überzeugen. Curly!«

Von der Haustür, wo er noch in eifriger Unterhaltung mit Alverna stand, heulte Curly zurück: »Ja?«

»Wo ist dieser Woodbury – der Weiße, mit dem Prescott zusammen war?«

»'n Chippewyan vom Geisterflußstamm hat mir erzählt, daß Woodbury gestern am kleinen Mokassinfluß gelagert hat. Jetzt ist er unterwegs zum Solferinosee.«

Ralph hatte das Gefühl, rings um ihn im freundlichen grünen Wald wären gehässige, finstere Augen verborgen, und voller Unbehagen entsann er sich der rätselhaften schleichenden Schritte in der Nacht.

In dem tollen Rasen aber, das in Alvernas, Curly Evans' und Pop Bucks Augen ein »schönes Beisammensein« war, in diesem Trubel vergaß er aller Unsicherheit und der geheimnisvollen Späher.

Um die Abendbrotzeit, gegen sechs Uhr, waren alle, außer Joe und Ralph, in der ausgelassensten Stimmung. Alverna war ganz entschieden keine Ausnahme, und Curly Evans ebensowenig. Beide hatten zwar nicht so viel von dem gurgelzerreißenden Gesöff heruntergespült wie Pop Buck, Eagan und Renchoux, aber sie hatten genug getrunken, um sich in jenen Zustand schwärmerischer Schwermut zu erheben, der das Kennzeichen des auf poetischere Weise Berauschten ist. Alverna und Curly walzten feierlich im Wohnzimmer herum. Immer wieder rundherum nach der Melodie von »'s ist drei Uhr früh am Morgen«, die vom Grammophon so langsam heruntergeleiert wurde, daß sie wie ein Trauermarsch klang. Die anderen saßen im Kreis um den Tisch in der Küche, waren höchst ernsthaft – ohne daß diese Ernsthaftigkeit sich auf irgend etwas Spezielles bezogen hätte – schlugen auf den Tisch, versicherten: »Ich sage dir – ich sage dir – verstehst du, hör mal«, kamen aber nie so weit, zu erklären, von welcher unschätzbaren Sache sie eigentlich reden wollten.

Joe lag ausgestreckt in einem Fauteuil, trank nachdenklich und langsam an einem schwachen Whiskysoda und unterhielt sich mit Ralph, der in dem lärmenden Treiben – wie man in dickem Nebel einer Möwe gewahr wird – merkte, wie groß Joes scheue Liebe zum Norden war.

»Es ist mir ein fürchterlicher Gedanke, dieses Land zu verlassen und wo anders eine Stellung anzunehmen, aber ich werd's ja wohl oder übel tun müssen, wenn meine Pleite noch größer wird«, seufzte Joe.

Zum drittenmal, seit sie sich kennengelernt hatten, dachte Ralph über eine Form nach, in der er eine Bezahlung für seinen Aufenthalt anbieten könnte. Es war unmöglich. Er wußte, daß er Joe damit ebenso schwer beleidigen würde wie einen der patrizischen Plantagenbesitzer im Süden.

»Natürlich könnt' ich versuchen«, sagte Joe, »wieder mit dem Fallenstellen anzufangen, wenn ich mit meiner Firma gar nicht weiter kann. Aber nach ein paar Wochen im Schnee packt mich der Rheumatismus. Trotzdem – Herr Gott, Ralph! Ich wünschte, Sie kämen im Winter zu mir heraus, nur auf eine Woche, zum Pelzkaufen.«

Während Joe langsam und stockend plauderte, sah Ralph das große, weiße unbekannte Land. Das Aufglühen und Strahlen der Nordlichter in dem ungeheuren Dunkel über riesigen finsteren Wäldern. Gelb erleuchtete Fenster, die einem erstarrten, ausgehungerten Pelzankäufer weit über den vereisten, schneebedeckten Fluß freundlich entgegenschimmern. Die gefrorenen Tundren, die unter der Mittagssonne wie Diamantenfelder glitzern.

»Ich wollte, Sie könnten das sehen, Ralph«, sagte Joe.

Ralph machte sich Gedanken darüber, ob Joe Alverna überhaupt beachtete. Es sah nicht danach aus, daß ihm auch nur das geringste entging, dennoch erzählte er ruhig weiter, Geschichten von Bären und von Elchen, von Indianern, die der Hunger zur Verzweiflung getrieben hatte – ruhig und unbewegt erzählte er weiter, während sie ihre Fröhlichkeit bis zur Hysterie steigerte. Evans Stromberg, Eagan, Renchoux – sie alle stritten jetzt um das Privileg, mit ihr tanzen zu dürfen, und wenn diese robusten Männer stritten, warfen sie gegenseitig die gewichtigsten Zweifel auf die Makellosigkeit ihrer Herkunft und waren bis zum Blaunasen-Eiland zu hören.

Alverna schuf ein Kompromiß, indem sie mit zweien gleichzeitig tanzte, in jedem Arm einen, bei jeder der feierlichen Drillingsdrehungen kicherte und ihre beiden Partner küßte, wenn ein anderes munteres Paar sich ihrer bemächtigte. Und ununterbrochen zog das Grammophon kläglich: »Die – gann – ze – Nacht – hab' – ich – duuuurch – ge – tanzt.«

Es war sieben Uhr geworden, als Joe mahnte: »Wir werden jetzt was zum Essen machen, nicht, was meinst du?« Alverna stellte sich auf einen Sessel und verkündete laut, daß sie kein Abendessen kochen würde. Nein. Für diesen Haufen Lumpen nicht. Sie würde mit Curly und Evans weitertanzen. George, Biermeier und Niels könnten nachher abwaschen, Pop könnte den Koch machen und Pete Renchoux den Kellner. Und was diese alten Brummbären, Joe und Ralph Prescott, anginge, die könnten sich wegscheren und zum Teufel gehen, jawohl, das könnten sie. Und sie würde weitertanzen bis »drei Uhr früh am Morrrrrgen« … mit Curly – »Komm her, mein Jung'!«

Pop gluckste fett: »'n Prachtmädel! Pete! Wir wollen ihnen mal zeigen, was wir Alten können.«

»Fein! Ich werd' Kellnerin sein!« heulte Pete Renchoux.

Renchoux, mächtiger Trapper, mächtiger Trinker, mächtiger Ritter ziemlich zweifelhafter Damen, war ein kleines, dralles Männlein, einigermaßen schmierig und sehr lustig. Er nahm Alverna, hob sie von dem Sessel, auf dem sie stand, und brüllte, während sie schreiend mit den Füßen um sich stieß: »Los. Du ziehst mich jetzt schön an!«

Er schleppte sie aus dem Zimmer und kam dann zurück, kokett mit Alvernas rotbordiertem schwarzen Kleid und einer gefältelten weißen Schürze angetan. Auf dem Kopf hatte er ein Taschentuch, das als Häubchen diente.

Pop Buck richtete das Abendessen her: Speck, Schweinefleisch mit Bohnen und Backpulverkuchen – Pops höchstes Ideal von einem Gesellschaftssouper. Pop war wohl für Lagerbegriffe ein guter Koch, der mit Moos als Feuerungsmaterial und nichts weiter als Mehl und Wasser zur Verarbeitung eine hervorragende Mahlzeit herstellen konnte, aber in seiner groben, lustigen, freundlichen, stürmischen Seele fehlte eines: ein Vorurteil, und sei es auch das allerkleinste, zugunsten der Reinlichkeit. In fünf Minuten sah Alvernas schmucke Küche aus wie ein Misthaufen.

Als er den Speck briet, spuckte er auf den Fußboden und bellte: »Sagen Sie, Ralph, hab' ich Ihnen eigentlich schon die Geschichte erzählt, wie ich den Springhirsch mit'm Pfeil geschossen hab'?« Er stellte die Bratpfanne auf dem knallroten Wachstuch ab – sie hinterließ einen Schmutzkreis darauf. Und als er die Bohnenkonserve ausgeleert hatte, beförderte er die Büchse mit einem lieblichen Fußtritt unter den Ofen.

Aber die Gesellschaft ließ sich das Mahl gut schmecken – alle, außer Biermeier, der während der Bohnen Sehnsucht zu schlummern zeigte und von Joe freundlich zu Ralphs Lager in der Veranda geleitet wurde, wo er unverzüglich ernsthaft und geräuschvoll zu schlafen begann.

Renchoux, als behaubte und beschürzte Kellnerin, war unermüdlich – lärmend.

»Ach«, rief Alverna begeistert, »Sie sind wirklich zu süß, Pete!«, und sie sprang auf und regalierte Renchoux mit einem tüchtigen Schmatz. Jetzt mußte sie natürlich auch Pop mit einem Kuß für seine Kochkunst belohnen, und dem Alten schien diese Art der Anerkennung sehr zu behagen.

Inmitten all dieser Fröhlichkeit und schwesterlichen Liebe warf Ralph einen Blick zu Joe hinüber, und es kam ihm vor, daß Joe sehr alt und sehr müde, fast gebrochen aussähe.

So ausgelassen Alverna auch war, im Hause mußte Ordnung sein, und nach dem Abendessen bestand sie darauf, die Teller zu waschen, wobei sie Stromberg und Eagan als Abtrockner anstellte. Als sie Pop, der seine Pfeife draußen im Hof zwischen Wohnhaus und Laden rauchen sollte, munter hinausgejagt hatte, entfernte sie die Spuren seiner Schlamperei. Ralph hatte noch nie eine Frau gesehen, die ihm bei ihrer Arbeit so gut gefallen hätte wie Alverna, die mit aufgestreiften Blusenärmeln die Teller in das schillernde Spülwasser tauchte, sie herauszog, in die Höhe hielt und rief: »Wer ist jetzt zum Abtrocknen dran?«

»Lassen Sie mich helfen«, sagte Ralph, glühend vor Eifer.

»Nein, mein Lieber«, summte sie, und ihre Stimme war – das glaubte Ralph in ebendiesem Augenblick zu bemerken – die zärtlichste Frauenstimme, die er gehört hatte, seit seine Mutter von ihm gegangen war. »Nein, gehen Sie und schauen Sie sich nach dem guten alten Joe um. Er ist mit Pop Buck draußen zum Verdauen. Heitern Sie ihn ein bißchen auf.«

Ralph diskutierte mit Joe und Pop die wichtige Frage, ob eine Rasierklinge schwimmt, wenn man sie ins Wasser wirft, oder nicht, und sehnte sich in seinem Herzen in die Küche zurück; er war wütend, daß er zu den alten Nichtkombattanten gezählt wurde, die rauchen und sich von der tanzenden Jugend zurückziehen. Er hörte Alverna rufen: »Oben, auf das oberste Bord, Niels!« und: »Ach, wart doch eine Minute! Herrje, eine Minute, kannst du denn nicht warten, Curly? Sobald wir mit den verflixten Tellern fertig sind, komm' ich rein und tanz'.«

Ralph hatte sich Mühe gegeben, so wenig wie möglich zu trinken. Trunkenheit war ihm immer so widerwärtig gewesen wie der Teufel oder wie weißgeränderte Smokingkrawatten. Aber Alverna war während des Abendessens eine unerbittliche Wirtin gewesen. So oft sie ein leeres Glas erblickt hatte, war sie aufgesprungen, zu dem Tisch neben dem Ausguß geeilt, wo die Getränke wie in einer Grenzkneipe ausgestellt waren, hatte das Glas gefüllt und dabei gerufen: »Los, mein Junge, trink und tu uns keine Schande an!«

Anscheinend hatte Ralph viel mehr getrunken, als er sich vorgenommen hatte. Er wußte, daß jenseits des Träumenden Sees ein Sonnenuntergang brannte. Er wußte, daß Joe mit der Resignation eines unglücklichen Menschen sprach. Er ging wie im Nebel, er hörte wie im Fieberdelirium, und die ganze Zeit war er nur dreier Dinge sicher: Joe Easter war der beste Freund, den er je gehabt hatte – Joes Frau war ihm heilig, unantastbar und er sehnte sich danach, drin zu sein und mit ihr zu tanzen.

Nachdem Pop, Joe und Ralph sich dahin geeinigt hatten, daß der Mann, der die beiden Bankboten in Montreal ausgeraubt hatte, Buller heiße und nicht Butler, und daß es ganz bestimmt eine Schande sei, herumzugehen und Bankboten auszurauben – nachdem sie dieses Problem zur allseitigen Zufriedenheit gelöst hatten, kehrten sie ins Haus zurück. Alverna tanzte verträumt mit Curly Evans und George Eagan, und Pete Renchoux und Niels Stromberg standen da und warteten.

Stromberg rief ihnen entgegen: »Hör mal, Joe, Ed Tudor schmeißt heute 'ne Tanzerei. Was meinst du, sollen wir alle hingehen?«

»Gut«, sagte Joe, »gut, ist recht.«

Sie brachen auf, sobald Alverna Matrosenbluse und Leinenrock mit einem kornblumenblauen Musselinkleid vertauscht hatte. Während sie sich umzog, drängten sich die Männer vor der Tür zum Schlafzimmer und erklärten laut und eifrig, daß sie ihr mit tausend Freuden behilflich sein wollten.

Joe lächelte, wie Ralph bemerkte, ziemlich verdrossen.

Als sie herauskam, das Kleid zurechtzupfte, sich die kurzgeschnittenen Haare von den Schläfen zurückstrich und ihr kokettes Lächeln von Mann zu Mann wandern ließ, sagte Joe heiser: »Hört mal, Jungens, wenn ihr mir's nicht übelnehmt – ich muß meine Rechnungen fertigmachen. Das Halbblut hat alles so ziemlich durcheinandergebracht, während ich fort war. Ralph kann mich ja bei der Tanzerei vertreten.«

Alverna flog quer durch das Zimmer und hängte sich ihm an den Hals. »Oh, Joe, Lieber, es ist schrecklich, wenn du nicht mitkommst. Denk nur, was Mrs. Mac und der Reverend – denk nur, was alle die Spaßverderber sagen würden!«

Ralph sagte ziemlich verzweifelt: »Soll ich bei Ihnen bleiben, Joe?«

Er begegnete wieder dem Blick von Joes Augen – diesen hellen und leuchtenden blauen Augen, und die baten. Der berühmte Rechtsbeistand, der sonst gewohnt war, jedes menschliche Problem wie ein Dominoproblem zu behandeln, war vollständig verwirrt. Er fühlte, daß Joe diese Männer zu gern hatte, um sie hinauszuwerfen, sie aber zu gut kannte, um ihnen Alverna zu überlassen, daß er dennoch Alvernas Tollen nicht länger hätte ertragen können und daß er trotz allem zu stolz war, um zu wissen, was er wußte.

Ralph fühlte, daß Joe ihm allein Vertrauen schenkte. Verdiente er dieses Vertrauen? Er wollte es verdienen!

Er nickte Joe verlegen zu und setzte sich an die Spitze des lärmenden Zuges, der sich den Waldpfad zu Ed Tudors Hütte hinunterwälzte. Ununterbrochen war er sich bewußt, daß Alverna hinter ihm mit Curly Evans »Tea for Two« sang und daß sein Kopf und sein Herz von ihr ausgefüllt waren.

»Sie ist so tapfer – sie versucht hier in dieser Einsamkeit sich ihr eigenes Leben zu schaffen«, grübelte er, und dann: »Ach, sei still! Denk nicht an sie!«


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