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IX.
Der Mann mit den Achat-Augen

Als ihr Wagen den Missouri-Fluß auf der Seil-Fähre zwischen Bismarck und Mandan übersetzt hatte, war Claire von Middle-West nach Far-West gelangt. Sie kam auf ein Plateau jungfräulichen Prairielandes, so ganz ohne Haus und ohne Baum, so göttlich taufrisch, so voll üppigen Graswuchses, daß sie sich vorstellen konnte, wilde Büffel streiften dort umher. In einer Vertiefung stand ein echtes Prairie-Schiff, und die umherwandernden Heimstätten-Sucher lagerten dort und bereiteten im Freien ihr Mahl. Im Innern des Wagens, auf einer Decke im Heu, saß ein kleines Kind und guckte neugierig heraus; Claire hüpfte das Herz.

Dann schien es ihr, als könnte sie tiefer atmen, weiter sehen. Wieder kam sie aus noch nicht umgebrochenem Prairieland in Weizengegenden und große Städte.

Sie hatte von dem neuen Land nicht nur den Eindruck sonnenbeschienener Weiten. Manchesmal, an bewölkten Tagen, war das sumpfige Weizenland so braun und düster und geheimnisvoll wie ein englisches Moor im Nebel. Die weitabliegenden Häuser erschienen in diesem gigantischen Zauber zwerghaft klein; die brütenden Landstrecken verwandelten Claires flotte, benzinbetriebene Energie in eine Melancholie, die voll Erinnerungen war an vergangene, düstere Schönheit.

Sogar wenn die Sonne hervorkam und das Land strahlend und vielverheißend vor ihr lag, sah Claire mehr als bloße Fruchtbarkeit darin. In einem neuen Heim – Haus und Scheune und Windmühle, viereckig und prosaisch, eingestreut in Weizenfelder, die bis an die gänzlich schmucklose Eingangstüre heranreichten, ein unbeschatteter, unbeschützter, unbequemer Wohnsitz – fand Claire oft eine saubere Offenherzigkeit, als blickten die Bewohner geradeaus ins Leben hinein – unerschrocken. Sie hatte das Gefühl, als müßten schneidende Winde von solchen Prairie-Grenzposten der Zivilisation allen Meltau und alle Feigheit wegblasen, all den Mumienstaub veralteter Furcht und Ängstlichkeit.

Das waren keine Bauern, diese Farmer. Auch konnte sie nie mehr ohne Ärger die üblichen Witze über diese Leute anhören. Denn sie hatte sich einmal eine Stunde lang mit einem klugäugigen, gewandt sprechenden Farmer in Dakota unterhalten. Er hatte ihr erklärt, welche chemischen Veränderungen der Luzernenklee im Boden erzeugt; hatte von seiner Tochter erzählt, die auf einer Universität Nationalökonomie unterrichtete; und hatte Herrn Boltwood gefragt, wie Turbinen auf Schiffe verfrachtet werden.

Tatsächlich lernte Claire, daß es einen beinahe erträglichen Lebenszustand gäbe, ohne Gardenien und ohne die neuesten Nachrichten aus Paris.

Dann glitt sie plötzlich aus den unermeßlichen, sanftschwellenden, meilenweiten Strecken des Weizenlandes in das vergewaltigte Wunderreich der Bad-Lands, wo die Straßen sich durchwanden durch Schatten von Seilbahnpfeilern und unter den terrassenförmigen Grabmälern von Maharadjas. Während sie versuchte, zwischen einer wilden Viehherde ihren Weg zu finden, vergaß sie plötzlich zu lenken, aufgeschreckt durch das stechende Rot einer Steinsäule, die den Ort bezeichnete, wo seit Monaten tiefe Gruben voll Lignit brannten.

Claire hatte unterwegs wandernde Feldarbeiter oft ein Stückchen Weges im Wagen mitgenommen, hatte sich an dem Anblick ihrer Reisebündel gefreut, die zwischen Kotflügel und Motorhaube aufgepackt wurden und an dem Gespräch der Leute, wenn sie über Nachbarn und Ernte plauderten, während sie am Trittbrett hingen. An einer Strecke voll langer Hänge und Hügel, zwischen den Dakota Bad-Lands und Miles City, hielt sie an, um einen Mann anzurufen, dessen breiter, schwerarbeitender Rücken müde und abgerackert aussah: »Wollen Sie mitfahren?«

»Ja, sicherlich! Gerne!«

Gewöhnlich gingen ihre Gäste zu dem rechten Trittbrett hinüber neben Herrn Boltwood, und dieser Mann stand weit drüben auf der rechten Seite der Straße. Doch während sie wartete, lief er vorne am Wagen vorbei kam auf ihre Seite herüber und stieg neben ihr auf. Ehe der Wagen weiterfuhr, bereute sie, daß sie den Mann eingeladen hatte. Er sah sie grinsend von oben bis unten an, beinahe verächtlich. Seine unverschämten Augen waren hell und hart wie Achat. Die Nase darunter war ein wenig krumm, ein Mundwinkel frech in die Höhe gezogen und das eckige Kinn ganz stachelig.

Auch warteten gewöhnlich ihre Passagiere, bis sie mit der Unterhaltung begann und sprachen dann mehr zu Herrn Boltwood als direkt mit ihr. Aber dieser borstige Mann platzte sofort los, als der Wagen in Bewegung kam: »Fahren Sie weit?«

»Ja–a, ziemlich.«

»Teurer Wagen?«

»Ja –«

»Keine Angst, angehalten zu werden?«

»Daran hab ich noch nie gedacht.«

»Kanone aufgepackt, was?«

»Ich glaube, ich versteh nicht recht.«

»Kanone! Gewehr! Revolver! Haben natürlich einen Revolver bei sich?«

»N–nein!« Es war ihr ein wenig unbehaglich zu Mute. Sie bemerkte, daß seine blinzelnden Augen an ihren Hals geheftet waren. Sein Blick beschmutzte sie. Sie versuchte, irgend eine Frage auszudenken, die das Gespräch auf das weniger heikle Thema von Getreide und Ernte lenken könnte. Sie befanden sich an einer Straßenbiegung zwischen Felswand und einem seichten Tal. Die hufeisenförmig gebogene Strecke der Straße war ungefähr zehn Meilen lang. Die ungeschützte Seite fiel steil zu den Feldern ab, vierzig oder fünfzig Fuß tief. »Der Weizen da unten steht gut«, sagte sie.

»Nein. Ganz und gar nicht!« Sein Blick schien noch hinzuzufügen: »Und Sie wissen es genau – oder Sie sind eine Närrin!«

»So, ich hab nicht –«

»Fahren heut noch bis Glendive?«

»Mindestens.«

»Sagen Sie, Fräulein, wie stehts mit der Chance, ein paar Dollars von Ihnen zu pumpen. Ich hab dort weiter unten für einen Finnski gearbeitet, und der hat mir übel mitgespielt – mir den Lohn bis Ende des Monats vorenthalten.«

»Ja – hem –«

Claire war verlegen – nicht der Mann.

Er kicherte: »Gehn Sie – nicht knauserig sein! Prachtwagen – armer Mann, hat nichts zu essen, nicht einmal einen Strohsack für die Nacht. Können Sie nicht herausrücken mit ein paar Knöpfen?«

Herr Boltwood versuchte einzugreifen. Es schien ihm ebenso unbehaglich zu Mute zu sein, wie seiner Tochter. »Wir wollen sehen. Es ist zwar gegen meine Prinzipien, einem gesunden, starken Menschen wie Ihnen Geld zu geben, obwohl es mir ein Vergnügen macht, Ihnen ein Stück Weg zu ersparen –«

»Das glaub ich! Kostet Sie keinen Cent!«

»Und ich könnte Ihnen auch vielleicht helfen, Arbeit zu finden, obwohl natürlich – da ich hier fremd bin – Kommt mir aber doch merkwürdig vor, daß ein starker Mensch wie Sie, vollkommen mittellos sein sollte, wenn ich seh, daß all die Bauern hier herum Autos haben –«

Der Gast vertauschte augenblicklich seine bittende Haltung gegen ein lärmendes Prahlen: »Mittellos? Wer zum Teufel sagt, daß ich mittellos bin, he?« schnauzte er Herrn Boltwood über Claire hinüber an. Sein feuchtes Gesicht war sechs Zoll weit von ihr entfernt. Sie beugte den Kopf, soweit sie konnte, zurück. Sie war davon überzeugt, daß der Mann ihren Ekel ganz richtig taxierte, denn seine Augen tanzten vor Vergnügen, ehe er losbrüllte:

»Ich hab reichlich genug Geld! Eben weil ich zu Fuß geh – Ich brauch keine Wohltaten, von niemandem! Ich könnte die halben Bauern da auskaufen! Ich brauch kein Geld, von keinem Menschen nicht!« Es gelang ihm, sich richtig in Wut zu reden. »Wen nennen Sie da mittellos? Ich wollt nichts anderes als einen kleinen Vorschuß! Erwarte den Eingang eines Schecks. Ihr aufgeblasenen, behandschuhten Reisenden aus dem Osten, gebts Acht, wen Ihr mittellos nennt. Ich wette, ich verdien mehr Geld, als eine Menge von Euern Freunden!«

Claire überlegte, ob sie jetzt den Wagen anhalten könnte und dem Mann sagen, daß er absteigen möge. Aber – diese bissigen Augen waren zu bösartig. Bevor er abstiege, würde er Dinge sagen – verletzende, schmutzige Dinge, die ihr nie mehr aus dem Kopf gehen würden. Ihr Vater flüsterte: »Lassen wir ihn absteigen«, aber sie log sanft: »Nein. Seine Frechheit amüsiert mich.«

Sie fuhr weiter und betete, daß er von selbst seine hartherzigen Gäste im nächsten Ort verlassen würde. Der Mann tobte weiter – mit einem recht erbärmlichen Schluß: »Ich sag's Ihnen! Ich kann überall Geld verdienen! Ich bin ein famoser Mechaniker … Aber geben Sie mir doch zwei kleine Silbermünzen, auf jeden Fall.«

Herr Boltwood griff in seine Kleingeldtasche. Er hatte kein Hartgeld. Er zog eine dicke Brieftasche heraus. Ohne den Mann anzusehen, konnte sich Claire genau vorstellen, wie seine Augen glitzerten und sein Mund offen stand, als er auf den Schatz starrte. Herr Boltwood händigte ihm einen Dollarschein ein. »Da, nehmen Sie, und reden wir von was anderem«, sagte Herr Boltwood abschließend.

»Is recht, Herr. Sagen Sie, Sie haben nicht vielleicht was Hartes statt des Papierfetzens? Ich spür gern mein Geld in der Tasche.«

»Nein, ich hab's nicht.«

»Schon gut, Herr. Nichts für ungut!«

Damit ignorierte er Herrn Boltwood ganz und gar. Seine Augen waren auf Claires Gesicht gerichtet. Um nicht vom Trittbrett herunterzufallen, legte er die linke Hand auf die Seitenwand des Wagens, die rechte an die Rücklehne des Sitzes. Diese rechte Hand glitt hinter Claire. Sie konnte im Rücken die Wärme der körperlichen Berührung fühlen!

Wütend platzte sie heraus: »Bitte rühren Sie mich nicht an!«

»Herrjeh, hab ich Sie angerührt, Kindchen? Das war ja eine Unverschämtheit!« Er dehnte die Worte und verzog die breiten Lippen zu einem Grinsen.

Einen Augenblick später, als sie um eine Biegung der langen hoch angelegten Felsenstraße fuhren, gab er vor, auf dem Trittbrett mächtig zu schwanken und legte absichtlich seine schmutzige Hand auf ihre Schulter. Bevor sie etwas sagen konnte meckerte er höhnisch – bedauernd: »Heiliger Michael! 'tschuldigen, Fräulein. Ich bin beinahe heruntergefallen«.

Ruhig und ernst sagte Claire: »Nein, das war kein Zufall. Wenn Sie mich noch einmal anrühren, werde ich anhalten und Sie bitten, zu Fuß weiterzugehen«.

»Tu's lieber gleich, Mausi!« brummte Herr Boltwood. Der Mann hackte seinen linken Arm um die Seitenstütze der offenen Scheibe. Es war ein starker Arm, ein sicherer Griff. Mit der freien Hand packte er sie am linken Handgelenk. Obwohl seine Augen groteskerweise die ganze Zeit über ihr belustigtes Funkeln behielten und von kleinen Lachfältchen umrahmt waren, schrie der Mann grob und drohend: »Sie wollen anhalten, zum Teufel!« Seine Hand glitt von ihrem Handgelenk auf den Volant. »Ich kann den Wagen da ebenso gut lenken wie Sie. Sie brauchen nur eine Bewegung machen um zu stoppen und ich fahr ihn – Donnerwetter! Dort die Böschung hinunter!«

Er lenkte die Vorderräder beängstigend nahe an den äußeren Straßenrand. Herr Boltwood schielte nach der Hand am Volant. Claire blickte schnell atemholend den Hang hinunter. Wenn der Wagen durchginge, würde er vierzig Fuß tief hinabschießen – sich überschlagen. »S-Sie würden sich's nicht trauen, Sie f-fallen ja mit!« keuchte sie.

»Ja, meine Liebe, versuchen Sie's nur und machen Sie einen Unsinn! Sie werden schon sehen wie viel ich fffff–fallen werde! ich schmeiß Sie den lustigen Abhang hinunter und spring ab, rechtzeitig! Geben Sie den Fuß da weg von der Kuppelung.«

Sie gehorchte.

»Hübsche kleine Fußerln! Schuh kosten ungefähr zwölf Dollars, schätz ich. Während ein besserer Mann als Sie, oder Vater Schimmel-Gesicht dort, das Pflaster in elendem Drei-Dollar-Schuhzeug treten muß. Bleiben Sie sitzen, Sie Narr!«

Diese letzte Bemerkung galt Herrn Boltwood, der aufgestanden war – schwankend im schaukelnden Wagen – und nach ihm schlug. Mit mächtigem Arm fegte der Mann Herrn Boltwood auf seinen Sitz zurück, doch ohne ein Wort an den Vater, fuhr er zu Claire gewendet fort: »Und halten Sie ihre Hand dort, wo sie hingehört. Versuchen Sie nicht vielleicht den Schalter da anzurühren. Ach, sein Sie vernünftig! Was täten Sie dann, wenn der Wagen stehen blieb? Ich könnt Sie beide ausrauben noch bevor dieses Pracht-Vehikel den Schwung verliert. Ich will mein gutes Geld nicht auf Advokatenspesen ausgeben wegen einer – Mordanklage. Verstanden? Nehmen Sie's lieber leicht und machen Sie sich nichts daraus.« Seine Hand war ununterbrochen am Volant. Er hatte schon andere Wagen gelenkt. Er lenkte ebensoviel wie sie. »Wenn ich Sie ein Stückchen weiter auf der Straße hinaufgeführt haben werde, will ich alle kleinen Buben und Mädeln auf einen Seitenweg fahren und dem Papa alle seine Weiß-Gott-was-es-war aus der herzigen Brieftasche nehmen, und ich glaub wir werden dem Töchterchen einen Kuß geben und weiter fahren und freundlich mit der Hand winken und Euch Würzen schön zu Fuß in die nächste Stadt wandern lassen.«

»Sie würden's nicht wagen! Sie würden's nicht wagen!«

»Wagen? Huh! Das ist ja zum Lachen!«

»Man würde mir zu Hilfe kommen!«

»Tja. Sicherlich. Tatsache, da kommt uns ein Wagen entgegen. Ungefähr eine halbe Meile weiter, mach ich's, wollen Sie? Also Püppchen, wenn du einen Piepser machst – geht's dort den Abhang hinunter, alle beide tot wie ein Paar Stecknadeln. An den Felsen dort zermalmt. Verstanden? Und ich – es tat mir leid, daß der bedauernswerte Unfall so bös endete – und ich wäre eben noch rechtzeitig davongekommen. Und ich würde Papas Taschen ausleeren, während ich beim Bergen der Leichen mithelfen würde!«

Bis dahin hatte sie es nicht geglaubt. Aber sie wagte es nicht, nach dem näherkommenden Wagen zu sehen. Der seltsame Gast war es, der den Gomez an dem anderen Wagen vorbeilenkte; und er fuhr ein wenig zu nahe am Rand der Straße …, so daß sie hinunter sehen konnte, tief hinunter.

Strahlend fuhr er fort: »Ich werde den Rohstoff hier gewinnen, statt nur meine Zeit als Industriemagnat zu verschwenden und Euch da hinaufzuführen, damit Ihr Euch die Gegend anschaun könnt in dem reizenden kleinen Nebental dort an der Straße; aber hier kann man uns ringsherum von der ganzen Welt aus sehen – die Bauern im Tal und jeder der zufällig in einem Wagen hinter uns herschleicht, 's ist eine Schande, was diese Straße für Kurven macht – man sieht zu weit entlang. Tatsache ist, Ihr macht mir einen Haufen Müh. Aber dafür schenkst du mir einen Kuß, nicht wahr Gwendolyn?«

Er beugte sich kichernd zu ihr herab. Sie fühlte sein borstiges Kinn an ihrer Wange. Sie sprang auf – und schlug nach ihm. Er hob die Hand vom Volant. Eine Sekunde lang fuhr der Wagen allein. Er drückte sie mit dem Ellbogen wieder auf ihren Sitz. »Machen Sie keinen solchen Unsinn mehr, wenn Sie wissen, was gut ist für Sie«, sagte er ganz friedfertig, als er die Wagenlenkung wieder übernahm.

Sie war wie benebelt und fühlte nur des Vaters Hand, die ihre streicheln. Sie hörte hinter sich ein schnelles pit-pit-pit-pit. Kommt ein Wagen vorbei? Sie würde ihn wieder vorbei lassen müssen. Sie wollte ihre Gedanken konzentrieren, etwas herausfinden was sie – Dann: »Halloh, Leutchen! Wollen wir zusammen ein Picknick halten? Was habt Ihr da für einen lustigen neuen Freund?« rief eine Stimme neben Ihnen. Es war Milt Daggett – – der Milt, der viele Meilen weit voraus sein mußte. Sein Karren war an ihren Wagen herangekommen und lief auf der breiten Straße neben ihnen her.


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