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XXXIII.
Tee im Waschtischbecher

»Mein Freund, Herr McGolwey – wir kennen uns aus Schoenstrom – er ist auf einige Zeit nach Seattle gekommen. Bill, das sind Bekannte, die ich unterwegs auf der Fahrt kennen gelernt habe«, brummte Milt.

»Freu mich sehr. Nehmen Sie Platz. Hör mal, Milt, du solltest mehr Stühle haben, wenn so feine Leute dich besuchen kommen. Ha, ha, ha! Sag mal, ich glaub, es ist gescheiter, ich zieh mich zurück, damit du ungestört bist mit den Leuten«, schlug Bill bereitwillig vor.

»Oh! setz dich«, fuhr ihn Milt an.

Alle nahmen Platz, vier auf dem Bett. Milt versuchte zu sprechen. Er konnte nicht. Bill sah ihn an und als er seine Befangenheit sah, wollte er geschickt zu Hilfe kommen:

»Sie haben Milt also unterwegs kennen gelernt? Er ist ein geschickter Bursche, was?«

»Sie kannten Herrn Daggett zu Hause in Schoenstrom?

Das ist aber nett«, sagte Frau Gilson.

» Kannte ihn? Ja, hören Sie einmal! Milt und ich, wir sind zusammen aufgewachsen. Ja, wir sind zusammen herum gewandert, haben im Sommer bei Bauern gearbeitet und haben zusammen gefischt – Hören Sie, hat Milt je von der großen Tanzerei in der Scheune erzählt? Es waren eine Menge Leute von weit her gekommen und ich hab gesagt: ›Hör mal, Milt, wir wollen Löcher in die Reifen von den Autos machen und uns dann verstecken und zuschaun!‹ Ich glaub, ich hab ein bißl zu viel getrunken gehabt, um die Wahrheit zu sagen, aber natürlich Milt, der trinkt nicht viel, beinahe überhaupt nicht, feiner ordentlicher Bursche, wenn ich so sagen darf –«

»Bill!« befahl Milt. »Wir müssen Tee kochen. Da hast du Geld. Hol schnell vom Kaufmann an der Ecke Tee und Obers. Oh, kauf gleich auch drei oder vier Schalen. Beeil dich, mein Sohn!«

»Zu Befehl, wie man sagt!« schrie Bill begeistert. Er winkte Jeff vergnügt zu, nahm seinen schmutzigen, zerrissenen Hut und sprang davon.

»Reizender Kerl. Ein wirkliches Original«, flötete Frau Gilson.

»Kennt er auch Ihren Freund Pinky?« fragte Saxton.

Ehe Milt antworten konnte, stand Claire vom Bett auf, warf den Gilsons und Jeff einen kalten, gehässigen Blick zu und sagte ruhig zu Milt: »Der arme Kerl – war schrecklich verlegen. Es ist nett von Ihnen, daß Sie freundlich zu ihm sind«.

»Oh ja. Wir wollen auch etwas für ihn tun«, plapperte Frau Gilson. »Ich will Herrn Daggett und Herrn – Herrn McGollups, nicht? – für heute zum Abendessen einladen. Ich möchte gerne, daß er noch mehr von Ihrer Knabenzeit erzählt. Das muß interessant gewesen sein.«

»Ja«, sagte Milt sinnend. »Es war ein armseliges, elendes Leben. Wir mußten schwer arbeiten – wir hatten niemand, der uns feines Benehmen beibrachte.«

»Oh doch, Ihr alter, herrlicher Vater Doktor?« Jeff versuchte diesmal nicht, sein Grinsen zu verbergen.

»Ja. Der schon. Er hat auf die Chance verzichtet, ein reicher Müßiggänger zu sein, um Bauernkindern das Leben zu retten für Honorare, die er nie bekam.«

Bill kam mit dem denkbar schlechtesten Tee und vier geschmackvoll bemalten und vergoldeten Tassen zurück. Milt kochte Tee, ohne sich um die Übrigen zu kümmern, während Bill die Gilsons und Saxtons mit lustigen Geschichten unterhielt. Frau Gilson ermunterte ihn, immer mehr zu erzählen; Bill saß mit halb geschlossenen Augen da, schwelgend in der Saga des Kleinstadtlebens. Saxton und Gilson verbargen ihr verächtliches Grinsen nicht.

Aber Claire – nachdem sie nervös ihre Fingerspitzen gerieben hatte, schenkte Bill und seinen Erzählungen weiter keine Beachtung, sondern kam still zu Milt herüber, um ihm bei der Bereitung des dünnen Tees behilflich zu sein.

Sie flüsterte: »Machen Sie sich nichts draus, mein Lieber. Mir ist es egal. Aber ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zu Mute ist. Schämen Sie sich, ein Prairie-Pirat gewesen zu sein?«

»Nein. Wir waren wilde Buben – aber ich bin froh, daß wir es waren.«

»Ich auch. Ich möchte nicht, daß Sie sich dessen schämen. Hören Sie mich a, und erinnern Sie sich der weisen Worte der kleinen Claire. Diese Narren dort bemühen sich, mir begreiflich zu machen, daß Sie für Fräulein Boltwood von Brooklyn Heights ein Fremder sind. Nun, es gelingt ihnen, mich davon zu überzeugen, daß sie selbst mir fremd sind!«

»Claire! Liebste! Bill macht Ihnen nichts?«

»Oh ja! Und Ihnen auch. Sie sind ihm entwachsen.«

»Ich weiß nicht, aber – Das heute war eine harte Probe.«

»Ja. Das war es. Denn wenn ich Ihren Freund, Herrn McGolwey, vertragen kann …«

»Dann haben Sie mich lieb!«

»Vielleicht. Ich will Ihnen nur umsomehr helfen.«

»Nein, nein! Ich brauche Ihnen nicht leid tun! Das kann ich nicht vertragen! Schließlich war es eine ganz gute Stadt und gute Leute …«

»Nein! Sie tun mir nicht leid! Ich meine nur, daß es nach Ihrem achtzehnten Jahr nicht gar so lustig für Sie gewesen sein kann dort. Dieses Geschwätze über den Reiz der kleinen Dörfchen – die Leute, die darüber schreiben, scheinen hübsch darauf bedacht zu sein, in ihren Villen in Long Island zu leben!«

»Claire!« flüsterte er verzweifelt. »Der Tee ist beinahe fertig. Oh, hören Sie, Liebste. Ich werde verrückt, wenn ich, statt um Sie zu freien, um den ganzen Gilson-Stamm freien muß. Kommen Sie, laufen wir davon!«

»Nein. Zuerst will ich ihnen zeigen, daß Sie das sind, was Sie sind!«

»Aber, das können Sie nicht.«

»Ha, warten Sie nur! Ich hab mir den verteufeltsten, grausamsten Plan ausgedacht, um soziale Überhebung zu bestrafen …«

Dann kündigte sie vergnügt an: »Der Tee ist fertig. Jeff, Sie bekommen den Becher vom Waschtisch hier. Ist das nicht lustig?«

»Ja. Oh ja. Sehr lustig!« Jeff war sehr gönnerhaft, aber Claire sah nicht beleidigt aus. Sie gab allen den sauren Tee zu trinken und das kalkähnlich schmeckende Gebäck zu kosten. Sie veranlaßte Bill, weiter Geschichten zu erzählen und als Frau Gilson beharrlich die beiden von der höheren Gesellschaft Ausgestoßenen nochmals zum Abendessen einlud, versetzte Claire Milt und noch mehr Frau Gilson in Erstaunen durch ein stürmisches: »Oh ja, bitte, Milt, kommen Sie.«

Er willigte wütend ein.

»Aber zuerst«, fügte Claire zu Frau Gilson hinzu, »will ich, daß wir die Beiden nach – Oh, ich habe eine herrliche Idee. Kommt alle! Wir machen eine lustige Fahrt.«

»Eh – wohin –?« fragte Herr Gilson zögernd.

»Das ist mein Geheimnis. Kommt!«

Claire stolzierte zur Türe und brachte alle in der Limousine unter und flüsterte dem Chauffeur eine Adresse zu. Milt kümmerte sich nicht viel um die Fahrt. Bill war einigermaßen zu offensichtlich nicht an Limousinen gewöhnt. Er wischte seine kotigen Schuhe an der Polsterung ab und entschuldigte sich schwitzend.

Als der Wagen von einer der Hauptstraßen in ein kotiges Seitengäßchen bog, in dem sich seit den Pionier-Tagen von Seattle wenig geändert hatte, rief Frau Gilson jammernd aus: »Du lieber Himmel, Claire, du führst uns doch nicht vielleicht zu Tante Hatty auf Besuch?«

»Oh ja, wirklich, ich dachte, die würde den beiden Burschen hier gefallen.«

»Nein aber, ich glaube nicht …«

»Eva, mein Liebling, Jeff und du, Ihr habt unseren Besuch zum Tee bei Milt ausgeheckt und habt mir versichert, daß mich seine Junggesellenwohnung interessieren dürfte … nebstbei gesagt, war ich übrigens schon einmal dort und daher nicht so überrascht. Jetzt bin ich an der Reihe, die Gesellschaft zu führen.« Milt vertraute sie an: »Die liebe alte Tante Hatty ist nämlich Genes Tante, mit uns allen ein wenig verwandt. Sie kam schon vor langer Zeit nach dem Westen und hat hier harte Zeiten mitgemacht, aber sie ist richtige Brooklyn Heights und gehört zu Gramercy Park und North Washington Square und Rittenhouse Square und so weiter, obwohl sie ein wenig außer Kontakt gekommen ist.«

Als der Wagen anhielt, bemerkte Milt, daß Frau Gilson Anstalten machte, in der Limousine zu bleiben und er hörte, wie Gilson seiner Frau zuflüsterte: »Nein, jetzt ist Claire an der Reihe. Sei keine Spielverderberin, Eva.« Claire führte sie zu einer kleinen, alten Dame, die sehr sauber, sehr ehrwürdig, sehr lebhaft aussah und nachdenklich in ihrer gelben Hand ein feines Taschentüchlein und eine schwarze Tonpfeife hielt.

»Halloh, Claire, meine Liebe! Du hast den Verwandtenrekord geschlagen – du warst in weniger als einem Jahr zweimal auf Besuch hier«, sagte die kleine, alte Dame.

»Guten Tag, Tante Harriet, wie geht es dir?« bemerkte Frau Gilson, nicht überschäumend herzlich.

»Halloh, Eva. Nehmt bitte auf der Türschwelle Platz. Obwohl die Hühner hier immer so schmutzig machen, nicht? Bringt ein paar Stühle heraus. Es sind zwei drinnen, die nicht unter einem zusammenbrechen – zumindest nicht häufig.« Tante Harriet war sehr heiter.

Die Gesellschaft nahm in einem finster dreinsehenden Kreis, auf einer Versammlung von gebrechlichen roten Samtstühlen und Holzsesseln Platz. Sie glichen den Leidtragenden nach einem Leichenbegängnis. Claire war der heitere Leichenbestatter. Frau Gilson die leidtragende Witwe.

Claire deutete auf Milt und sagte mit lauter und klarer Stimme zu Tante Hatty: »Das ist der nette Bursche, den ich unterwegs kennen gelernt habe und von dem ich dir schon einmal erzählte, glaub ich, Tante Hatty, nicht?«

Die alte Dame richtete ihre Augen auf Milt und schwatzte kichernd: »Mein lieber Junge, da ist irgendetwas nicht in Ordnung. Sie gehören nicht zu meiner Familie. Ja, Sie sehen ja wie ein Amerikaner aus. Sie tragen kein Monokel und ich wette, Sie können mit einem New-York-Londoner Akzent sprechen. Ja, Claire, ich muß mich deiner schämen, daß du ein menschliches Wesen in die Boltwood-Gilson-Saxton-Gruft bringst und erwartest …«

Jetzt starb das Lächeln auf Frau Gilsons Lippen für immer hin. Sie schnappte: »Tante Hatty, bitte, werden Sie nicht banal.«

»Ich?« krächzte die kleine, alte Dame. Sie paffte an ihrer Pfeife und ließ die Arme auf die Knie sinken. »Ach, 's ist schwer, es manchen Leuten recht zu tun.«

»Tante Hatty, ich möchte gerne, daß Milt etwas von unserer Familie weiß. Ich hab diese alten Geschichten so gerne«, bettelte Claire liebenswürdig.

Frau Gilson fuhr auf: »Claire, wirklich …«

»Ach, schweig doch, Eva, und zier dich nicht so!« bellte die liebe, kleine, alte Dame in plötzlicher, blinder Wut. »Ich werde reden, wenn ich will. Haben sie dich sekkiert, Claire? Oder deinen Burschen? Ich sage Ihnen, junger Freund, diese Familien sind grausam. Ich bin in Brooklyn erzogen worden – hab alle Schulen gemacht, konnte ebenso schlecht auf dem Klavier spielen und ebenso falsch französisch sprechen wie nur irgend eine von ihnen. Dann kam ich, zusammen mit meinem Bruder, Genes Pa, nach dem Westen – er hatte es sich in den Kopf gesetzt, hier reich zu werden, dadurch, daß er den Injuns ihr Land stahl. Und wir sind zugrunde gegangen. Ich mußte Wäsche waschen. Ich habe eine Menge Dinge gelernt. Ich habe gelernt, daß ein Gilson, wenn es ihm schlecht geht, aus demselben, gewöhnlichen Holz geschnitzt ist wie ein Bergarbeiter im roten Hemd. Aber Gene's Pa hatte schließlich Erfolg – es gab da so eine Geschichte von einem tatsächlich gestohlenen Schiff mit Rauchwaren – aber ich war nie eine, die über ihre Verwandten zu klatschen pflegt. Immerhin, zur Zeit als Gene geboren wurde, war sein Pa reich und das heißt soviel wie Aristokrat. Diese Aristokratie westlich von Pittsburg ist doppelt so übel wie die Snobs in Boston und New-York, denn dort drüben besitzen die Familien ihren Reichtum schon lang genug – einige haben ihn dadurch gewonnen, daß sie, um 1820, Staatsland gestohlen haben, andere dadurch, daß sie Jamaica-Rum und Neger verkauft haben, lange Zeit vor dem Revolutionskrieg – sie sind schon so lange respektable Bürger, daß sie nur zu genau wissen, daß niemand, außer vielleicht ein Brite, ihr blaues Blut anzweifeln wird – und, du mein Gott, was macht das Geld in der dritten Generation für blaues Blut! Aber hier, in Gottes Land, fühlen sich Marquis-Müller und Fleisch-Baron noch nicht recht zu Hause. Sogar ihre hübschen Frauen, wenn sie auch zum besten Friseur gehen und die größten Wohltätigkeitsunterhaltungen fördern, werden manchmal ängstlich, ob nur ja niemand glaubt, daß sie weder Geist noch Erziehung besitzen.

Und darum benehmen sie sich gegen alle armen Teufel, wie Sie und ich zum Beispiel, schlecht, damit wir nur ja einsehen sollen, wie wichtig sie sind. Aber Gott, ich kenne sie, mein Junge. Ich lebe hier abseits von meiner kleinen Pension, aber ich lese die Zeitung und muß oft lachen. Wenn ich von einem großen Empfang bei Frau Vogelands lese und von ihren großen Perlen und ihrer schönen Schwiegertochter, da erinnere ich mich, daß sie früher einen Mittagstisch für Bergarbeiter hatte … Na, ich glaube, es ist im Osten genau so, wenn man nur weit genug zurückgeht. Claire, du bist ein lieber, guter Kerl und ich sag es nicht gerne, aber die Wahrheit ist, daß dein Urgroßvater Stallbursch war und sein erstes Geld bei Pferdewetten gewonnen hat. Tja, herrjeh, das hätt ich nicht sagen sollen. Bist du böse, Liebling?«

»Nicht im geringsten. Ist es nicht herrlich, daß Amerika so ein demokratisches Land ist, ohne jedes Kastenwesen?« sagte Claire.

Bei dieser ersten Unterbrechung des vertrackten Wortschwalles der kleinen alten Dame sprang Frau Gilson auf und wimmerte: »Ihr könnt alle bleiben, so lange Ihr wollt, aber wenn ich rechtzeitig zu Hause sein soll, um mich zum Essen umzukleiden …«

»Ja, und ich muß gehen«, stotterte Saxton.

Der Abschied von Tante Harriet war nicht ganz unbefangen. Als alle sich zum Gehen wendeten, winkte sie Milt zurück und murmelte: »Habe ich die Gemüter in Aufregung versetzt und die Leute geärgert? Das wollte ich. Es ist die einzige Befriedigung, außer zu rauchen, die sich eine moralische alte Dame gestatten kann, wenn sie einmal zweiundachtzig ist und an allem zu zweifeln beginnt, was man sie gelehrt hat. Kommen Sie manchmal zu mir, junger Mann. Jetzt gehen Sie und schlagen Sie Gene Gilson. Fürchten Sie sich nicht vor seiner Frau mit all ihrem Getue. Segeln Sie einfach mit vollem Wind lustig hinein.«

»Das will ich«, sagt Milt.

Es gab noch eine Überraschung für ihn, ehe er die Limousine erreichte.

Bill McGolwey, der die ganze Zeit über still dagesessen war, seine Wange gerieben und verwirrt zugehört hatte, packte Milt beim Ärmel und polterte:

»Leb wohl, alter Teufel. Ich will nicht hineinplatzen und dir einen Strich durch die Rechnung machen. Gott, ich hab ja nie gewußt, daß du das Zeug in dir hast, dich unter diese Elite zu mischen, aber ich seh's ein, wenn ich mich geirrt habe. Du warst zu verflucht anständig, um mich hinauszuwerfen. Ich will's selber tun. Bist mein bester Freund gewesen und – Viel Glück, alter Kamerad! Gott segne dich!«

Bill rannte davon. Da drehte sich Milt entschlossen um, schritt die Stiege hinunter und sagte zu seinen Gastgebern mit seltsamer Ruhe: »Danke für die Einladung für heute abends, aber es tut mir leid, ich kann nicht kommen. Claire, wollen Sie, bitte, ein paar Häuser weit mit mir zu Fuß gehen?«

Während der halben Minute, die er gebraucht hatte, die Stufen hinunterzugehen, hatte Milt überlegt, mit einer Intensität, die ihn Bill vergessen ließ, daß er egoistisch gewesen war, daß er sich um die Meinung dieser »feinen Leute« nur in Bezug auf sich selbst gekümmert hatte, statt einzusehen, daß es seine Pflicht war, Claire vor ihrer enervierenden Feinheit zu retten. Nicht, daß er es eben ganz in diesen Worten formulierte, sondern er sagte sich:

»Sünde und Schande – da laß ich mir solche Angst einjagen von diesen gutangezogenen Leuten! Gott, es wäre doch schrecklich, wenn Claire sich als eine Frau Jeff Saxton niederließe. Muß sie retten – nicht um meinetwillen – um ihretwillen.«

Als er mit Claire dahinschritt, fragte Milt: »Froh, entschlüpft zu sein?«

»Ja, und ich bin froh, daß Sie für abends abgesagt haben. Und ich muß jetzt schauen, daß ich heimkomme, nach dem Osten. Ich hoffe, daß die Gilsons mir eines Tages verzeihen werden. Ach, diese schrecklichen sozialen Komplikationen sind ärger, als eine wirkliche Gefahr – Feuer oder Erdbeben …«

»Oh, diese Komplikationen, sie existieren ja eigentlich gar nicht! Wir machen sie einfach selbst, so wie wir die Regeln für ein Kartenspiel machen. Was, zum Teufel, scheren wir uns um die Meinung von Leuten, die wir nicht mögen? Es ist keine Armee da, gegen die wir zu kämpfen hätten. Es gibt nur Sie und ich – Sie und mich – und wenn wir zusammenhalten, sind wir die ganze Gesellschaft!«

»Ja–a, aber Milt, mein Lieber, ich will keine Ausgestoßene sein.«

»Werden Sie auch nicht. Im Laufe der Zeit, wenn Sie all diese Aristokraten nicht ernst nehmen wollen, werden Sie nur umso größeren Eindruck auf sie machen.«

»Nein. Das klingt tröstlich, aber es ist nicht wahr. Und Sie wissen nicht, wie angenehm es ist, ›dazu zu gehören‹. Aber – ach, es liegt mir nichts daran! Mit Ihnen zusammen bin ich glücklich – ich bin glücklich. Das ist alles, was ich weiß und was ich wissen will. Ich bin eben erwachsen geworden. Aber Milt, Liebster – ich sage es, weil ich Sie lieb hab. Ja, ich habe Sie lieb. Nein, bitte, nicht küssen. Ja, es ist zu … es ist viel zu öffentlich. Und ich möchte ernst reden. Sie haben keine Ahnung, wie stark soziale Unterschiede sind. Verachten Sie sie nicht darum, weil Sie sie nicht kennen.«

»Nein, das will ich nicht. Ich werd es lernen. Wirst du auf mich warten?«

»Oh – ja – Milt!«

»Du lieber Gott, Claire. Hast du bemerkt, daß ein Wunder geschehen ist? Wir sind nicht mehr Fräulein Boltwood und ein Bursche namens Daggett. Wir waren es, sogar wenn wir uns gern hatten, bis auf den heutigen Tag. Es war immer so eine Art Gefecht zwischen uns. Wir mußten erklären und uns verteidigen – Aber jetzt – wir sind wir geworden und der Rest der Welt ist verschwunden und –«

»Und alles andere ist egal«, sagte Claire.


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