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XXXI.
Die Küchen-Genossen

Der Salon der Gilsons war nun für Milt nichts Ungewöhnliches mehr. Es war nicht der Salon sondern die Küche, die ihn in Bestürzung versetzte.

In Schoenstrom hatte er gewußt, daß es irgendwo wunderbare »Wohnzimmer« geben müsse, aber auf seine Erfahrung in Küchen hatte er sich verlassen. Küchen waren, nach seiner Philosophie, kleine, übelriechende Räume mit nacktem Boden, einem Tisch, der mit Wachstuch bedeckt war, einem Herd, einer Stellage und einem Stoß schmutzigen Geschirrs.

Aber die Küche der Gilsons war so zweckmäßig wie ein Laboratorium und so anspruchsvoll wie ein Friseur-Salon eingerichtet. Voll Schreck und Staunen erblickte Milt Wände aus weißen Kacheln, einen mit Kork belegten Fußboden, einen Gasherd, so groß wie in einem Hotel, einen beinahe bis zur Decke reichenden Eisschrank aus emaillierten Kacheln und Nickel, mit Blech bedeckte Tische und einen Werkzeugvorrat, gleich dem Instrumentenkasten eines Chirurgen. Das erschreckte ihn; er rückte den alexandrinischen Luxus der großen Gilsons in noch hoffnungslos unerreichbarere Ferne … Die Vanderbilts mußten solche Küchen haben oder vielleicht König Georg.

Er sah die Küche bei Gelegenheit eines ganz intimen Abendessens, zu dem ihn Frau Gilson dringendst eingeladen hatte. Die Mädchen hatten Ausgang. Die Gilsons und Claire, Milt und Jeff Saxton mußten unter viel Aufhebens allein für ihr Abendbrot sorgen. Während Frau Gilson Rühreier bereitete und Kaffee kochte, deckten die anderen den Tisch und holten kalten Schinken und eine Salatschüssel aus dem Eisschrank.

Milt hatte sich vorgenommen, den schweigsamen und geschickten Diener zu spielen. Als er hörte, daß er mit dem eben zurückgekommenen Herrn Geoffrey Saxton zum Abendessen geladen sei, hatte ihn erst ein panischer Schrecken erfaßt und dann hatte er sich entschlossen, den »grimmen Saxton« hochnasig und überlegen dreinschauen zu lassen. Er mochte ruhig herumstehen und seine Kleider zeigen, wie in Flathead Lake; aber er, Milt, würde bei der Arbeit bleiben, beim Bereiten des Abendessens helfen und Jeffs Ungezogenheit einfach ruhig ignorieren.

Nur – Jeff war nicht ungezogen. Er begrüßte Milt mit einem: »Ah, Daggett! Das ist aber nett!« Und Milt konnte nichts dagegen tun. Es war Jeff, der ihm zuvorkam mit einem: »Bitte, lassen Sie mich das machen – ich bin Küchen-Expert«, und den Schinken und Salat davontrug. Jeff war es, der die Teller fand, während Milt verblüfft darüber nachdachte, wie eine einzige Familie eine ganze »Geschirrhandlung voll verschiedenartigsten Porzellans« im Gebrauch haben könnte. Jeff war es, der Claire zu Hilfe sprang, um den Teetisch hineinzufahren und so die Gelegenheit erfaßte, mit ihr zu sprechen, um die sich Milt in den letzten fünf Minuten vergebens bemüht hatte.

Als sie endlich alle bei Tisch saßen, sagte Jeff höflich zu Milt: »Ich habe kürzlich viel an Sie gedacht, Daggett. Sie hätten uns oft helfen können.«

»Wobei denn?« fragte Milt mißtrauisch, still überlegend, und wartend, um zu sehen, ob man kalten Schinken mit den Fingern essen dürfe.

»Oh, in Alaska.«

»In – Alaska?« Milt war entsetzt.

»Ja, war auf einer Geschäftsreise dort. Ich wollte da über etwas Ihren Rat einholen.«

Er war ganz bescheiden und Milt fühlte sich unbehaglich. Er murmelte: »Was war es denn?«

»Ich habe darüber nachgedacht, ob es nicht möglich wäre, in Alaska drahtlose Telegraphie zu verwenden. Wissen Sie – was könnte das kosten, einen Sender für drahtlose Telegraphie für einen Umkreis von hundert Meilen zu errichten?«

»Herrjeh! Das weiß ich nicht!«

»Oh, schade. Können Sie mir überhaupt etwas über drahtlose Telegraphie sagen, ich bin so ein Ignorant in technischen Dingen?«

»Nein, ich weiß auch nichts davon.«

Milt hatte sich verzweifelt bemüht, seine Antwort höflich klingen zu lassen. Die Unterwürfigkeit dieses Menschen war ihm noch mehr zuwider als seine Arroganz in Flathead Lake. Er hatte die Empfindung, als stießen sich die Gilsons heimlich belustigt unterm Tisch an, und als wäre Claire, trotz ihrem unveränderlichem Lächeln unglücklich … Und sie war so weit weg.

»Das macht ja gar nichts, wirklich nicht. Aber ich hab nicht gewußt – So haben Sie also Maschinenbau inskribiert auf der Universität von Washington«, bohrte Saxton weiter.

Claire schien sprechen zu wollen. Sie machte einen zarten, weiblichen – clairehaften Versuch, sich zu räuspern, aber Jeff ignorierte sie und fuhr fort:

»Sagen Sie mir doch, bitte, ob ich nicht etwas tun kann, um Ihnen behilflich zu sein. Wir stehen im Büro mit einigen Leuten Ihrer Fakultät in Korrespondenz. Kennen Sie vielleicht zufällig den Dr. Philgren?«

»Oh, ja. Hören Sie, das ist ein wunderbarer Mensch!« ließ sich Milt hinreißen, auszurufen.

»Ja. Tüchtiger Kerl, glaub ich. Er will mit uns ein Geschäft machen. Wir könnten mit ihm arbeiten. Sagen Sie ihm, bitte, einfach, daß Sie ein Freund von mir sind, und daß er Ihnen, so weit als möglich, behilflich sein soll.«

Milt stotterte ein »Danke«.

»Und jetzt – da wir doch ganz unter uns sind – wie stehts mit den Finanzen? Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein und Sie mit einigen technischen Firmen bekannt machen, von denen Sie nebstbei ein wenig Arbeit bekommen könnten; damit kann man ganz schön Geld verdienen …«

So verflucht herzlich und väterlich –

Milt sagte gereizt: »Danke, aber ich brauche keine Arbeit. Ich habe reichlich genug Geld«.

»Das ist angenehm!« Saxtons Stimme klang weich und einschmeichelnd. »Sie haben's gut. Ich hatte alle möglichen Schwierigkeiten, um durch meine Studienjahre in Princeton durchzukommen.«

Schien Frau Gilson nicht Saxtons Seidenhemd mit Milts elendem Baumwollzeug zu vergleichen und, im Lichte dieses Kontrastes besehen, sich über Milts Prahlerei und Saxtons Bescheidenheit zu amüsieren? Milt bekam einen roten Kopf. Als Saxton sich Claire zuwendete: »Noch Schinken, meine Liebe?« raste Milt gegen sich selbst. Er befand sich in einer ähnlich dramatischen und wenig wünschenswerten Situation, wie einer, der plötzlich in Pyjamas – in nicht sehr eleganten Pyjamas – auf dem Hotelkorridor ausgesperrt ist, weil seine Zimmertüre zugeschlagen ist. Er hatte eine schwache böse Ahnung von Saxtons Spiel. Aber was konnte er machen?

Er fühlte sich noch weniger am Platz, als man ihn später vergaß und über Leute redete, von denen er niemals gehört hatte.

Er saß allein auf einer unendlich weit entfernten, verlassenen Insel und aß kalten Schinken und wünschte, daß er in Schoenstrom wäre.

Claire hatte nun ihre Sprache wiedergefunden. Sie schien sich zu bemühen, ihn ins Gespräch zu ziehen, damit man ihn richtig würdigen könne.

Sie zögerte, überlegte und brachte mit hochgezogenen Augenbrauen hervor: »Eh – oh – Milt, sagen Sie, was kostet jetzt Benzin?« – – –

*

Milt verließ diese reizende und intime Abendgesellschaft um neun. Er sagte: »Muß nach Hause gehen – analytische Geometrie studieren,« als ob es eine Lüge wäre, warf Saxton ein »Gute Nacht« hin und alles, was er vorbringen konnte, um Frau Gilson eine Höflichkeit zu sagen, war: »Danke für die Einladung«. Sie begleiteten ihn überschwänglich bis an die Türe und eben, als er glaubte entronnen zu sein, fragte Saxton:

»Oh, Daggett, ich hab unlängst mit jemand darüber gestritten – Welche Farbe haben Holstein-Friesische Kühe? Rot?«

»Schwarz und weiß,« sagte Milt eifrig.

Er hörte Frau Gilson kichern.

Er stand auf der Steinterrasse und wischte sich die Stirne ab; dann ohne den geringsten Kampf, endgültig und unabänderlich sah er ein, daß er Claire Boltwood und ihre Freunde nie mehr sehen würde. Nein – niemals!

*

Er hatte von Frau Gilson eine Einladung in eine Loge in die Oper bekommen. Er hatte einen halben Tag damit verbracht, eine höflich-grobe Absage auszudenken.

Ein kleines Mädchen kam von unten aus der Zuckerbäckerei in sein Zimmer hinauf und fragte: »Sagen Sie, sind Sie Herr Daggett? Hören Sie, eine Frau will Sie telephonisch sprechen. Hören Sie, sagen Sie ihr, wir sind kein Nachrichten-Büro. Wir brauchen die Leute nicht zum Telephon herunterzuholen, aus dem Haus. Wir können nicht vom Geschäft weglaufen und in der ganzen Stadt herumrennen, um – Herrjeh, ein Nickel, herrjeh, danke, machen Sie sich nichts draus, was die Mutter sagt, sie schimpft immer.«

Am Telephon hörte er Claires aufgeregte Stimme: »Milt! Kommen Sie in die Stadt ins Imperial-Kino. Jetzt gleich, ich muß Ihnen etwas sagen. Ich werde im Vestibüle auf Sie warten. Schnell, beeilen Sie sich.«

Als er hineinsprang, war sie schon dort und wartete. Sie lief ihm entgegen und sprudelte los! »Sie haben Sie in die Oper eingeladen? Ich will, daß Sie kommen. Ich bin beinahe sicher, daß sie sich verschworen haben. Sie wollen mir zeigen, daß Sie solche Dinge noch nie gesehen haben. Schlagen Sie sie! Schlagen Sie sie! Kommen Sie in die Oper und seien Sie schrecklich reserviert und anmaßend. Sie können's! Ja, Sie können's! Und seien Sie zuversichtlich – Kommen Sie im Abendanzug. Jetzt muß ich laufen.«

»A – aber – – –«

»Enttäuschen Sie mich, bitte, nicht. Ich verlaß mich auf Sie. Oh, sagen Sie ja!«

»Ja, gut!«

Sie sprang in Gilsons Limousine. Er hatte noch nie einen Abendanzug getragen. Er nannte es Frack und für Milt und für Schoenstrom – für Bill McGolwey, sogar für den Prof. Jones und den fetten, erfolgreich aufstrebenden Heinie Rauskukle – war der Frack das Symbol und der Beweis, das Zeichen und Gehaben trügerischen Reichtums. In Schoenstrom tragen nicht einmal Kellner einen Frack; vor allem darum, weil es in Schoenstrom keinen Kellner gibt sondern nur eine Kellnerin im Leipziger Haus, Fräulein Annie Schweigenblatt.

Nein, ein Frack war das, was der Held im Film trug; und der Held im Film hatte, wenn er nicht ein Cowboy war, einen Kammerdiener und viele Gemächer. Man konnte ihn von einem Kammerdiener unterscheiden, weil er nicht so kahl war. Es ist wahr, daß Milt gehört hatte, daß es in St. Cloud Leute gäbe, die zu Gesellschaften im Frack kämen; aber dann war ja St. Cloud eine Stadt mit fünfzehn- oder sechzehntausend Einwohnern.

Wie konnte er mit einem Frack fertig werden? Er müßte sich ja verrückt vorkommen in einer tief ausgeschnittenen Weste und was, zum Teufel, sollte er mit den Schößeln machen? Rollte man sie ein oder teilte man sie auseinander, wenn man sich niedersetzte? Und würde ihm nicht jeder ansehen, daß er nicht hineingehöre in diesen Frack?

Denn natürlich würde er sich ihn nur ausleihen. Niemand kaufte einen Frack – ausgenommen vielleicht Oberbonzen, wie Henry B. Boltwood.

Er lief aufgeregt eine Stunde lang durch die Straßen und guckte in alle Modewarengeschäfte, um einen freundlich aussehenden Kommis zu erspähen. Er fand einen in »Ye Pall Mall; Kleider- und Schuh-Geschäft«; ein offenherzig aussehender junger Mann, der so strahlend aus dem Fenster sah, als dächte er daran, als Missionär nach Indien zu gehen – und als esse er gerne Pasteten. Milt bemühte sich, sein sorgenvolles Gesicht zu glätten, trat ein und fragte kameradschaftlich: »Sagen Sie, alter Freund, haben Sie in diesen Modegeschäften nicht so eine Art Katalog, wo alles drin steht, was man zum Frack trägt?«

»Ja, sicherlich«, sagte der freundliche junge Mann.

Er brachte aus einem Ladentisch eine schöne Broschüre, die mit Photographien von Phoebus Apollo illustriert war und die bezeichnet waren mit: »Amerikanische, schöne Kleider – neu, nett, nobel.« Die mittleren Seiten katalogisierten Kravatten, Manschettenknöpfe, Hemden, Perlmutterknöpfe, Schuhe, Hüte, die man zu Abendanzügen oder zu Straßenanzügen trägt, zum Reisen, Tennisspielen oder in Trauerfällen.

Bei Durchsicht fand Milt, daß seine Garderobe all diese Notwendigkeiten zur Vollendung der Toilette eines Herren schon enthielt. Doch mit Hilfe des Kommis und des Kataloges erstand er ein Hemd, dessen Brust so steif wie ein Harnisch und so gewölbt wie das Flußbett des Missouri war; eine weiße Kravatte, die in seinen kräftigen, roten Händen so dumm wie ein toter Fisch aussah; eine Weste, Brustknöpfe und Kragenknöpfe. Zum ersten Mal, mit Ausnahme von Irrsinnsanwandlungen während zwei oder drei Besuchen in Autozugehörgeschäften in Minneapolis, ergriff ihn das Kauffieber. Er kaufte noch einen zusammenklappbaren Kravattenstrecker und suchte dann seinen Weg zur Türe.

Er kaufte Pumps – die genau doppelt so viel kosteten als er sich vorgenommen hatte. Dann kaufte er eine Zeitung und fand eine Anzeige:

 

Silberfarb;

Schneider für Gesellschafts-Toilette.
Frackanzüge werden ausgeliehen.

 

Milt fand den Laden und trat ein.

»Ich will einen Frackanzug für einen Abend«, sagte er.

»Habe gerade was Passendes für Sie!«

Der kleine Mann sprang an der Reihe aufgehängter Anzüge entlang, packte irgend einen, kam zurück und legte ihn Milt an, während er murmelte: »Fein, Herr, sehr fein.«

Milt besah das spiegel-glänzende, an den Knopflöchern abgewetzte, unelegante Kleidungsstück mit Abscheu.

»Das ist ja ganz abgetragen«, brummte er.

Bei dieser Gotteslästerung warf Herr Silberfarb die Arme in die Luft, so daß der schmutzige Anzug in seinen Händen wie eine aus dem Fenster gebeutelte Bettdecke hin- und herschlug. Er warf Milt einen kalten Blick zu. Seine roten aber glänzenden Augen besagten, daß Milt ein Bauerntölpel und kein ehrlicher Träger eines Abendanzuges sei. Milt fühlte sich beschämt aber er schnauzte: »Taugt nichts. Will was Ordentliches.«

»Na, der war für einen Universitätsprofessor auf dem großen Ball gut genug, aber wenn Sie so sagen …«

In der Art eines Mannes, den man unnötig bemüht, gab Herr Silberfarb den Abendanzug auf den Kleiderständer zurück und seufzte geduldig, während er ihn sorgfältig ausbreitete. Er guckte und fühlte und brachte triumphierend ein prächtiges Ding mit Samtkragen und Samtmanchetten zurück.

»Nun also, daran gibts nichts auszusetzen, wenn Sie was Eleganteres haben wollen – und wird Ihnen wie ein Handschuh passen!«

Milt riß sich aus dem Zauberbann dieser verächtlich dreinschauenden Augen los, öffnete seine Broschüre, studierte den Katalog und fand in einer Fußnote: »Man trage niemals Samtkragen oder Samtmanchetten auf Abendanzügen.«

»Nichts da. Nix Samt«, bemerkte er.

Da wurde der kleine Mann verrückt und lief wie rasend im Kreis herum. Er warf den eleganten Anzug auf den Tisch. Er schlug in die Hände und jammerte: »Was wollen Sie eigentlich? Waaas wollen Sie? Das ist ein Frackanzug zu hundertfünfzig Dollar! Der gehörte einem der reichsten Männer der Stadt. Er hat ihn mir verkauft, weil er nach Japan gegangen ist.«

»Na, dann können Sie ihm den Anzug nach Japan nachschicken. Ich will was Anständiges. Haben Sie so was – oder soll ich wo anders hingehen?«

Sofort wurde der Schneider wieder liebevoll: »Was wär's mit einem hübschen Smoking?« schlug er vor.

»Nix. Hier heißt es – warten Sie – ja, da ist es – es heißt hier im Buch, daß man im Theater in Damengesellschaft keinen Smoking tragen soll, sondern –«

»Ach, die Leute, die diese Bücher schreiben, wissen ja nichts. Gar nichts. Das ist lauter Schwindel.«

»Na, ich glaub, ich verlaß mich auf sie. Werden doch mehr davon verstehen, als ein Flickschneider.«

»Na, Sie sind schwer zufrieden zu stellen, mein Herr, wissen Sie? Ich will Ihnen einen Anzug von meinem Reservelager geben, aber dann müssen Sie mir zehn Dollars statt fünf Einsatz bezahlen.«

Herr Silberfarb öffnete nun einen Glaskasten hinter dem Kleiderschrank und brachte einen Anzug herbei, der Milt beinahe tadellos vorkam. Auch paßte er beinahe, als er ihn anprobierte. Der Rock war ein bißchen zu weit und die Ärmel ein bißchen zu lang, doch als Milt sich in seinem Zimmer genau besah – er mußte seinen kleinen melancholischen Spiegel erst auf den Schreibtisch, dann auf einen Sessel und dann auf den Boden stellen, um eine Gesamtansicht zu gewinnen – gestand er mit aufrichtiger Freude, daß er »in der verfluchten Ausrüstung ganz gut aussah«. Sein sauberes Gesicht, sein glänzendes Haar, seine geraden Schultern schienen zu der Kleidung zu passen.

Er schlüpfte in seinen Überzieher und verließ theaterbereit sein Zimmer. Die Pumps drückten ihn abwechselnd an den Zehen oder wetzten ihn an der Ferse; die Hose schnürte ihm die Taille zusammen und er argwöhnte, daß die Kravatte auf Wanderschaft gegangen sei. Doch er schlenderte vergnügt zur Tramway und saß befriedigt dort bis –

Ein anderer Mann im Abendanzug einstieg und Milt bemerkte, daß er einen Zylinderhut auf hatte, einen weißen gestrickten Shawl umhatte und ein Paar weiße Glacélederhandschuhe aus der Tasche nahm.

Er hatte den Hut vergessen! Er trug seinen grauen Filzhut. Das mit den Handschuhen konnte er noch riskieren, aber der Hut – die Ofenröhre – und im Katalog hatte es geheißen, daß man eine tragen sollte – er war ruiniert.

Er stellte den Rockkragen auf, um seine weiße Kravatte zu verstecken, er versuchte, einen Fuß hinter dem anderen zu verbergen, damit man die Pumps nicht sehe.

Einmal schien es ihm, als ob ihn der richtige Herr in richtiger Abendtoilette ansah; da wendete er den Kopf ab. So ging es immer näher zum Theater, zur Oper, zu anderen Leuten in Zylinderhüten – zu Jeff Saxton.

Er wartete. Die Gilson-Gesellschaft war noch nicht im Foyer als er ankam. Er riß seinen Überzieher herunter und breitete ihn über den Filzhut. Als er die ungewohnt weiße Front seiner Hemdbrust hinabsah, kam er sich nackt und unanständig vor …

Er ertrug sein Märtyrertum bis seine Gesellschaft ankam: die Gilsons, Claire, Jeff Saxton und eine glitzernde junge Frau, deren Name Frau Corey zu sein schien.

Und Saxton trug keinen Zylinderhut! Milt richtete sich erleichtert auf und folgte ihnen durch die mannigfachen Gefahren des Foyers, durch eine drohende Reihe von Menschen mit gaffenden Gesichtern, bis zu einem roten Korridor, einer gewundenen Treppe, einem geheimen Gang, einem mysteriösen, dunklen Kämmerchen – und er schritt in einen Raum hinaus, dem eine Seitenwand fehlte und auf dieser Seite waren zehn Millionen Menschen in einem Brunnen, von denen neun Millionen ihn anstarrten und bemerkten, daß er einen ausgeliehenen Frack hatte.

Einmal sicher auf seinem närrischen kleinen Stühlchen im entferntesten Winkel, fühlte er sich besser. Nur daß Jeff jetzt ein Paar weiße Glacéhandschuhe anzog, aber sonst konnte Milt nicht finden, daß sie beide sich merklich voneinander unterschieden. Und die beiden Herren in der Nachbarloge trugen keine Handschuhe. Nachdem sich Milt dessen vergewissert hatte, sah er Claire an und fühlte sich durch ihr aufrichtiges Lächeln erleichtert.

Es fiel ihm etwas ein – was war es nur? Ja! Als er in Schoenstrom in der Mühle gearbeitet hatte, mit achtzehn Jahren, als Ingenieur, hatte der Besitzer versucht, ihn zu sekkieren, und Milt hatte gefunden, daß das einzige Mittel, das ihn retten konnte, war, einfach zu lächeln, als ob er mehr wüßte, als er sagen wollte.

Warum nicht …

Saxton beugte sich zu ihm und fragte zuckersüß:

»Finden Sie nicht auch, daß die neue Schule in der Musik die bloße Kakophonie fälschlich für Kraft hält?«

Milt lächelte väterlich.

Saxton wartete auf eine weitere Äußerung. Er bohrte den Nagel seines rechten Mittelfingers in die Handfläche, sah nachdenklich aus und griff neuerlich an:

»Ziehen Sie eigentlich die neue italienische Musik oder die orthodoxe deutsche vor?«

Milt lächelte wie zwei gute Onkels, die einen klugen Jungen ansehen und gab Saxton ein gönnerhaftes: »Sie haben beide ihre Vorzüge.«

Jetzt bemerkte Milt, daß Claire böse war und daß die Gilsons und Frau Corey mit gespitzten Ohren, offenem Mund und weit vorgebeugt ihren kleinen Jeff bewunderten. Saxton sah übel gelaunt aus. Dann wackelte Frau Corey mit dem Kopf und flehte Milt an: »Bitte sagen Sie mir, wovon handelt diese Oper heute. Ich habe es vergessen.«

Milt hörte auf zu lächeln. Während alle ihn gespannt ansahen, sagte er laut und ruhig: »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich verstehe gar nichts von Musik. Ich hoffe, daß ich eines Tages eine kluge Frau finden werde, wie Sie, Frau Corey, die mir helfen wird. Ich wollt, Sie würden mir diese – Ouvertüre, heißt es, glaube ich – nicht? – erklären.«

Aus irgendeinem Grund fing Herr Gilson zu kichern an, Frau Corey errötete und Claire sah sehr befriedigt aus. Milt hatte das Gefühl, daß es das Beste wäre, diesen anscheinend sicheren Zustand aufrecht zu halten, lehnte sich zurück und lächelte wieder, als ob er wartete. Frau Corey erklärte die Ouvertüre nicht. Sie beeilte sich, Frau Gilson ihr zweites Stubenmädchen zu erklären.

Die Oper, die man gab, hieß » Il Amore dei Tre Re«. Milt war verwirrt. Für ihn, der noch niemals eine Oper gesehen hatte, schien die Konvention, daß ein Mädchen einen Mann nicht hören kann, der zehn Schritte weit von ihr aus Leibeskräften schrie, absurd; und er wünschte, die Sänger täten noch etwas anderes, als bloß ihre Arme herumschwingen.

Er entdeckte, daß, wenn er seinen Stuhl ein kleines Stückchen vorrückte, er Claire auf einen Zwischenraum von einem Fuß nahekommen konnte. Seine Hand glitt hinüber und berührte die ihre. Sie warf einen erschreckten Blick zurück. Ihre Finger schlossen sich fest um die seinen und schlüpften dann vollständig in seine Hand – und Milt schwamm in Seligkeit. Was wirklich auf der Bühne vorging, verstand er nicht, ebensowenig, was und wie eigentlich gesungen wurde; aber es trug ihn über alle Wirklichkeit hinaus, mit Ausnahme des süßen, sicheren Glücks, von Claires sanft ruhender Hand. Er hielt ihre Finger so fest umschlossen, daß er das Blut darin pulsieren fühlte.

*

Als der Zauber gewichen war, sagte er sich ernstlich: »Wie lange werde ich das aushalten können? Früher oder später werde ich einmal losplatzen und Klein Jeff eins in die Fresse haun und er wird mich klagen und ich werde Claire nie mehr sehen dürfen. Ich glaube, ich werde ordinär. Der Bursche Michael in ›Jugendbegegnungen‹ hätte niemals ›Fresse‹ gesagt. Aber das ist mir egal – Wenn ich dem Saxton eine herunterhau – dann fürcht ich mich auch vor dem Bereich der Glacéhandschuhe nicht mehr. Mein Kopf ist so gut wie der ihre, sie sollen mich nur probieren lassen. Aber ach, sie sind alle gegen mich. Und dann stellen sie Athletik-Vereins-Kampfregeln auf, wo: schlagen, stoßen, drücken, an den Haaren reißen, würgen und ziehen verboten ist. Wie lange werde ich so noch aushalten, gutmütig zu bleiben? Wenn ich einmal losbreche …« Langsam unter der moralischen Manchette seines gestärkten Hemdes schloß sich Milts Faust zu einem harten, braunen, breitknochigen Ballen und kam mit der Gebärde eines Hiebes – direkt unter dem Kinnladen – empor. Aber nur einen Fuß hoch. Dann öffnete sie sich und kletterte zu Milts Gesicht hinauf, rieb seine Schläfen, während er seufzte:

»Nein, nichts da. Kann nicht einmal mehr das tun. Hab nun schwereres zu tun. Früher könnt ich die Dinge mit einem Schlag erledigen. Aber jetzt muß ich – diplomatischer vorgehen. Oh Gott, wie ich mich allmählich nach Bill McGolwey sehne. Nein. Das ist nicht wahr. Ich könnte es mit Bill jetzt nicht mehr aushalten. Claire hat das alles in mir verändert. Wo bin ich nur, wo bin ich nur? Warum hab ich nur jemals einen Wagen genommen, der 36×6 hat?«


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