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Sechzehntes Kapitel

Wenn Joe sich im geheimen Sorgen über eine Indianerrevolte machte, so war das seinem unbewegten Gesicht jedenfalls nicht anzumerken.

»Im Laden hab' ich nichts mehr zu tun, ich bin mit meinen Rechnungen fertig. Was meinen Sie, sollen wir uns 'n paar belegte Brote in die Tasche stecken und zum Sumpf am Geistersquawfluß rübergehen? Vielleicht können wir uns 'ne Ente schießen«, schlug er vor.

Alverna stimmte begeistert zu, als sie ins Haus zurückkamen und ihr dieses Programm vorlegten. Sie wäre, sagte sie voller Tugendhaftigkeit, all dieser Jungens wie George und Curly und so weiter müde, die immer nur tanzen und Fusel trinken wollten und die ganze Zeit so fürchterlichen Lärm machten. Sie wäre, gurrte sie, entzückt von der Aussicht, einen netten, wohltuend stillen Tag im Freien mit ihrem Freunde Ralph und ihrem lieben Joe zu verbringen.

Alverna besaß mehr Kleider, als in einer Hütte im Norden zu erwarten war. Sie rüstete sich mit einem praktischen Khakirock, einer Hemdbluse aus dunklem Flanell und hohen Schnürstiefeln aus. Leider konnte Ralph sich nicht enthalten zu konstatieren, daß diese Stiefel eigentlich auf die Füße der Heldin in einem Wildwestdrama gehörten. Sie waren so eng und hatten so hohe Absätze, daß man in ihnen über steinigen Boden nicht gehen konnte, ohne ununterbrochen in den Fesseln umzuknicken.

Außerdem nahm Alverna eine blaue Samttasche mit, die mit scharlachroten Perlen besetzt war.

»Du lieber Gott, wozu schleppst du denn das Dings da mit?« wollte Joe wissen.

Sofort wurde sie unwillig und laut. »Wirklich, mein Ehrenwort! Ich glaub', ich werd' noch das Recht haben, mein Taschentuch und 'n bißchen Puder mitzunehmen, oder vielleicht nicht?«

»Du hast doch Taschen in deiner Bluse!«

»Ja, mir meine hübsche kleine Puderschachtel zerquetschen! Falsch verbunden! Häng ab!«

»Ach, von mir aus«, seufzte Joe, während Ralph, der noch vor wenigen Stunden ihre Tapferkeit nicht genug hatte bewundern können, einer inneren Stimme lauschen mußte, die protestierte: »Sie ist doch ein verflixter Plagegeist!«

Sie trippelte neben ihnen einher und klagte unaufhörlich darüber, wie schmal, wie schlüpfrig, wie steinig und wie dunkel der Waldweg zwischen den Föhren sei. Aber während Ralph Joe zuhörte, der ihm die Zeichen des Waldes erklärte, verschwand sie fast ganz aus seinem Gedächtnis. Wo er allein nichts weiter gesehen hätte als schuppige Baumrinde, Kiefernnadeln, flechtenbewachsene Steine, zeigte Joe ihm die Fährte eines Springhirsches, die Spur eines Wolfes, die Grube eines Stachelschweins, leuchtende Tigerlilien und die altjüngferlichen Blüten der Sarsaparilla. Alverna hatte das ihr angetane Unrecht vergessen und war wieder zufrieden und heiter. Sie brachte es sogar zuwege, eine halbe Stunde lang still zu sein.

Die Welt der tanzenden und der trotzigen Indianer war vergessen, sie schlenderten durch den Wald, überschritten eine Lichtung, die laut war vom Gezwitscher rotflügliger Amseln und aufgeregter Moorschnepfen, machten es sich auf einer föhrenbewachsenen Anhöhe zwischen der Lichtung und einem Teich bequem und warteten auf einen Flug Krickenten.

Ohne es zu wissen, spielte Ralph Soldat und war sehr stolz und glücklich darüber.

Er saß da, seine leichte Flinte auf den Knien, und kam sich sehr männlich vor, als warte er auf einen Kampf, in dem er sich durch Heldenhaftigkeit auszeichnen sollte. Er ahnte es nicht – und hätte es auch geleugnet – aber unbewußt erzählte er sich eine Geschichte:

»Seine mächtigen Schultern ließen auf ein sorgloses Zutrauen schließen. Diese kräftigen Hände ruhten so leicht auf seinem Schießeisen, diese Falkenaugen schienen so gedankenverschleiert, daß ein anschleichender Feind nie erraten hätte, wie tatbereit unser Held war.«

Alverna öffnete ihre Handtasche, puderte sich, einen Gassenhauer trällernd, voller Hingabe die Nase, schminkte sich die Lippen, strich die Haare zurecht und begann die Nägel zu polieren.

Ralph bemerkte, daß Joe ihr irritiert zusah, er selbst aber war wieder Bewunderer: »Sie ist doch blendend!«

Er, dem noch vor einem Monat das Wort »blendend« verdammenswerter erschienen wäre als die fürchterlichste Zote.

Die schwarz, orange und grau gefärbten Flechten auf den Felsen sahen aus wie japanische Holzschnitte: kleine Brücken und silberne Bergkegel. Zwischen den Bäumen schimmerte der See hindurch. Die Lichtung hinter ihnen, in der hier und da kleine Wasserflecken unter Schilf aufleuchteten, strahlte eine einschläfernde Wärme aus. Eine Amsel schaukelte sich auf einem Weidenzweig und jubilierte, und ringsherum summten wilde Bienen. Die Stunde war voller Behaglichkeit und Verträumtheit.

Dann zerstörte Alverna alles.

»Ach herrje! Hier ist es ja fürchterlich heiß. Ich könnte direkt einschlafen! Woher wollt ihr denn wissen, daß es hier Enten gibt? Ich habe noch nicht mal einen Spatzen gesehen. War das nicht fein gestern nacht, Ralph – was, Joe? War es nicht einfach – je, es war doch wirklich blendend, sogar wie Pete voll war und so wild zu reden angefangen hat, er hätte sich wirklich was schämen sollen, aber natürlich hat er gar nichts damit gemeint, und ich hab' Pop gesagt, wenn er noch einmal die Geschichte von dem Mann im Weizenspeicher erzählt, kriegt er eine von mir reingehauen. Und, war Pop nicht komisch, war er nicht herrlich komisch, wie er sich meine Schürze umgebunden hat und Hochländer tanzen wollte, und – Curly war verrückt, er soll sich aufhängen lassen, was glaubt er denn, mit wem er redet, als ob er mir und allen Leuten Lehren geben könnte – er war ganz einfach verrückt, wie er mir gesagt hat, daß ich mit meinem kleinen Flush nicht rausgehen soll. Ich hab gewußt, daß George ein Full House hat, ich kann euch auch ganz genau sagen warum: ich hab' ihm zugeschaut, und da hab' ich gesehen, wie er seine ersten vier Karten so zwei und zwei zusammengelegt hat, und da hab' ich mir gesagt, ich könnte wetten, daß er zwei Paare hat, und wie er dann die fünfte Karte bekommen hat, da hat er sich die Lippen abgeleckt wie 'ne kleine Miezekatze, und da hab' ich mir gesagt: Oh, schon gut, Mr. Schlaukopf, ich könnte wetten, bei dir sind aus den einen süßen kleinen Zwillingen Drillinge geworden, so steht's mit dir!«

Ihr Lachen hallte von den Felsen wider.

»Hör mal, Alvy, um Gottes willen, wenn überhaupt Enten da sind, so schreckst du sie auf vierzehn Meilen weg«, seufzte Joe.

»Ach, laß mich in Frieden

Das Wort »Frieden« schrie sie laut hinaus. In diesem Augenblick waren drei Enten hinter den Blumen aufgeflogen und kamen in Sicht. Bei ihrem Schrei schossen sie hoch, und bevor Joe abdrücken, bevor Ralph sich überhaupt klar darüber werden konnte, welches Flintenende er an die Schulter zu legen hatte, waren sie weg.

Ralph sagte nichts. Joe sagte nichts. Alverna sah böse aus, weil sie nichts zu sagen wußte.

Eine halbe Stunde verstrich, ohne daß sich eine Ente gezeigt hätte.

»Ich glaub', wir gehen wieder zurück. Das ist überhaupt eine schlechte Stunde für Enten, vielleicht versuchen wir's morgen nachmittag noch einmal. Heute abend gehen wir zu Biermeier, Revillon – zum Essen«, sagte Joe.

Dann konnte er nicht mehr an sich halten.

»Und, Alvy – vielleicht ist es dumm von mir, aber es macht mich ganz einfach wahnsinnig, wenn ich zuschauen muß, wie du hier, da draußen im Wald, dein Gesicht bearbeitest, als ob du im Badezimmer wärst!«

»Oh, natürlich! Du möchtest am liebsten, daß ich so verschlampt ausschau', wie Ma McGavity. Du möchtest natürlich, ich soll so scheußlich ausschauen, daß mich kein Mensch ansehen will! Laß dir ein für allemal von mir sagen, Mr. Joseph Easter, daß ich mich weder für dich noch für jemand anderen zu einer Vogelscheuche machen lass'! Was du brauchst, ist 'ne Hausfrau und nichts weiter, aber es gibt noch Leute, die mich gar nicht für so übel halten!«

»Ja, das glaub' ich gern!«

»Was willst du damit wieder sagen? Was willst du damit sagen? Was für eine dreckige Andeutung soll das wieder sein?«

»Ach, Alvy« – sehr müde – »sei still, und gehen wir nach Hause.«

Alverna hatte – die einzige Last außer ihrer Samttasche – eine sehr kleinkalibrige Flinte mitgenommen, die so leicht war wie ein Schießbudengewehr, und trotz ihrer scheinbaren Zartheit war sie kräftig wie ein Küchendragoner. Aber wie die meisten jungen Athletinnen sehnte sie sich danach, hin und wieder als dahinsterbende Lilie behandelt zu werden.

»Ach, Joe, das Gewehr ist so schwer!« jammerte sie, während sie hintereinander einhergingen.

Ihr Gatte zuckte die Achseln.

»Und es schlägt mir immer so an die Beine.«

Tieferes Schweigen.

Sie blickte zu Ralph zurück, ihre Lippen zitterten, Tränen standen ihr in den Augen. »Es ist mir verdammt wurscht, ob er 's trägt oder nicht, aber ich mein', er könnte ruhig 'n bißchen galanter zu mir sein.«

»Ich werd' es Ihnen tragen«, sagte Ralph errötend. Er wußte, daß sie ganz einfach ein Plagegeist war. Er wußte, daß er auf Joes Seite gehörte, aber man mußte ja Mitleid mit ihr haben, mit diesem kleinen Kätzchen mitten in der Hundemeute –

Nein, er ertappte sich dabei, daß er sich selbst belog. Es war kein Mitleid, das ihn zu ihr hinzog, sondern ihre skrupellose Weiblichkeit, ihre professionelle Mädchenhaftigkeit, ihr verteufelter Instinkt dafür, in jedem männlichen Wesen die schwache Seite zu finden. Er war ein Verräter an Joe, dessen Rücken im groben braunen Rock so verlassen aussah.

Aber ihre dankbaren Augen wischten diese tiefen und erbaulichen Reflexionen ab wie ein Schwamm.

Nun hatte Ralph außer seiner leichten Flinte auch eine Büchse mitgenommen, und drei Gewehre sind für einen Ungeübten keine leichte Last über einen Weg, auf dem man bei jedem Schritt über eine Wurzel oder einen Stein im Schlamm stolpern kann. Die Gewehre verwickelten sich, sie rutschten, sie schlugen ihm gegen die Schienbeine. Er versuchte sie auf der Schulter zu tragen, dann wieder unter dem Arm, in einer würdigen Weise, die selbstverständlich wirken sollte. Er mußte sie aber in seine beiden Arme nehmen, wie ein Bündel Reisig während Alverna, die sich zärtlich umschaute, süß lispelte:

»Es macht Ihnen doch keine Mühe?«

»Nei–ein.«

» Sicher nicht?«

»Nein, nein. Es ist alles in Ordnung.«

»Sie werden mir's sagen, wenn's Ihnen zu schwer wird?«

»Natürlich.«

»Sollte ich nicht doch meines wieder nehmen?«

»Ich kann es ganz gut tragen.«

»Oh, sind Sie gestolpert?«

»Ja, ein bißchen.«

»Also, Sie sagen mir ganz bestimmt, wenn –«

Joe drehte sich nach ihnen um.

Bis jetzt hatte sein Gesicht so ausgesehen, als bäte er Ralph um Entschuldigung dafür, daß er nichts gegen diesen Moskito in Frauengestalt unternahm. Aber jetzt sah es so aus, als ob er keinen großen Unterschied zwischen den beiden machte. Bisher hatte Ralph sich über Alvernas ewiges Gefrage geärgert, nun aber richtete sein Ärger sich durchaus gegen Joe, und sie hatte seine ganze Sympathie. So! Dieser Bauer dachte also, sie seien, weil sie gewisse Höflichkeiten nicht außer acht ließen, weil sie noch andere Interessen neben Poker und Entenjagd hatten – er dachte also, sie seien affektierte Phrasendrechsler. Gut! Joe mochte eine edle Seele sein, aber die Art, wie er dieses Kind mißverstand, dieses arme, herzensgute –

Dann scharf: »Ich werde von diesem Luder noch verhext! Das geht nicht so weiter. Ich muß zusehen, daß ich da raus komme!«

Sie kamen zum Haus zurück, und unvermittelt, wenn auch mit aller Sanftmut, die ihm in diesem Augenblick zu Gebote stand, sagte Ralph zu Joe:

»Ich muß doch den armen Woodbury aufsuchen wenn ich ihn nur finden kann. »Mein Aufenthalt hier war wirklich sehr schön – aber ich muß gleich heute nachmittag aufbrechen.«

Joe machte in langsamem Erstaunen die Augen auf und sagte mit einer Freundlichkeit, die in Ralph Beschämung aufsteigen ließ:

»Ich wollte, Sie könnten's bis morgen aufschieben, Ralph. Sie wissen doch, wir haben Biermeier versprochen, daß wir heute zu ihm zum Abendessen kommen. Es würde ihn verletzen, wenn wir ihn aufsitzen lassen. Er ist ein schrecklich netter Kerl. Ich möchte gern, daß Sie's noch mal versuchen und bleiben.«

Ralph blieb.


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