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VIII.
Die Entdeckung von eingelegten Krevetten und Hesperiden

An jenem Morgen, da Milt Daggett in den Wäldern nördlich von Gopher-Prairie zu hellem Sonnenschein erwachte, da hatte er das goldene Zeitalter entdeckt. Während er Meile um Meile über neue Hügel rumpelte, ohne sich darum kümmern zu müssen, ob er rechtzeitig in die Garage zurückkäme, um jemandes Wagen zu reparieren, da wurde es ihm klar, daß er sich die beiden letzten Jahre dazu gezwungen hatte, in dem Aufbau eines Geschäftes Befriedigung zu finden, das keine Zukunft hatte.

Jetzt lachte er und schrie; er fuhr mit einem Fuß höchst unelegant und bezaubernd über den Rand der Haube hinauf; er ließ Dame Vere de Vere vor erstaunten Bauern tiefe Verbeugungen machen; er ging jeden Abend ins Kino – in Fargo zweimal; und wenn der Streitwagen des jungen Prinzen den Kamm eines Hügels hinauffegte, dann murmelte er, nicht in der Art eines Karren-Treibers, sondern in schmerzlicher Angst: »Dieses ganze, weite Land! Für uns zu sehen, Mietzekatz! Eines Tages werden wir uns niederlassen und ehrsame Bürgersleute werden und Familien gründen und beim Gehen schnaufen, aber – all diese Hügel, um über sie hin zu segeln und – komm weiter! Laß uns segeln!« Milt besuchte jeden Abend das Kino und er sah es jetzt anders an. Noch vor einer Woche hatte er jene ernsten Schilderungen vorgezogen, in denen hartarbeitende, moralische Schauspieler einander niederschossen, oder auf den unbequemsten Pferden Berghänge hinaufritten. Aber nun, während er im Geiste jenem Propagandisten der Flachköpfigkeit, dem abwesenden Mac, Abbitte tat, jetzt wählte er Filme, in denen die Hauptdarsteller Abendkleider trugen und niemand jemals irgendetwas ohne Hilfe eines Kammerdieners tat. Neben dem Kino waren die Handelsreisenden Milts beste Lehrer. Obwohl er mit jedem Cent rechnete und für seine Mahlzeiten am Lagerfeuer bescheidene Fleischportionen kaufte, nahm er doch wenigstens eine Mahlzeit im Tag in einem Gasthaus ein, um die Reisenden zu beobachten.

Für Claire waren diese Handelsreisenden einfach kommerzielle Mittelspersonen in fertiggekauften Anzügen. Sie identifizierte sie mit dem Notieren von Ordre-Listen an langen, mit Papieren bedeckten Schreibtischen und mit Gasthäusern, welche die zarte Kunst des Speisens und Schlafens zu grauer und trüber Freudlosigkeit herabdrückten. Doch Milt kannte die Handelsreisenden. Er wußte, daß sie nicht nur die Missionäre des Geschäftslebens waren, und das einfache Ordre-Aufnehmen dadurch ergänzten, daß sie den Kaufleuten sagten, wie sie das Geschäft erweitern könnten, wie sie die Schaufenster herrichten sollten, und daß man Kunden wie menschliche Lebewesen behandeln müsse; sondern er wußte auch, daß sie – ebenso wie die ansässigen Ärzte und Geistlichen und Lehrer und Zeitungsleute – Agenten eines sich immer mehr ausbreitenden Wissens und Gerechtigkeitssinnes waren. Sie waren es, die junge Leute lehrten, sich zu frisieren, sich hinter den Ohren zu waschen und sich täglich zu rasieren; sie waren es, die manche Dorfbewohner von ihren Skandal- und Tratschgeschichten ablenkten und ihnen einige Begriffe beibrachten von der Großen Welt draußen, von Politik und Sport und der Bedeutung von Kunst und Wissenschaft.

Claire und eigentlich auch ihr Vater und ebenso Herr Jeff Saxton hatten voreilig geschlossen, daß diese Reiseagenten, weil man sie immer in schmierigen Gasthäusern sah und auf Strecken mit schlechten Eisenbahnverbindungen und in Kopfweh verursachenden Wartesälen, daß sie darum diese Orte liebten. Milt wußte, daß diese Agenten Märtyrer waren; daß sie auf monatelangen Reisen, auf denen sie sich immerwährend nach ihren Kindern und nach Hause sehnten, unter all diesen Wirtsleuten und Fahrplänen zu leiden hatten; daß sie Claires beste Verbündete waren im Kampf gegen die »Große amerikanische Bratpfanne«; daß sie die guten Dinge wohl kannten und gegen Faulheit und Betrügereien all der Leute kämpften, die Wirtshäuser unterhielten, weil sie als Bauern abgewirtschaftet hatten; und daß sie, fanden sie einmal einen tüchtigen und freundlichen Wirt, ihn auf allen ihren weiteren Fahrten wärmstens empfahlen und das Lob des herrlichen Mannes sangen. Die Handelsreisenden waren, wie er wußte, Pioniere, und sie kämpften mit Worten.

Und darum waren es die Handelsreisenden und nicht hochnäsige Reisende in Limousinen, an die sich Milt um Ratschläge wendete, wie er das Wunder vollbringen sollte, aus dem ehrgeizigen Burschen, der er war, das zu machen, was Claire als einen reizenden Menschen anerkennen würde. In Schoenstrom war er nicht genug mit Handelsreisenden zusammengetroffen. Sie schöpften das bißchen Geschäft ab, das zu machen war und entflohen vom Leipziger Haus um die Nacht in St. Cloud oder Sauk Centre zu verbringen. In größeren Städten wie Minnesota oder Dakota, nach beendeter Kinovorstellung und bevor er zu seinem Nachtlager im Freien hinausschlüpfte, mischte sich Milt in den Kreis der Handelsreisenden in den großen Lederklubfauteuils und versuchte es mit: »Hab heute einen Gomez-Dep. mit einer New-Yorker Nummer auf meiner Strecke begegnet.«

»Oh, Sie sind auf der Durchreise?«

»Ja. Fahr nach Seattle.«

Das unterschied Milt von dem gewöhnlichen Typus des jungen Mannes, der sich ein wenig auf der Straße herumtrieb; und er wurde aufgenommen in die Gemeinschaft der Männer, die reisten und Dinge zu sehen bekamen und sich über das seltsame Treiben der Menschen wunderten. Es waren gute Reden, die er hörte; zu viel über Gasthäuser und zu viele engherzige, banale, kleine Phrasen, in denen die Lösung aller ökonomischen Probleme im Aufhängen der »Agitatoren« lag, aber zusammen mit diesen, eine aufregende Fülle von Eindrücken aus Vancouver und San Diego, Florida und K. C.

»Das ist eine wunderbare Farm, die Sie da unten in Duluth haben«, sagte Einer, und der Andere: »Weil wir eben davon reden, ich war vorige Woche in Chicago und da hab ich ein Stück gesehen …«

Milt hatte in den zwei Jahren, die er auf der Mittelschule in St. Cloud verbracht hatte, und in seiner Knabenzeit unter dem genialen aber weltfremden Blick des »Alten Doktors« gelernt, daß es nicht für anständig galt, das Messer als Schaufel zu benützen, auf die man zerdrückte Kartoffel häuft, wie dies in Mac's »Altem Heim« in Schoenstrom Sitte war. Aber die Kunst, Austern, Salat oder Erbsen in formvollendeter Weise zu verzehren, war ihm fremd. Er studierte jetzt Gabeln, wie er einst Vergaser studiert hatte, und mit geistiger Hingabe lernte er eingelegte Krevetten hübsch zu essen – eine versprengte Legion von Krevetten, nun durch zweitausend Meilen und zwei Jahre von ihrem ozeanischen Heim getrennt.

Er schaute mit gleichem Ernst auf die Socken und Hemden der Handelsreisenden. Socken waren für ihn nicht ein Gegenstand des Glaubens gewesen sondern ein ökonomisches Detail. Seine Stellung zu Socken hatte der Ehrerbietung und des technischen Könnens ermangelt. Er hatte nicht erkannt, daß Socken ein ebenso gesundes Kultur-Symbol sein können wie das Cello oder sogar abmontierbare Felgen. Er war im Stande gewesen mit Schätzung an Kravatten und Piquekragen zu denken, die mit goldenen Sicherheitsnadeln verbunden waren; auch der Rehleder-Mantel mit Gürtel, den der Bankiersohn von St. Klopstock aus St. Paul nach Hause gebracht hatte, war der Gegenstand seines Neides gewesen. Aber jetzt war er so weit vorgeschritten, daß er auch Socken zu unterscheiden verstand.

An seinem Lagerfeuer seufzte er, neben der halbschlafenden Vere de Vere, schleuderte verächtlich seine extrastarken, weißgestreiften, gelben Baumwollsocken aus dem Reisekorb und sprach den Bannfluch:

»Hinweg mit euch, unwürdiger und dirnenhafter Tand! Ich kenne euch! Ihr wart um einen Spottpreis zu haben, zwei Paar für zwei Silbermünzen. Aber gleich einem Adolph Zolzac oder einem Agenten für Ford-Zubehör seid Ihr in meinen Augen geworden zu einem Geschlecht von Vipern, Ihr plumpen, fußbeutelartigen, Falten bildenden Sackleinen, Ihr!«

Am nächsten Morgen fand ein glücklicher Strolch im Walde, daß die Manna bringenden Raben ihm vier Paar gute Socken übrig gelassen hatten.

Milt erstand fünf Paar ziemlich kostspielige Socken, Seide und Wolle gemischt – alles was der Kaufmann in Jepp auf Lager hatte. Was ihnen an Strapazfähigkeit für Touren und an Eignung zum Selbstwaschen am Bach fehlte, das gewannen sie wieder als Symbole. Milt fühlte sich weniger ausgeschlossen vom Leben des Müßigganges. Jetzt konnte er, in Seattle zum Beispiel, mit geringerer Angst vor den Angestellten in ein gutes Hotel gehen.

Er fügte noch einige hübsche Sporthemden, Kravatten, die weder zu langweilig-dunkel, noch zu auffallend rot waren, hinzu und eine grimme Nagelbürste, welche die ganze Schmiere, die in die Hautfalten seiner Hände hineingewaschen war, einfach herausriß. Auch ein Buch fügte er noch bei.

Das Buch war eine Rhetorik. Milt wußte ganz genau, daß es so eine Gemeinheit wie die Grammatik gäbe, aber er kümmerte sich niemals viel darum. Er wußte, daß viele Leute »haben Sie« einem »habt's« vorzogen und bei Gelegenheit von »net« statt »nicht« nervös wurden. Insbesondere ein Lehrer in St. Cloud hatte schrecklich viel über diese Lappalien geschwätzt. Aber Milt entdeckte, daß die Grammatik nur der Anfang des Übels war. Er lernte, daß es solche geistige Pfandverschreibungen gab wie Redefiguren und die Wahl von Synonymen. Er hatte es immer gewußt, ohne es jemals leidenschaftlich zu empfinden, daß ein beständiges Anwenden von »zum Teufel«, »famos« und »meiner Seel!« gewisse Subtilitäten unausgedrückt ließ. Jetzt fand er Subtilitäten, die er ausdrücken mußte.

Ebenso abenteuerlustig und vergnügt wie das immerwährende Weiterfahren einen Tag um den anderen, waren für ihn die Versuche, seine neuen Beobachtungen in Worte zu kleiden. Er tat es mit weit größerer Begeisterung als Claire Boltwood. Er deklamierte vor Vere de Vere – dem idealsten Publikum, da sie selbst nie etwas anderes als »Mrwr« sagte und auch nichts dagegen hatte, dabei unterbrochen zu werden – mit leidenschaftlicher Betonung: »Die Prärien sind das Meer. In der Entfernung sehen sie ein wenig wie Silber aus – nein – sie sind wie mattes Silber; und weit drüben am Horizont sind die Inseln der – der – Jetzt, zum Teufel, wie heißt das – wie hießen jene Inseln im Mythologie-Buch am Gymnasium? Von den – Heiligen? Drachen – du bist eine ungebildete Katze, Vere! Hesperydn? Nein! Hesperiden! Ja, oh! Nein, dieser Mann im Hotel: ›Darf ich Sie, bitte, um das Kursbuch bemühen? Dank Ihnen sehr!‹ Jetzt aber, wie viel ist eigentlich sehr

So wie Claires Tage zu innerer Freiheit gelangten durch das Bewußtwerden von Sonnenschein und brauner Erde, so zeigte sich Milt auf seiner Odyssee nur umso tapferer, je mehr er sich bemühte, das Leben kritisch zu beobachten. Er sah, daß Mac's Gastzimmer eigentlich kein durchaus befriedigendes Heim war; daß Mac's Gewohnheit, unzufriedenen Kunden zu sagen: »Wenn es Ihnen nicht paßt, geh'n Sie«, einigermaßen der Höflichkeit ermangelte. Wenn er unterwegs die Ortschaften betrachtete, sah Milt, daß die Häuser nicht einfach nur groß und bequem oder klein und schäbig waren, sondern, daß es noch so ein interessantes Ding gab, das, wie er sich erinnerte, sein Lehrer »guten Geschmack« genannt hatte.

Er war nicht mehr der in Gedanken versunkene Milt aus der Garage, sondern ein helläugiger Galant, an jenem Abend, da er die Lehrerin aufforderte, in seinen Wagen einzusteigen und sie von der Gemeindeschule aus zwischen wilden Rosen und Kornfeldern bis in die Nachbarstadt fuhr, in der sie wohnte. Sie war eine hübsche, muntere, schlanke, junge Lehrerin von neunzehn oder zwanzig Jahren.

»Sie fahren nach Seattle? Gott! Das ist eine herrliche Reise. Werden Sie da nicht müde?« fragte sie bewundernd. »Oh, nein. Und dann seh ich endlich einmal etwas. Ich hab immer geglaubt, daß alles Wichtige gleich neben meiner Heimatstadt zu finden war.«

»Sie sind so klug, daß Sie verschiedene Orte besuchen. Die meisten Burschen, die ich kenne, glauben, daß jenseits von Jimtown und Fargo die Welt aufhört.«

Sie sah ihn mit glühenden Blicken an. Milt sagte sich: »Ich bin ein Narr! Wahrscheinlich könnt ich dieses Mädel leicht in mich verliebt machen. Und sie ist was besseres als ich; so verteufelt nett und sauber und lieb. Wir könnten glücklich miteinander sein. Sie ist ein gutes, behagliches Feuer, und da renn ich wie ein Narr einem einsamen, kalten Stern nach, wie Fräulein Boltwood, und werde wahrscheinlich unterwegs in alle Fallen der Hölle stürzen. Aber – am behaglichen Feuer würd ich wohl schläfrig werden.«

»Denken Sie an etwas gar so Ernstes? Sie runzeln so sehr die Stirne?« fragte die Lehrerin.

»War nicht meine Absicht, 'tschuldigen!« Sie lachte. Er ließ mit einer Hand den Volant aus und nahm ihre Hand – eine frische, kühle, jungfräuliche Hand schmiegte sich in die seine, machte ihn etwas erregt. Er wollte sie fester fassen. Der betrübte Erzähler einer Pilgerfahrt der Liebe kann nicht umhin, die Tatsache zu berichten, daß der Pilger wenigstens eine Sekunde lang der himmlischen Spur der Göttin Claire vergaß und schnelle Berechnungen anstellte, daß er von Schoenstrom bis in die Stadt der Lehrerin zur Not in zwei Tagen und einer Nacht fahren könnte; daß darum eine Werbung nicht unmöglich wäre und diese süße, weiße Hand, die in der seinen ruhte, nicht etwas Unerreichbares sei. Milt wußte selbst nicht, was ihn dazu veranlaßte, die Hand wieder freizugeben und zu sagen, so sanft, daß es im Geratter des Motors kaum zu hören war:

»Ist das heute nicht ein feiner, ich wollt sagen: ein herrlicher Abend? Der Himmel ist rot und dann dieser merkwürdige Lavendelduft. Und der Vollmond – Ich muß immer – an das Mädchen denken, das ich liebe.«

»Sie sind verlobt?«

»Nicht eigentlich, aber – sagen Sie, haben Sie in der Lehrerbildungsanstalt Rhetorik gelernt? Ich hab ein Rhetorik-Buch, da sind eine Menge Auszüge aus Gedichten, wissen Sie, und Zitate und alles mögliche drin, von berühmten Schriftstellern, Stevenson und all die. Bin immer nur fürs Praktische gewesen, hab eine Garage zu einem rentabeln Unternehmen gemacht, hab mir nie viel den Kopf darüber zerbrochen, wie ich die Dinge sagen soll, so lange ich nur ›nein!‹ sagen konnte und zwar schnell genug. Ausgenommen vielleicht, wenn ich dort mit dem Prof. gesprochen habe. Aber es ist doch ein großes Vergnügen zu sehen, wie melodisch die Dinge manchmal klingen. Worte. Wie Shenandoah. Herrgott! Ist das nicht ein wunderbares Wort? Man stellt sich dabei alte, weiße Gebäude vor und Spottdrosseln – Denk oft drüber nach, ob einer ein großer Ingenieur sein kann, wissen Sie, Brücken bauen und so weiter, und doch über, oh, schöne Dinge sprechen kann? Was meinen Sie, liebes Kind?«

»Oh, ich bin ganz überzeugt, Sie könnten's!«

Ihre Bewunderung, die Nähe ihrer duftenden Zartheit war bezaubernd im Dämmerlicht, er drückte ihre Hand nicht wieder, nicht einmal, als sie flüsterte: »Gute Nacht, und ich danke Ihnen – oh, ich danke Ihnen.«

Wäre Milt in dem Tempo gefahren, in dem er gewöhnlich seine Springkäfer-Touren auf den Straßen um Schoenstrom machte, so wäre er schon durch ganz Dakota durch und in Montana gewesen. Aber er verringerte absichtlich die Geschwindigkeit. Hatte er sich durch eine ebene Strecke verlocken lassen, atemlos hinzusausen, so hielt er an, spielte mit Vere de Vere, kletterte aus dem Wagen, setzte sich auf eine Höhe, die Arme um die Knie geschlungen, und erfüllte seine Seele mit Traumbildern von bernsteinfarbenen Fernen. So versuchte er, sein Vorwärtskommen zu regulieren, damit er immer drei bis fünf Meilen hinter Claire bleibe – weit genug, um unbemerkt zu bleiben, nahe genug, um helfen zu können, falls es notwendig wäre. Denn hinter poetischen Ausdrucksmöglichkeiten und dem richtigen Gebrauch von Messer und Gabel lag die Tatsache, daß es sein Lebenswerk war, Claire kennen zu lernen.

Als er durchschaut wurde, als Claire ihm mitteilte, daß er sich nicht um sie kümmern brauche, als er langsam begriff, daß sie nicht kameradschaftlich sein wolle, da wollte er entfliehen, um sie nie wieder zu sehen.

Für die weiteren dreißig Meilen brannten seine Wangen wie Feuer. Er, einer der vorsichtigsten Fahrer, drängte eine Frau in einem Fordwagen zur Seite, und fuhr bei einer Straßensteigung mit solcher Plötzlichkeit an einem Lastwagen vorbei, daß der erschreckte Fahrer in einen Graben rannte. Er hatte sie eigentlich nicht gesehen. Er war nur rein mechanisch an ihnen vorbeigekommen. Er murmelte:

»Sie hat geglaubt, daß ich mich aufzudrängen versuche. Hat zurückgestochen. Wie ein Bub, der in seine Lehrerin verliebt ist. Und ich hab mich für so gescheit gehalten! Hab über Mac geschimpft – habe Mac getadelt – nein, verdammt all die feinen Worte – hab über Mac geschimpft, weil er der größte Saufbold des Dorfes ist. Saufen ist zehnmal gescheiter als was ich getan hab. Seh ein hübsch angezogenes Mädchen – mach mich auf nach Seattle! Zweitausend Meilen weit! Natürlich hat sie mich fortgejagt. Hat auch ganz recht gehabt. Tepp! Viechskerl! Esel!«

Er packte Vere de Vere, hob sie in die Höhe und rieb seine Wange an ihrem Fell, während er laut jammerte: »Oh, Mietzekatze, jetzt mußt du wirklich lieb zu mir sein. Ich hab geglaubt, daß ich was Großes vollbringen werde. Und dann ist der Wecker abgelaufen. Jetzt sitz ich wieder in Schoenstrom. Für immer, denk ich. Ich hab nie gewußt, daß mich etwas so verletzen könnte, wie das. Hab geglaubt, daß ich eine Rhinozeroshaut hab. Aber – ach, es ist nicht nur, weil ich mich schäm, so ein Narr gewesen zu sein. Es ist – Werde sie nun nie wieder sehen. Niemals. Hab sie damals, im Hotel, durchs Fenster gesehen, in dem blauen Seidenkleid – mit der komischen langen Reihe von Knöpfen, und ihren Hals – Werde niemals mehr mit ihr zusammen mittagmahlen – essen – an der Straße, unterwegs –«

In einer plötzlichen Anwandlung von Zorn fragte er Vere de Vere: »Was zum Teufel scher ich mich drum? Wenn sie so fad ist und einen närrischen Garagemann fortjagt, der übergeschnappt ist und umsonst arbeiten will, soll sie nur weiterfahren und auf irgendeine Schwindel-Garage stoßen und dort hängen bleiben für eine Generaldurchsicht. Was gehts mich an? Hab eine hübsche Tour gemacht: war schließlich alles, was ich wollte. Hab jedenfalls niemals wirklich ganz bis nach Seattle fahren wollen. Werde jetzt bis Buttle fahren und dann nach Hause umkehren. Schluß mit all der lächerlichen Wichtigtuerei mit Eßmanieren und Büchern, und vor Allem werd ich aufhören, ihrer Spur zu folgen! Nein, mein Herr! Nie – mehr wieder!«

Es war ein wenig unkonsequent, noch hinzuzufügen: »Da ist ein prächtiges Versteck – werde hineinschlüpfen und sie wieder vorbeilassen. Aber ein zweitesmal soll sie mich nicht erwischen!«

Er bemühte sich, seinen gerechten Zorn zu bewahren, während er in einen verlassenen Bauernhof einfuhr, wo er den Wagen hinter Pappelbäumen und verwilderten Stachelbeersträuchen, die ihn vor der Straße verbargen, einstellte.

Die Fenster des verödeten Hauses starrten ihn an; eine abgesplitterte Gattertüre schlug krachend bei jedem Windhauch zu. Moosflechten guckten neugierig aus allen Spalten der Hauseinfahrt. Der Hof war mit verstreut umherliegenden Zweigen und Ästen bedeckt, die Blumenbeete waren von dichtem Unkraut überwuchert. In dem üppigen Gras, um den schlüpfrig feuchten Brunnenrand zirpten die Grillen laut und spottend. Das Scheunentor stand offen. Verschüttete Weizenkörner hatten zwischen den Radspeichen einer rostigen Garbenbindmaschine zu sprießen begonnen. Eine Ratte schlüpfte über den Rand des geborstenen Futtertroges. Mit einbrechender Dämmerung schienen graue Schatten über die oberen Fenster des Hauses zu gleiten und von irgendwo unter dem Dachstuhl her tönte ein leiser Klagelaut. Milt wußte bestimmt, daß es der Wind war, der durch ein Astloch blies. Er sagte sich, daß er dessen ganz sicher sei. Doch jedesmal, so oft er es hörte, streichelte er liebevoll Dame Vere de Vere und einmal, als das Klagen mit dem Zuschlagen der Gattertür endete, rief er »Herrgott!«

Dieser Bursche von den ungeisterhaften Zylindern und Walzen und handgreiflichen Magneten hatte noch nie ein Haus gesehen, in dem es spukt. An die Plackereien des Erntefeldes und des Maschinenhauses und an das mühsame Sichfortschleppen auf sonnendurchtränkten Straßen war er gewöhnt, aber niemals noch hatte er niedergedrückt die schleichenden Geister verlorener Hoffnung und unerfüllter Sehnsucht heimlich belauscht; die schwachen Gestalten des ersten, eifervollen Bräutigams, der einst hierhergekommen und des von Hypotheken erdrückten, durch schlechte Ernten ruinierten Mannes, der von hier ausgezogen war. Er wollte in seinen Karren springen und fortjagen. Doch der Gespensterbann murmelnder Erinnerungen übte einen veredelnden Einfluß auf sein Gefühl des Unglücklichseins. In dem stillen, baumdunkeln Hof inmitten trockener, flammender Ebenen, schien es unangemessen immer weiterzupoltern mit »Herrjeh« und »Hol's der Teufel!« Es war ein junger Dichter, ein stummer, verseloser Dichter, der hinter der Mauer wilder Stachelbeersträucher zusammengekauert saß und an das Mädchen dachte, das er nie wieder sehen sollte.

Er war hungrig, aber er aß nicht. Alle Glieder taten ihm weh vom Sitzen, aber er rührte sich nicht. Er nahm die Bücher zur Hand, die sie ihm gegeben hatte. Die etwas verstaubte Schönheit von »Jugendbegegnungen« riß ihn mit: die Vision von Lachen und Tanzen unter dem streifig-fahlen Schimmer einer Gaslaterne im Londoner Nebel; wirkliche Jugend und nicht »Wirtshausgelärme« und ein »Mordskerl-sein-wollen«, ließen ihn sich begeistern und erhoben fühlen an zarter Schönheit und schwachrotem Schimmer, wie er es in Schoenstrom nie gekannt hatte. Doch jede Seite sprach ihm von Claire und er legte das Buch weg.

In Vachel Lindsay's »Congo« fand er in einem Gedicht: »Die Fährte von Santa Fe« seine eigene moderne Pilgerfahrt wieder, von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen. Hier fühlte sich der Dichter von dem Huppen und Rattern der vorbeieilenden Wagen gestört und verwirrt. Aber Milt gehörte zu dem Huppen und Rattern, und es war nicht das Leben und Fühlen des sprießenden Grases, das er aus dem Gedicht las, sondern sein eigener sonnenglitzernder Flug:

Der eherne Wagen braust heran.
Er flammt im Osten wie Morgenrot,
Seine schwindende Spur ist von Blitzen umloht,
Durch Morgennebel bricht er sich Bahn.
Er kommt wie ein Blitz und schießt dröhnend davon,
Den Windmühlen ruft er schallenden Hohn.
Der Pflug zieht furchend durch die Erde;
Auf tausend Hügeln weidet die Herde.
Hoiho das Horn brüllt Wagemut, hoiho das Horn bellt wilde Wut,
Hoiho und Angst und Lustigkeit, hoiho und Zorn, hoiho und Streit.

Milt überlegte nicht, daß der Dichter, hätte er den Teal-Karren vorbeifahren gesehen, wohl nicht von einem Horn gesprochen hätte, das Wagemut und wilde Wut brüllt oder überhaupt von irgend etwas Mächtigerem als einer Kindertrompete. Milt fühlte sich als Wettfahrer eines Weltrekords, der den ihn beneidenden Dichter hinter sich ließ – ein Pünktchen auf dem Hügel – seine siegreiche Fahrt besingend.

»Herrgott!« rief er, »ich wußte nicht, daß es solche Bücher gibt! Hab geglaubt, daß alle Gedichte so wie Longfellow und Byron wären. Alte Knaben. Europa. Und bis zum Überdruß von Mißgeschick und Liebesleid reimten. Aber diese Bücher – das ist ja ich.« Dann bedächtig: »Nein, das bin ja ich! Und sie hat sie mir gegeben! Ich will sie wiedersehen! Aber sie soll es nicht wissen. Jetzt sei einmal vernünftig, Söhnchen! Was erwartest du eigentlich? Oh – nichts. Ich werde nur einfach weiterfahren und verstohlen noch einmal ihren Anblick genießen, zum Andenken, ehe ich dahin zurückkehre, wohin ich gehöre.

Eine halbe Stunde nachdem Claire ahnungslos an seinem Hinterhalt vorbeigefahren war, folgte er langsam. Doch er war viele Tage hindurch nicht mehr unvorsichtig. Erblickte er sie am Horizont, so hielt er an, bis sie außer Sicht war. Damit er aber im Falle der Not bei der Hand sein könne, kaufte er einen lächerlich feuern Feldstecher und beobachtete sie, wenn sie auf der Strecke anhielt. Einmal, als sie sowohl am rechten Hinterrad als auch am Reserverad einen Pneudefekt hatte, bevor sie die nächste Stadt erreichen konnte, sah Milt von weitem, wie sie einen Schlauch pickte und das Rad auf der staubigen Straße aufpumpte. Er hatte ein schmerzliches Verlangen, ihr zu helfen – obwohl man nicht behaupten kann, daß Pumpen an Julinachmittagen seine Lieblingsbeschäftigung gewesen wäre.

Damit er ihr nicht in den Straßen begegne, schlug er immer östlich von der Stadt, in der sie die Nacht verbrachte, sein Lager auf. Nach Einbruch der Dunkelheit, wenn sie aller Voraussicht nach die Tagestour in dem besten Gasthaus, das eben aufzutreiben war, beendete, versteckte er seinen Karren irgendwo in ein Seitengäßchen, und gleich einem Spion, wie er im Buch steht, schlich er sich in eine Garage nach der anderen, um nachzusehen, ob ihr Wagen dort sei.

Er pflegte hineinzuspazieren, gedankenlos umherzugucken und dem mißtrauischen, Nachtdienst machenden Garagemann zuzupfeifen. »Haben Sie einen Mann durchfahren gesehen, der Smith heißt?« Gewöhnlich knurrte der Garagemann: »Nein, ich hab keinen gesehen, der was Smith geheißen hat. Wollen Sie sonst noch was?« Aber einmal hatte er das Pech, den langersehnten Herrn Smith zu finden!

Herr Smith war erstaunt und ließ nicht locker. Milt mußte schnell was zusammenlügen. Während dieser Unterredung wurde ihm der Zementboden unter den zappeligen Füßen heiß und es kam ihm so vor, als hörte er den Garagemann im Büro telefonieren: »Glaub, er kennt den Smith gar nicht. Hab so eine Ahnung, als wäre das der Autodieb, der vorigen Sommer hier durchgekommen ist.«

Als Claire einmal nicht in der ersten Stadt anhielt, die sie nach Einbruch der Dämmerung erreichte, sondern im Zwielicht weiterfuhr, mußte er ein gefährliches Tempo einschlagen, um sie einzuholen. Die Lampen eines Teal-Wagens sind sehr ornamental, aber Leuchten ist nicht ihre Sache. Sie sind von einem Dynamo abhängig, der wieder von gut Glück abhängig ist.

Als er einmal im Dunkel dahinsauste, bemerkte er, daß der stillstehende Wagen, den er eben überholt hatte, der Gomez war. Er glaubte, hinter sich rufen zu hören, doch in panischer Angst fuhr er weiter.

Dem surrenden Motor klagte er: »Jetzt werd ich sie wahrscheinlich nie wieder sehen. Abgesehen davon, daß sie noch glaubt, ich bin ein solcher Lümmel und laß sie's nicht wissen, wenn ich im selben Staat bin wie sie, bin ich doch wirklich ein erfolgreicher Liebhaber. Als Prinz Herzensdieb gewinn ich den Vanderbilt-Pokal. Ich mache so rapide Fortschritte nach hinten, daß ich wahrscheinlich über den nächsten Hügel in den Atlantischen Ozean purzeln werde.«


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