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XXII.
Über das Dach der Welt hinaus

Claire half Dlorus beim Anziehen, bereitete das Abendessen aus grünem Bete-Salat, Kartoffeln und einer Forelle, und sie hinderte Dlorus, teils durch Strenge, teils durch Freundlichkeit, allzuhäufig zur Schnapsflasche zu greifen. Milt hatte die Forelle gefangen, Holz geholt und Pinkys verlassene Bergmanns-Werkzeuge in einem Schuppen verwahrt. Sie starteten um acht Uhr abends nach Nord-Yakima. Dlorus schluchzte am Notsitz des Wagens, und abwechselnd flüsterte sie, nur für aufmerksame Ohren vernehmbar, vor sich hin, was sie den ›alten Hennen‹ wohl alles erzählen würde.

Milt widmete sich vollständig der Aufgabe, die Riesenkatze von einem Wagen dazu zu bewegen, vorsichtig die schlüpfrigen Regenfurchen des Weges hinunterzutrippeln und Claire fuhr im Geiste mit ihm. Jedesmal, wenn er die Fußbremse berührte, fühlte sie die Anspannung im eigenen Fußknöchel.

Eine Meile weiter unten auf der Landstraße hielten sie bei einem Postamt an, um Herrn Boltwood und Dr. Beach zu telephonieren. An der Türschwelle stand ein Mann in Overalls und hohen Schnürschuhen. Er war schlank und hatte kurze, schnelle Bewegungen. Als er den Kopf hob und seine Augengläser aufleuchteten, packte Claire Milts Arm und keuchte: »Du lieber Gott, meine Nerven sind in einer feinen Verfassung! Jetzt hab ich einen Augenblick lang geglaubt, daß dies Jeff Saxton ist. Ich wette, es ist sein Astralleib.«

»Und Sie haben geglaubt, daß er Ihnen verbieten wird, auf diese verrückte Expedition davonzulaufen, und da haben Sie Angst gehabt«, kicherte Milt, während sie im Wagen saßen.

»Natürlich, ja! Und eigentlich hab ich noch immer Angst! Ich weiß, was er nachher alles sagen wird! Er ist hier und bringt immerfort Vernunftgründe vor. Sollte ich nicht vernünftig sein? Sollte ich Sie nicht bitten, mich erst bei den Beaches abzugeben, bevor Sie weiterfahren – hübscher Ausflug, eine fremde Frau zu ihrem vermutlichen Ehegatten zu bringen! Warum fehlt es mir denn an allem gesunden Menschenverstand? So hören Sie doch nur, was Jeff sagt!«

»Natürlich sollten Sie zurückgehen und mich allein weiterfahren lassen. Vollkommen verrückt, Sie …«

»Aber Sie möchten gerne, daß ich mit Ihnen komme, nicht wahr?«

»Ich möchte gerne? Es ist unsere letzte gemeinsame Fahrt und dieser verdammte alte Dichter Browning hat niemals an eine gemeinsame Mitternachtsfahrt über die Dächer der Welt hinaus gedacht. Nein, es ist eigentlich unsere erste gemeinsame Fahrt und morgen sind Sie fort.«

»Nein, ich werde nicht fort sein, aber –« und sich plötzlich dem erstaunten Mann in Overalls auf der Türschwelle zuwendend, erklärte sie: »Sie haben ganz recht, Jeff. Und Milt hat unrecht. Verrücktes Abenteuer! Nur ist es wunderbar, für verrückte Abenteuer noch genug jung zu sein. Über Abgründe hinsausen, ist viel interessanter, als über Brücken zu fahren. Ich gehe – gehe – gehe! … Milt, telephonieren Sie.«

»Glauben Sie nicht, daß es besser wäre, wenn Sie es täten?«

»Nein, mein Herrchen! Vater würd es verbieten. Versuchen Sie nicht, mit ihm zu sprechen … sagen Sie Herrn Dr. Beach eben nur, wohin wir gehen, und hängen Sie auf und laufen Sie!«

Sie fuhren die ganze Nacht; die andere Seite des Blewett-Passes hinunter, dem Pazifischen Ozean zu; die weiten Spiralen hinab ins Tal. Dlorus schlummerte auf ihrem Notsitz. Claires schlaftrunkener Kopf schaukelte in phantastischer Weise hin und her. Sie wurde aufgeschreckt durch ein nahendes Brausen und, als säße sie im Kino, sah sie einen großen Rennwagen auf sie zukommen und vorbeisausen, zwei Räder im Straßengraben. Sie hatte nur den Eindruck eines gewitterartigen Aufblitzens der unwahrscheinlichen Gestalt des Fahrers: eine dunkle, romantische Figur in einer Haube, wie ein Matrose am Steuer in einem Sturm.

Milt schrie: »Mein Gott! Ein transkontinentaler Rennfahrer, wahrscheinlich! Wird in fünf Tagen in New-York sein – fährt Tag und Nacht durch – mit fünfzig pro Stunde durch den Kot – bester Mechaniker von der ganzen Fabrik – wechselt ein Rad in drei Minuten aus – Leute bleiben die ganze Nacht auf und warten, um ihm Benzin und ein Sandwich zu geben! Das ist meine Traumvorstellung von einem Riesenspaß!«

Claire beobachtete Milts beschattetes Gesicht und überlegte: »Er könnte es auch. Am Volant sitzen, Gefahren und gute Straßen mit demselben Gleichmut hinnehmen. Oh, er ist … na, jedenfalls ist er ein lieber Kerl.«

Aber, was sie laut sagte, war:

»Für Sie, Milt, wird das Leben jetzt weniger dramatisch werden. Trigonometrie wird von nun an Ihre Traumvorstellung von einem Riesenspaß sein; Blaupausen und technische Lehrbücher.«

»Ja, ich weiß und ich werd es auch machen. Werde die Arbeit von vier Jahren in drei – oder in zwei machen. Ich werde mir Tabellen und Formeln an die Wand meines elenden Studierzimmerchens hängen und werde beim Rasieren lernen. Oh, ich werd mir's schon einpauken! Aber ich werde auch Fox-trot tanzen lernen! Wenn Amerika in den Krieg eintritt, geh ich zum Ingenieurkorps und komme nachher wieder auf die Schule zurück.«

»Werden Ihre finanziellen Mittel …«

»Ich werde schreiben, daß man meine Garage verkaufen soll. Rauskukle wird sie nehmen. Er wird den Preis drücken und mich höchstens um tausend Dollars betrügen – nicht viel mehr.«

»Sie werden gern in Seattle sein. Und wir Beide werden ein paar schöne Ausflüge zusammen machen, solange ich dort bin.«

»Wirklich? Werden Sie mit mir kommen wollen?«

»Glauben Sie auch nur einen Augenblick lang, daß ich meine Liebe für Freiluft und Abenteuer aufgeben werde? Wenn Sie mich nicht holen kommen werden, werde ich Sie aufsuchen und zwingen mitzukommen!«

»Warne Sie, werde wahrscheinlich in irgendeiner schlechten Bude wohnen.«

»Wahrscheinlich. Und man wird über schmutzige Stiegen hinaufsteigen müssen. Ich werde die Stiegen kehren. Ich werde Ihnen das Abendessen kochen. Ich kann doch mancherlei machen, nicht? Ich bin auch mit Dlorus fertig geworden, nicht?«

Er flüsterte: »Claire, Liebste!« Da wechselte sie plötzlich den Ton, und Widerklänge von Brooklyn Heights wurden vernehmbar, als sie schnell hinzufügte: »Sie verstehen doch, nicht wahr? Wir wollen – eh – gute Freunde sein.«

»Ja.« Er fuhr sehr schnell und schweigsam.

Obwohl sie die dunkle Straße zu verschlingen schienen, obwohl die Felsen am Straßenrand, aufblitzend im huschenden Schein der Lampen, auf sie einstürzen wollten, obwohl sie bis in alle Ewigkeit weiterfuhren, wie gejagt von einer Nachtmahr, fühlte sich Claire geborgen, schmiegte sich behaglich in die sie umgebende Sicherheit. Ihr Kopf fiel auf Milts Schulter. Er legte seinen Arm um sie, seine Hand um ihre Taille. Halb im Schlaf überlegte sie, ob sie es gestatten sollte. Sie hörte sich noch leise murmeln: »Tut mir leid, daß ich so grob war, wie Sie so grob waren«, und ihre kalte Wange entdeckte, daß die glattgewetzte Schulter seines alten, blauen Rockes angenehm warm war und sie überlegte noch ein bißchen die Frage von Hand und Taille und – sie war eingeschlafen.

Sie erwachte verwirrt und sah, daß die Dämmerung langsam herangekrochen war. Während sie geschlafen hatte, schien Milt seinen Arm von ihr weggezogen zu haben; er hatte von irgendwo eine Reisedecke für sie hervorgezerrt. Hinter ihnen schlummerte Dlorus, den weichen Mund weit offen. Claire fühlte das Behagen der aufgestapelten Wärme unter der Decke; sie streckte wohlig die Beine und stellte sich Milt vor, der die ganze Nacht durchgefahren war, steif, unermüdlich, unpersönlich wie der Lokomotivführer eines Nachtexpreßzuges.

Sie kamen um die Frühstückszeit nach North-Yakima und fanden das Haus des Herrn Kloh, ein sauberes, nacktes, mausgraues Häuschen, mit einem netten, schmalen Vordergärtchen und einem Hinterhof. Dlorus war wach und wenn sie nicht gähnte, gab sie sich mit Vergnügen hysterischen Übertreibungen hin.

»Fräulein Boltwood«, jammerte sie kläglich, »Sie werden dort hineingehen, ihn vorbereiten und gute Stimmung machen?«

Milt bat: »Lassen Sie mich das lieber tun, Claire.«

Sie sahen einander gerade ins Gesicht. »Nein, ich glaube, ich mach's selber«, entschied sie.

»Recht so, Claire, aber – ich wollt, ich könnte mehr für Sie tun.«

»Ich weiß!«

Er hob ihren steifen, kalten, kleinen Körper vom Wagen. Seine Hände unter ihren Armen, hielt er sie einen Augenblick lang am Trittbrett, ihre Augen in gleicher Höhe mit den seinen. »Kleine Schwester – mutiges, tollkühnes, kleines Schwesterchen!« seufzte er. Er ließ sie langsam auf den Boden nieder.

Claire klopfte an der Hintertüre. Ein kahler, müder Mann mit einer Schürze, die in der Kniegegend sehr naß war, kam öffnen. Der Küchenboden war eingeseift und eine Reibbürste schwamm inmitten großer Wasserlachen. Ein ziemlich schmutziges Kind hing an seiner Hand. »Bin eben beim Saubermachen, Madam. Bin nicht sehr geschickt dabei. Ich hoffe, Sie sind nicht die Dame von der Kinderfürsorgeinspektion. Willy schaut so unordentlich aus, aber ich kann wirklich keine Zeit finden, die Kleider zu waschen, doch der Bub ist mein Alles in der Welt. Um was handelt es sich? Wollen Sie hereinkommen, bitte?«

Claire knöpfelte dem Knaben die Hosenträger an, bevor sie sprach. Dann:

»Herr Kloh, ich will ganz aufrichtig mit Ihnen sein. Ich habe Nachricht von Ihrer Frau. Sie ist unglücklich und sie liebt und bewundert Sie mehr als irgend einen anderen Menschen auf der ganzen Welt; und ich glaube, sie möchte zurückkommen – sie sehnt sich so nach dem Kind.«

Der Mann wischte sich seine roten Hände ab. »Ich weiß nicht – ich wünsch ihr nichts Schlechtes. Das Malheur war, ich bin ein bißchen langweilig. Ich glaub, ich hab's nicht verstanden, für ihre Unterhaltung zu sorgen. Ich hab versucht, mit ihr auf Tanzereien zu gehen; aber wenn ich lang arbeite, werd ich so schläfrig und – Sie ist eine schöne Frau, fesch, wie eine Gerte, und ich glaub, ich war zu langsam für sie. Nein, die kommt nie mehr zu mir zurück.«

»Sie ist jetzt draußen vor dem Haus – und wartet.«

»Du lieber, großer Caesar und der Boden ist nicht aufgerieben!« Mit einem Jammerschrei sprang er auf die Reibbürste zu und als Milt und Dlorus in der Türöffnung erschienen, wischten Herr Kloh und Fräulein Claire Boltwood zusammen den Küchenboden auf.

Dlorus sah sie mit verschränkten Armen an und seufzte: »Halloh, Johnny, ach mei, ist es nicht schön, wieder daheim zu sein, oh, du hast den Ausguß ausmalen lassen, oh, verzeih mir, Johnny, ich war ein undankbares Weib, es liegt mir nichts mehr dran, wenn du mich nie mehr auf gar keine Tanzereien führst, kaum auf eine einzige. Willy, komm her, mein Liebling, oh, er ist so ein süßer Junge, mei, sein Mund ist so schmutzig, willst du mir verzeihen, Johnny, ist mein Mantel in der Mottenkammer?«

Als Herr Kloh in die Fabrik gegangen war – drei Mal war er vom Gartenzaun wieder zurückgekommen, um Dlorus noch einmal zu küssen und ihren Rettern zu danken – setzte sich Claire nieder und gähnend begann sie jeden Zoll von Dlorus' schöner, weißer Haut, strenge zu bekritteln:

»Sie sind schon wieder mitten drin; machen sich die Vergebung dieses guten Mannes zu nutze und gefallen sich schon in der Rolle der Sünderin. Sie sind eine faule, unwissende, nicht sehr saubere Frau und wenn es Ihnen gelingen soll, Herrn Kloh und Willy glücklich zu machen, so ist das eine beinahe zu schwere Aufgabe für Sie. Wenn ich aber von Seattle zurückkomme und finde, daß Sie sich wieder schlecht aufgeführt haben …«

Dlorus brach zusammen. »Nein, Fräulein, sicherlich nicht! Und ich will Hühner züchten, wie er's wollte, wirklich wahr!«

»Dann können Sie mir, bitte, ein Zimmer geben, damit ich mich ein wenig ausschlafen kann, und vielleicht könnte Herr Daggett hier drinnen auf dem Sofa schlafen, damit wir uns ausruhen können, eh wir zurückfahren.«

Milt und Dlorus folgten willenlos der Herrin.

Es war Mittag, bevor Milt und Claire aufwachten und entdeckten, daß Dlorus ihnen Rühreier und Selleriesalat vorbereitet und auf einem beinahe sauberen Tischtuch serviert hatte. Herr Kloh kam zum Essen heim, und während Dlorus später im Wohnzimmer auf seinem Schoß saß und wiederholte, daß sie ein ungezogenes kleines Mädi war – was sagten denn die Leute in der Fabrik dazu? – saßen Milt und Claire schwermütig und stumpfsinnig vor der Türe und sahen sich die Umgebung an, die aus sieben Blechkannen, einer zerbrochenen Waschmaschine und einem rheumatischen Birnbaum bestand.

»Ich glaube, wir sollten aufbrechen«, seufzte Claire.

»Ich habe ungefähr die Nervenstärke eines Kaninchens und die Widerstandskraft eines Strohhalms«, gestand Milt.

»Wir sind wie zwei Kinder, die zu lange gespielt haben.«

»Und doch nicht nach Hause wollen!«

»Ganz richtig! Obwohl ich nicht viel von Ihrer Vorstellung von einem Spielereihaus halte – diese Blechkannen da – Aber es ist immerhin besser, als erwachsen sein müssen.«

Und mitten in dieser Unterhaltung bemerkten sie, daß Herr Henry B. Boltwood und Dr. Hooker Beach um die Ecke des Hauses gekommen waren und sie anstarrten.


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