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XXVII.
Die Tücke hübscher Dinge

»Was hältst du von meinem netten Jungen Milt Daggett?« fragte Claire Eva Gilson, sobald der Frühstücksempfang vorbei war.

»Welcher war denn – Oh, der Junge, den du unterwegs kennen gelernt hast? Ja, ehrlich gesagt, er ist mir nicht besonders aufgefallen. Ich hätte mir, nach der Art wie du ihn geschildert hast, eher vorgestellt, daß er furchtbar lustig und auffallend stark und etwas ungeschliffen sei. Aber er ist mir überhaupt nicht aufgefallen. Er scheint vollkommen wohlerzogen, nur ein bißchen schwerfällig zu sein.«

»Nein, das ist er eigentlich nicht – Er ist …« überlegte Claire.

»Ich glaube, wir hätten die Belle Torrens einladen sollen,« sagte Frau Gilson bekümmert. »Wir müssen sie einfach nächstens einladen.«

Herr Gilson dachte tief nach: »Aber sie ist die langweiligste Person von der Welt und ihr Mann verbringt seine ganze Mußezeit damit, sich den Kopf zu zerbrechen, wie er mir im Geschäft Ungelegenheiten machen kann. Ja, übrigens hast du den Wasserhahn im blauen Zimmer richten lassen? Er tropft die ganze Zeit.«

»Nein, ich hab vergessen.«

»So, aber ich möchte sehr gerne, daß du bald dafür sorgst. Er tropft ununterbrochen.«

»Ich weiß. Ich wollte dem Installateur telephonieren – Kannst du ihm nicht morgen vom Büro aus telephonieren?«

»Nein, ich hab keine Zeit, mich darum zu kümmern. Aber bitte, tu du es. Es tropft in einem fort …«

»Ich weiß, es schaut aus, als wollt es überhaupt nicht mehr aufhören. Bitte erinner mich morgen früh noch einmal.«

»Ich fürcht, ich werde vergessen. Schreib dir's lieber auf. Wenn es so weiter tropft, kann noch ein Schaden entstehen. Und bitte sag dem Koch, daß er nicht so viel Petersilie in die Omelettes geben soll. Und hör mal, wie wär's denn, wenn man braune Butter über die Omelettes gießen würde?«

»Oh nein, nicht gut, glaub ich. Ein Omelette soll schön glatt und trocken sein. Butter macht sie so fett – und Butter ist außerdem jetzt so teuer …«

»Aber Butter macht sich gut … Schreib dir das auf, wegen des Wasserhahns im blauen Zimmer, lieber gleich, sonst vergißt du's wieder. Oh, warum, um Himmels willen, haben wir nur Johnny Martin einladen müssen? Er ist so langweilig wie abgestandenes Wasser …«

»Ich weiß, aber – es ist so hübsch in seiner Villa draußen. Oh, Gene, wenn du nur versuchen wolltest, daran zu denken, nicht immer so viel vom Geschäft zu reden. Du und Herr Martin habt mindestens eine halbe Stunde lang über Holzpreise gesprochen …«

»Gar nicht wahr. Nur ganz flüchtig erwähnt. Oh, welchen Wagen willst du Nachmittag nehmen? Wenn wir zu den Barnetts gehen, können wir, hab ich gedacht, die Limousine nehmen – oder nein, du wirst wahrscheinlich vor mir fortgehen, ich muß noch einige Listen nachschauen, kannst du nicht das Elektro nehmen, vielleicht willst du selbst fahren, nein, ich hab vergessen, der Hebel ist ja nicht ganz in Ordnung, na du kannst ja ausfahren und mir den Wagen zurückschicken – aber das wird wieder mit der Zeit nicht ausgehen …«

Claire hörte zu, wie bei einem Theaterstück und hatte plötzlich das Verlangen aufzuschreien: »Oh, um Gottes willen, hört doch auf mit dem unnützen Getue! Ich will selbst hinaufgehen und mich beim Wasserhahn im blauen Zimmer ertränken. Was liegt denn dran! Geht zu Fuß! Fahrt mit der Tramway! Aber macht nicht so ein Getue!« Sie war zornig, weil sie sich schuldig fühlte. Ja, Milt hatte sich wie jeder beliebige Durchschnittsmensch benommen. Hatte sie das aus ihm gemacht? Hatte sie seine fröhliche Unwissenheit in wohlbedachte Stumpfheit verwandelt? Und sie selbst war verdrießlich, fühlte sich benommen und glaubte zu viel gegessen zu haben. Sie sehnte sich darnach, draußen zu sein, auf der Landstraße, mit klarem Kopf ihren eigenen Weg suchen zu müssen, ein unabhängiges, lebendiges Geschöpf – und Milt nicht allzuweit hinter sich zu haben.

Frau Gilson summte: »Ich finde Mattie Vincent so nett.«

»Ich würde eher meinen, etwas langweilig«, gähnte Herr Gilson.

Mattie war die siebente von den heutigen Gästen, die er bisher als langweilig bezeichnet hatte.

»Ganz und gar nicht – oh, natürlich tanzt sie nicht auf Tischen und zitiert nicht Maeterlinck, aber sie hat einen Instinkt für alles Hübsche und Angenehme – ihr kleines Haus ist reizend – alles ganz so wie es sein soll – es mag nur eine einzige Rose sein, aber sie ist immer sorgfältigst gewählt, um zu allem anderen zu passen; und das wunderbare Porzellan – ich vergehe einfach vor Neid, jedesmal wenn ich die Teller sehe. Sie hat auch so eine feine Art, jede kleine Geschmacklosigkeit taktvoll auszusetzen – damals wie der verrückte Universitätsprofessor hier heraußen war und von der radikalen Arbeiterbewegung gesprochen hat, da lächelte Mattie ihm nur freundlich zu und sagte: ›Verzeihen Sie, aber wir wollen doch schmutzige Holzknechte nicht in die Salons zerren – es wäre ihnen ebenso unangenehm wie uns, glauben Sie nicht auch, eigentlich?‹«

»Ach, verdammt alles feine Porzellan! Oh, zum Teufel mit allen alten Jungfrauen, die freundlich auszusetzen verstehen«, tobte Claire innerlich. »Und insbesondere und am meisten verflucht, alle verlogene Verfeinerung des Lebens!«

Sie versuchte den Lauf des leeren Gilson-Geplappers zu unterbrechen. Heimtückisch überfiel sie Herrn Gilson mit der einschmeichelnden Frage:

»Geht nicht etwas wirklich Aufregendes bei Euch im Werk vor, Gene?«

»Aufregendes?« fragte Herr Gilson ungläubig. »Nein, was meinst du?«

»Ist das Geschäft nicht an und für sich etwas Aufregendes? Wozu treibst du's sonst?«

»Oh, jaaa – natürlich – doch – aufregend in seiner Art. Aber die Einzelheiten würden dich langweilen.«

»Ja«, sagte Claire, aber bei sich dachte sie: Oh, ewiger, geistiger Todeskampf um blaue-Zimmer-Wasserhähne, ist ein zu hoher Preis sogar für Himmelbetten. Ich will fahren! Wandern! Leben!

An diesem Nachmittag, nachdem sie sich darüber geeinigt hatten, daß Herr Johnny Martin unerträglich langweilig sei, entschlossen sich Herr und Frau Gilson, zu Herrn Johnny Martin auf Besuch zu fahren. Sie nahmen die willenlose Claire mit.

Herr Martin war ein wenig-unterhaltlicher Junggeselle, der eine Unterhaltung gab; als die Gilsons ankamen, waren schon etwa ein Dutzend anmaßende junge Ehepaare in seiner Villa an der Bucht anwesend. Unter anderen waren auch zwei junge Matronen mit hochgezogenen Augenbrauen, die Claire noch nicht kennen gelernt hatte – Frau Corey und Frau Betz.

»Wir haben schon so viel von Ihnen gehört, Fräulein Boltwood«, sagte Frau Betz. »Sie kommen aus dem Osten, nicht wahr?«

»Ja«, warf Claire schnell hin und bemühte sich, einen herzlichen Ton anzuschlagen.

»Aus New-York?«

»Nein. Brooklyn.« Claire bemühte sich, die Antwort nicht allzu kurz klingen zu lassen.

»Oh.« Frau Corey sagte freundlich – viel zu freundlich – »Ich bin in New-York geboren. Ich möchte gerne wissen, kennen Sie die Dudenants?«

Nun kannte Claire zwar die Dudenants. Sie hatte mit dem jungen Esel, dem Don Dudenant Dutzende Male getanzt. Aber der Teufel ritt sie, und zu Eva Gilsons Entsetzen sagte Claire einfältig: »N–nein, aber ich glaube, ich habe den Namen schon gehört.«

»Ich hab gehört, Sie haben so interessante Sachen gemacht – chauffiert und Abenteuer aller Art bestanden – Sie müssen ja entsetzlichen Leuten unterwegs begegnet sein«, versucht Frau Betz herauszuholen.

»Ja, jeder scheint das hier zu glauben. Aber ich muß gestehen, mir haben die Leute wunderbar gut gefallen«, brauste Claire auf.

»Ich sage immer, daß gewöhnliche Leute oft erstaunlich angenehm sein können,« sagte Frau Corey gönnerhaft. Ehe Claire sie umbringen konnte – es war eben keine häusliche Waffe zur Hand, ausgenommen ein silberner Teeseiher, wirbelte Frau Corey weiter: »Obwohl ich eigentlich glaube, daß wir viel zu gut zu den Arbeitern und all den Leuten sind – ihre Stellung hier im Westen wird langsam unerträglich und, mein Wort darauf, wenn man sich heute ein Mädchen halten will, muß man sie wie eine Gräfin behandeln.«

»Warum sollten Mädchen nicht wie Gräfinnen sein? Sie sind eigentlich viel wichtiger«, sagte Claire zuckersüß. Es kann nicht behauptet werden, daß Claire einen großen Teil ihrer Zeit auf die Lektüre von Karl Marx verwendet hätte oder Demonstrationsversammlungen von Arbeitersyndikaten geführt hätte oder rote internationale Fahnen genäht – doch in diesem Augenblick war sie absolut revolutionär. Sie hätte Frau Corey und die hübsche Frau Betz sofort hinrichten lassen können; sie haßte die ganze Bourgeoisie; sie sah sich nach einem japanischen Diener um, den sie hätte »Kamerad« nennen können und wieder dachte sie an die Möglichkeit, den Teeseiher als Mordwerkzeug zu gebrauchen.

»Sie haben vorhin von den Dudenants gesprochen, Frau Corey, nicht wahr?« Ich erinnere mich ihrer jetzt. Der arme Don Dudenant, ist es nicht schade, daß er so ein Narr ist? Sein Vater ist wirklich ein ganz anständiger, alter Fadian.«

»Ich«, bemerkte Frau Corey in ehrlichem Entsetzen, »halte die Dudenants für außerordentlich liebe Leute. Ich kann mir nur vorstellen, daß wir von verschiedenen Familien sprechen. Ich meine die Dudenants aus Manhattan, nicht die Familie in Brooklyn.«

»Ach ja, ich meinte auch die Familie in Manhattan – die ihr Vermögen gemacht hat durch den Verkauf schlechter Wollwaren während des Bürgerkriegs«, schmeichelte Claire. Die Gilsons hatten über das Thema eines taktvollen Benehmens ihre eigene Meinung, die sie Claire auf dem Heimweg mitteilen wollten. Aber sie, die immer gelächelt hatte, die stets ein folgsamer, nachgiebiger Gast gewesen war, zuckte nur die Achseln und rief: »Das sind Idioten! Diese jungen Frauenzimmer sind unverschämte Ladenmädchen in guten Kleidern. Euer Seattle gefällt mir. Die Stadt ist herrlich. Und ich mag all die feinen, einfachen, richtigen Menschen, die ich hier kennen gelernt habe. Ich bewundere Euren Fortschritt. Ich weiß, wie wunderbar es ist, was Ihr aus dieser Bergwerksstadt alles gemacht habt. Aber, um Himmels willen, vergeßt doch nicht die gute, gewöhnliche Kraft und Derbheit eines Bergarbeiters. Soziale Londoner Unterschiede scheinen in amerikanischen Städten, die vor zwanzig Jahren noch nicht viel mehr als Bretter-Gehsteige und Kneipen hatten, irgendwie lächerlich. Es ist mir einerlei, ob es nun Seattle oder Minneapolis oder Omaho oder Denver ist, ich will mir über die Fürstin von Corey und die Baronin Betz und all die anderen Imitations-Vergoldungen nicht den Kopf zerbrechen. Wenn ein paar Schlager-Leute, die eben ihre Schule absolviert haben, Eindruck auf mich machen wollen mit ihrer Überlegenheit den Arbeitern gegenüber und ihrem betonten Aristokratismus und ihrer Östlichkeit, so langweilen sie mich nur. Ich bin der Osten!«

Abends schloß sie mit den Gilsons wieder Frieden und zeigte sich ihren Gastgebern gegenüber reuig, aber in ihrem Herzen wärmte sie sich an einem lieben Gedanken. Sie entsann sich eines lustigen Versprechens, das sie Milt einmal draußen auf der Landstraße gegeben hatte, daß sie ihn in seinem Zimmer besuchen kommen und für ihn kochen wollte. Sie dachte voll sehnsüchtigen Verlangens daran. Sein Zimmer würde wohl nicht besonders repräsentabel sein und sie zweifelte daran, daß er einen elektrischen Kochherd besäße; aber es wäre lustig, wieder einmal Eier zu braten, ihn wieder einmal beim Geschirrabwaschen zu sehen, zu plaudern und goldene Zukunftspläne zu schmieden und sich nicht um die Meinung einer Frau Corey und Frau Betz zu kümmern. Am nächsten Nachmittag war die Limousine frei und Claire entlieh sie samt dem hübschen griechischen Chauffeur. Sie gab ihm Milts Adresse, unweit der Universität.

Er widersprach: »Verzeihung, Fräulein, ich glaube, das stimmt nicht. Diese Nummer gehört zu einem Häuserblock in einem ganz billigen Stadtviertel«.

»Schon möglich! Aber die Adresse ist richtig!«

Er zog seine athenischen Augenbrauen hoch und sie erkannte, was für ein Mißgriff es gewesen war, den todbringenden Teeseiher nicht mitzunehmen. Als sie vor einem kleinen Zuckerbäckerladen anhielten, öffnete der Chauffeur die Wagentüre mit so kühler Reserviertheit, daß sie ernstlich daran dachte, ihm ins Gesicht zu schlagen. Sie kletterte die übelriechende, wackelige Treppe hinauf und klopfte an die erste Türe im oberen Stockwerk. Eine große Schürze öffnete, zu der als unwichtige Beigabe eine schläfrige Frau gehörte, und aus dieser Masse von Schürze und Frau kam ein gähnendes: »Herrn Daggetts Zimmer ist unten am Korridor rechts«. Claire klopfte an einer Türe, die in verschiedenen Zeitläuften blau, gelb, rosa und jetzt alles drei war. Keine Antwort. Sie probierte die Klinke und trat ein.

Sie wußte nicht, ob es die Nacktheit des Zimmers oder Milts Sorgfalt war, die ihr auffiel. Der teppichlose Boden war sauber gefegt. Er besaß nur einen Teller, einen Löffel, aber sie waren abgewaschen und auf eine kleine Stellage geräumt, die mit Zeitungspapier bedeckt und aus einer Seifenschachtel hergestellt war. Hinter einem Kattunvorhang war sein neuer Anzug auffallend sorgsam aufgehängt. Am Rande der eisernen Abwaschvorrichtung war ein kürzlich gewaschener und zum Trocknen ausgebreiteter alter Fetzen.

Bei diesem Anblick, bei der Vorstellung wie Milt feierlich-ernst sein Geschirr wusch, stiegen ihr die Tränen langsam in die Augen.

Sie stürzte ins Zimmer, warf sich auf das krachende Bett und heulte:

»Oh, ich war ein Vieh – ein Vieh – ein Vieh! All die hübschen Sachen – Limousinen und Steinbadewannen – mich so viel damit zu beschäftigen und sie nicht für ihn zu wünschen! Und er hat so wenig, beinahe nichts – er, der schöne Sachen so gut zu schätzen verstünde – hier in dieser Höhle, und macht sie noch so erträglich wie möglich – und ich schämte mich seiner beinahe, statt für ihn zu kämpfen – ich paß zu Frau Corey und Frau Betz. Ach, ich schäm mich so, schäm mich entsetzlich!«

Sie strich das Bett wieder glatt mit zitternden Händen.

Sie war noch kaum fünf Minuten wieder zu Hause, hatte sie ihm schon eine Einladung geschrieben, in der sie ihn für den nächsten Tag zum Tee bat.


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