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XXVI.
Maschinenbau und Omelettes als Lehrgegenstände

Nur eine Sache gab es, die für Milt Daggett unbedingt feststand, nämlich, daß er, da er es nun einmal so weit gebracht hatte, auf der Technischen Hochschule zu inskribieren, sich auch sein Ingenieurdiplom verschaffen müsse. Er war älter als die meisten seiner Studiengenossen. Er mußte sich beeilen. Er mußte die Arbeit von vier Jahren in zweien bewältigen.

Milt hatte brieflich seine Garage an Ben Sittka und Heinie Rauskukle verkauft. Er besaß nun genug Geld, um, wenn er sparsam lebte, zwei Jahre lang auszukommen. Sein Leben war ebenso einfach und langweilig wie es in Schoenstrom gewesen war. Er studierte, während er seine fragmentarischen Mahlzeiten kochte; er heftete mathematische Formeln und Diagramme aus der Mechanik an die Wand und büffelte daran, während er sich ankleidete.

Er hatte Französisch und Englisch als Nebenfächer zu seinem technischen Studium gewählt. Wenn er nicht arbeitete oder wütend Leichtathletik betrieb, besuchte er Konzerte und Vorlesungen.

Er hatte, seine Umgebung studierend, herausgefunden, daß die beste Methode, Zeit zu sparen, in der Vermeidung müßigen, kameradschaftlichen Verkehrs mit den Studenten lag; dieses mit Pfeifenrauchen und Gähnen verbundene, bequeme, etwas schwerfällige, im ganzen nicht unangenehme Erwägen: »was wollen wir jetzt machen?« nimmt wenigstens vier Stunden täglich des durchschnittlichen Studenten in Anspruch. Er hätte Vergnügen daran gefunden wie an den langen nichtssagenden Unterhaltungen mit Bill McGolwey im Alten Heim. Aber er konnte es sich nicht leisten. Er mußte fertig werden, um –

Das war der Punkt, bei dem seine Betrachtung jedesmal mit einem Ruck abbrach. Er war sich vollkommen klar über die Methode, wie er fertig werden sollte, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung davon, wozu er fertig werden sollte. In dem Augenblick, da er sich wieder entschlossen hatte, Claire zu heiraten, sah er die einzige Möglichkeit für seine Zukunft in der Junggesellentätigkeit, in Alaska Maschinen zu bauen; und in dem Augenblick, da er sich mit dieser Aussicht auf ein Ingenieurszelt in der Wildnis von Alaska zufrieden gab, fingen seine Gedanken an, wie wahnsinnig um Claire zu kreisen.

Trotz seiner Abgeschlossenheit war Milt unter den Studenten nicht unbeliebt. Von den Ingenieuren hatten nur wenige an Tanzereien, Athletik und Studentenunterhaltung Interesse, die den Akademiker sonst von anderen Leuten unterscheiden. Sie waren meist älter und mehr darauf bedacht, bald einen Lebensunterhalt zu finden. Und Milts freundliche Art den Leuten einen Gruß zuzuwerfen oder mit der Hand zu winken – wie einem guten Kunden, der die Garage zur Roten Fährte endlich doch mit einem gebändigten Generator verließ – zeigte, daß er ein »lieber Kerl« und ein »guter Kamerad« war.

Nur eine Gruppe von Kollegen suchte Milt auf. Es ist wahr, daß seine Verachtung für soziale Emporkömmlinge echt war. Aber es ist auch wahr, daß die Leute, die er kennen zu lernen suchte, die fashionable Gesellschaft der Universität war. Ihre Befriedigung über seine Ergebenheit wäre jedoch stark verringert worden, hätten sie gewußt, wie wenig ihm daran lag, was sie von ihm dachten und mit welch grausam-reiner Zweckdienlichkeit er sie ausschließlich als Modell benützte, um Fräulein Claire Boltwood zu gefallen.

Die amerikanischen Staats-Universitäten geben gerne zu, daß, obwohl Yale und Harvard und Princeton als versnobt bekannt sind, die Staats-Universitäten doch die Zuflucht jenes Mythos sind, der »Hochschul-Demokratie« genannt wird. Aber es gibt keine Universität in der Nähe einer einigermaßen bemerkenswerten Stadt, in welche die Erben des Reichtums jener Städte nicht alle lokalen Sozialunterschiede mitbrächten. Ihren Familienrang, ihre Stellung in dem nirgends aufgezeichneten Adelsstand entscheidet, in welche Bruderschaft sie aufgenommen werden würden und die Bruderschaft entscheidet, mit wem sie – ob Mann oder Mädchen – befreundet sein werden. Die Töchter und Söhne von Seattle und Tacoma, die Sprößlinge der alten Familien, die in ununterbrochener, reiner Linie bis 1880 zurückverfolgt werden konnten, waren gegen arme Außenstehende aus Yakima oder Idaho gewiß sehr freundlich, aber sie luden sie nicht oft zu sich ein, in ihre Häuser auf den beiden Hügeln und auf dem Boulevard.

Doch diese Plutokraten waren es, denen sich Milt anschloß; sie waren es, deren Schuhzeug und Eßmanieren, Zigaretten und Mangel an theologischem Interesse er studierte. Er begegnete ihnen in seinen englischen Vorlesungen. Er sagte: »Halloh, Smith!« und »Morgen, Jones!« als hätte er sie wirklich gerne und kümmere sich nicht im geringsten darum, ob sie ihn gern hätten. Und nach und nach gelangte er in ihre Bruderschafts-Wohnhäuser, einmal mit dieser, einmal mit jener Frage, und lernte sie und ihre Freunde dort näher kennen. Er saß still und vergnügt, die Pfeife im Mund, unter ihnen und sie schienen ihn zu dulden. Wann immer einer das Gefühl hatte, Milt dränge sich auf, und eine unverschämte Frage an ihn richtete, sah ihn Milt mit einem eigentümlichen Blick an, der die Eigenschaft besaß, Höflichkeit selbst bei Nachkommen von Dollarmillionären hervorzurufen. Man fand, daß er von Automobilen mehr als sonst irgendeiner verstand, und da Automobile zu ihren größten Götzen gehörten, galt er als weise. Er war verhältnismäßig einfach und anspruchslos; man empfand seine Gegenwart als angenehm.

*

Während all der ersten drei Wochen seines Aufenthalts in Seattle hatte er Claire nur das eine Mal bei seinem ersten Besuch gesehen. Zweimal hatte er ihr telephoniert. Bei einer dieser festlichen Gelegenheiten hatte sie ihn eingeladen, zusammen mit der Familie ins Theater zu gehen – was eigentlich bedeutete ins Kino – und er hatte, tief unglücklich zwar, aber standhaft abgelehnt; das andere Mal hatte sie gesagt, daß sie vielleicht den ganzen Winter über in Seattle bleiben würde, vielleicht auch schon in den allernächsten Tagen wieder abreisen werde und sie »bestimmt noch den besprochenen langen Spaziergang zusammen machen müßten«; und er sagte: »Oh, ja«, vielleicht zehn oder zwölf unglückselige Male und hatte das Gefühl einer schrecklichen Leere, als er den Hörer aufhing.

Dann schickte sie ihm eine Einladung zu einem späten Frühstück bei Gilsons. Die Zeit war mit zehn Uhr dreißig angegeben; die meisten Leute kamen gegen Mittag; aber Milt kam um zehn Uhr einunddreißig und fand nur einen verschlafenen Diener vor.

Er wartete fünf Minuten lang im Salon und kam sich wie ein Billeteur vor. Ins Zimmer herein spazierte ein durchschnittlich großer, durchschnittlich aussehender, liebenswürdiger Mann, Eugene Gilson, der gleich losschnatterte: »Oh, wirklich wahr, tut mir so leid, daß man Sie hat warten lassen, Herr Daggett. Wahrhaftig, eine Schande, kommen Sie, nehmen Sie einen Kuchen, oder sonst etwas –« »Danke vielmals«, sagte Milt.

Der Wirt führte ihn mit übersprudelnder Zuvorkommenheit in ein Speisezimmer, wo – nach englischer Mode, oder ähnlich wie nach englischer Mode, oder jedenfalls in genauer Anlehnung daran, was man sich unter englischer Mode vorstellt – Leberpasteten und Würste und Omelettes auf Schüsseln am Büfett der Gäste warteten. Herr Gilson schenkte Kaffee ein und plapperte: »Kosten Sie, bitte, diese Leberpastete. Sie ist für gewöhnlich sehr gut. Fräulein Boltwood hat mir erzählt, daß Sie so gut zu ihr auf der Tour waren. Muß eine schöne Tour gewesen sein. Sie bleiben einige Zeit hier, nicht? Oh ja, Claire hat erzählt, daß Sie auf der Hochschule sind, Maschinenbau, glaub ich; haben Sie schon unsere Sägewerke gesehen? Kommen Sie, bitte, doch einmal hin – kosten Sie eine Omelette, bevor das dumme Zeug kalt wird, wir kriegen gleich wieder frische – ins Werk, ich werde Ihnen jederzeit gerne alles zeigen lassen. Wie waren denn die Straßen unterwegs?«

»Ja, ganz gut«, sagte Milt.

Ins Zimmer herein stürzte Frau Gilson in einem strahlenden Lächeln, einem Wolljäckchen und einem Sportrock, der unter jeder heftigeren Art einer sportlichen Betätigung als Kartenspiel, bestimmt gelitten hätte, und sie wehklagte im Kommen:

»Ach, Gene, welche Schande für uns! Ist das Herr Daggett? Guten Tag, wie geht es Ihnen? Es ist sehr lieb, daß Sie gekommen sind, kosten Sie doch, bitte, die Leberpastete, sie ist für gewöhnlich ganz erträglich, sind die Omelettes warm, bitte läute, Gene, damit man frische bringt, gib mir, um Gotteswillen, ein wenig Kaffee, Fräulein Boltwood wird gleich herunterkommen, Herr Daggett, sie hat uns erzählt, was für ein Glück es für sie war, daß sie Ihnen unterwegs begegnet ist, hat Ihnen die Tour gefallen, wie waren die Straßen?«

»Ja, ziemlich gut«, sagte Milt.

Claire kam, frisch und heiter, in einem weißen Taftkleid und rief vergnügt aus: »Das hätte ich eigentlich wissen sollen, daß Sie pünktlich sein würden, selbst wenn es sonst niemand auf der ganzen Welt ist; ich freu mich sehr, daß Sie gekommen sind, haben Sie schon die Leberpastete gekostet und bitte nehmen Sie eine – oh, ich sehe, Sie haben die Omelettes schon gekostet, wie geht's mit der Arbeit auf der Universität vorwärts?«

»Ja, sehr fein«, sagte Milt.

Er aß unsinnig viel und schaute vergnügt drein und guckte verstohlen auf seine neuen (noch immer etwas engen und noch immer etwas quietschenden) braunen Schuhe, um sich davon zu überzeugen, daß sie noch ebensogut glänzten, wie es zu Hause den Anschein hatte.

Von irgendwoher tauchte eine dicke Dame auf, die sich durch ein schnarrendes: »Halloh, halloh, halloh,« bemerkbar machte, »ja, ist es denn möglich, daß Ihr alle – oh, Herr Daggett. Ja, bitte führen Sie mich nur gleich zu der Leberpastete«.

Und ein Herr mit grauem Haar wie ein Großvater und fröhlichem Gekicher wie eine kleine Kassierin sprang herein mit lautem: »Morgen – habt wohl geglaubt, daß Ihr alles allein essen werdet – wird es eine Bridgepartie geben? Oh, guten Morgen, Herr Daggett, wie gefällt es Ihnen in Seattle? Ach, danke vielmals, ja, bitte nur zwei«.

Dann verlor Milt den Faden der Konversation, die um Omelettes brodelte und um Leberpasteten siedete und um Kaffee schäumte und um einen eilends aufgestellten Bridgetisch klapperte und insgesamt erstaunliche Ähnlichkeit hatte mit dem Geräusch von vier Wagen, von denen jeder einen anderen Defekt hatte, und die alle vier zu gleicher Zeit in einer kleinen Garage ausprobiert werden. Leute strömten herein und nickten, als ob sie einander zu gut kannten, um sich noch weiter darum zu kümmern. Sie verbeugten sich vor ihm in der liebenswürdigsten Weise und vergaßen ihn im selben Augenblick wieder um der Leberpastete und der Würste willen. Er saß da und sah höchst achtbar aus und fühlte sich bei einer Tasse Kaffee sehr einsam, als Claire – das in höchstem Grad unecht aussehende Lächeln fallen ließ, das sie während einer Erzählung des ältlichen Beau zur Schau getragen hatte – in einen Stuhl neben ihn glitt und bat: »Schaut man auf Sie, Milt?«

»Oh ja, danke.«

»Sie haben mich so lange nicht besucht.«

»Oh nein, ich – arbeit so verflucht viel.«

»Was für ein fabelhaft origineller Grund! Aber haben Sie das auch wirklich getan?«

»Auf Ehre!«

Plötzlich hatte er Lust – du ewig gleicher Mann, der allezeit den vertrauensseligen, kleinen Jungen spielt vor der Geliebten – ihr von seinen Vorlesungen und Kollegen zu erzählen; wollte sich bemitleiden lassen, wegen seines kahlen Zimmers und den selbstbereiteten Mahlzeiten. Doch um sie tobte das alberne Interesse für Leberpastete und als Claire einem neuen Ankömmling ein strahlendes Lächeln zuwarf, verlor Milt den Schwung und fand, daß es absolut nichts auf der weiten Welt gäbe, was er ihr sagen könnte.

Er verabschiedete sich dankbar von den Omelettes und der Leberpastete und entschlüpfte.

Er wanderte an diesem Tage viele Meilen weit und versuchte, sich Claires Bild ins Gedächtnis zu rufen.


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