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XXV.
Der abessinische Prinz

Snoqualmie Pass liegt inmitten von Bergen, die mit Felsen und verwitterten Baumstümpfen übersät sind, doch die Straße läuft sammetweich in sanft geschwungenen Kurven hin. Für Milt war es reinste Freude und Schönheit, es war die Erlösung von aller Erdenschwere, in dem starken Wagen Steigungen hinaufzufliegen und Gefälle hinabzugleiten. »Für mich gibt's keinen Teal mehr«, rief er in der Verzückung, eine Maschine handhaben zu dürfen, die langsam bis auf ein leises Flüstern hinstarb, um dann, bei einer bloßen Berührung des Akzelerators nur, eine Steigung hinaufzusausen, schwebend, freudig, mühelos, und summend das berauschende Lied der Freude an der Geschwindigkeit sang. Er haßte plötzlich die stoßende Schwerfälligkeit des Teals. Der Gomez-Dep. symbolisierte sein eigenes neues Leben.

So kam er zu Lake Washington, und gerade gegenüber lag die Stadt seiner langjährigen Träume, die Stadt des Pazifischen Ozeans und Claires Aufenthaltsort. Es war keine Überfuhr in Sicht und er fuhr um den See herum, kam auf ein Steinpflaster, rollte durch kleine Wäldchen, an Vorstadtvillen vorbei und durch unbedeutende Geschäftsstraßen, dann durch ein Fabriksviertel, hinter dem die Rauchfänge der Schiffe hervorragten.

Und mit jeder Minute fuhr er langsamer und fühlte sich unbehaglicher.

Das Pflaster – Meilen und Meilen weit! Die unbarmherzigen Sägewerke mit ihren tausenden von Arbeitern – ganz ähnliche Leute wie er selbst; die Aufregung bei der Erkenntnis, daß er alle drei Minuten an einer Siedlung vorbeikam, die größer war als Schoenstrom; die Fremdheit der Schiffe und des Meeres – alles deprimierte ihn durch den Eindruck, wie wenig er von der Welt wußte, wie groß sie sein müsse und wie sehr diese Welt den Milt Daggett wohl verachtete.

»Huh!« brummte er. »Hier müssen hübsch paar Leute wohnen! Glaub nicht, daß sie so besonders viel Zeit darauf verwenden, um über Milt Daggett und Bill McGolwey und Prof. Jones nachzudenken. Ich glaube, die meisten dieser Leute würden Heinie Rauskukles Laden eigentlich gar nicht für gar so ungeheuerlich halten. Minneapolis hat mir nicht bange gemacht – nicht sehr – aber dort haben sie einen nicht mit Bergen und dem Ozean umringt. Und ich mußte nicht auf den Hügel hinaufgehen und mit Leuten, wie Claires Verwandte es sind, zusammenkommen. Seh einer sich einmal diesen Fabriksschlot in der Säge dort an – ist das nicht nett von den Leuten, daß sie das Fliegengitter drüber gegeben haben, damit die Fliegen nicht in die Flammen hineinfallen. Nein, sie haben nicht viel mehr als eine Million Fuß Bauholz aufgeschlichtet auf diesem einen Haufen. Und da ist ein armseliger kleiner Möbelladen – es dürfte wohl nicht mehr kosten als ungefähr zehn Mal so viel als ich überhaupt besitze, um einen dieser Stühle zu kaufen. Oh Gotttt, hören denn diese Häuser niemals auf? Sag einer, das muß wohl ein Omnibus sein. Der Chauffeur grinst. Die ganze Stadt wird mich wohl auslachen? Milt, du bist ein freundlicher junger Mann, aber hier braucht man dich nicht. Es gibt scheints ein paar Leute hier, die das Geschäft allein und ohne dich weiterführen können. Herrgott, schau dort das Gebäude vor dir – neun Stock hoch!«

Er hatte vorgehabt, in einem Hotel abzusteigen, sich schnell zu waschen und zu Claire zu fliegen. Aber – nun – wäre es nicht vielleicht besser, den Wagen in einer öffentlichen Garage einzustellen, so daß die Boltwoods ihn holen konnten, wann es ihnen beliebte? Er wollte sich lieber noch vorher ein »wenig umsehen, bevor er den Wachthund anginge«.

Die öffentliche Garage war es, die ihm schließlich den letzten Stoß gab. Die Garage hatte Wände aus emaillierten Kacheln und farbigen Ziegelsteinen; der Büroraum war durch Spiegelscheiben abgetrennt, und darin arbeiteten junge Männer, die wie Engel gekleidet waren. Einer von ihnen trug, wie Milt bemerkte, eine rote Nelke. »Huh! Ich will Ben Sittka nach Hause schreiben, daß er von jetzt an seinen besten Sonntagnachmittagsausgeh-Anzug mit einer Löwenzahnblüte im Knopfloch tragen muß, wenn er in die Garage zur Roten Fährte zur Arbeit hinunterkommt!«

Milt fuhr die gepflasterte Steigung zu einem tausende von Meilen langen Raum empor, in dem Millionen von kürzlich lackierten Wagen in Reihen standen, die so gerade wie ein Trittbrett liefen. Er bat einen hochnäsigen farbigen Angestellten – nicht in Khaki-Overalls, sondern in maronbrauner Livrée:

»Wo soll ich den Wagen da hinstellen?«

Der abessynische Prinz gab ihm eine Marke und warf im Ton unendlichen Mangels an persönlichem Interesse hin: »Führen Sie ihn den Gang hier hinunter zum Aufzug.« Milt war in der Stadt den natürlichen Richtlinien des größten Verkehrs gefolgt; er hatte hier noch mit niemand gesprochen, die kurze und abweisende Antwort des Prinzen war sein Willkommgruß in Seattle.

Gedrückt fuhr er an all den Wagen entlang, die so ebenholzschwarz und silbern, so stark und schmuck aussahen, daß ein Teal-Karren daneben wohl einen beleidigenden Eindruck gemacht hätte. Ein anderer Angestellter winkte ihn in den Aufzug hinein und Milt bemühte sich, nicht überrascht dreinzuschauen, als der Wagen sich nicht vorwärts, sondern aufwärts zu bewegen anfing, als wäre er zu einem Aeroplan geworden.

Nachdem dieses Abenteuer überstanden war, nachdem er selbst rasiert war und sich die Hände gewaschen hatte, sich ein Schaufenster angesehen hatte, in dem zehn Billionen Ellen Seide gegen einen Hintergrund von spiegelblank politiertem Holz drapiert waren, nachdem ihn ein Kinolokal unglücklich gemacht hatte, weil es groß genug gewesen wäre – um zehn Mal mehr Leute zu fassen, als die gesamte Bevölkerung von Schoenstrom ausmachte, nachdem ihn ein Polizeimann beschimpft hatte, weil er auf der Straße nach der falschen Seite ging, nachdem er an einem Hotel vorbeigekommen war, das gänzlich von Diplomaten, Marmor und Kaviar angefüllt war – da konnte er es nicht länger hinausschieben, Claire zu telephonieren und demütig schlich er in eine Zelle, die wohl ursprünglich als Schirmständer gedacht war, fand die Telephonnummer von Eugene Gilsons Haus und zu einem Mädchen, das: »Ja?« fragte, in einem Ton, als meinte sie: »Nein!« sagte er schüchtern: »Bitte, kann ich mit Fräulein Boltwood sprechen?« Fräulein Boltwood war anscheinend nicht zu Hause. Er war nicht traurig darüber. Er fühlte sich befreit. Er drückte sich aus der Telephonzelle mit dem Gefühl, entwischt zu sein.

Milt war in Claire verliebt; sie war sein Lebenszweck; er dachte viel und zärtlich und sehnsüchtig an sie. Den ganzen Weg über bis nach Seattle hatte er nur über sie gegrübelt; erinnerte sich jedes ihrer Worte, jeder Bewegung von ihr; rief sich die schöne Linie ihres Kinns ins Gedächtnis und die frische Empfindung ihres Händedruckes. Aber Claire war plötzlich zu groß geworden. In ihr waren alle die Geschäfte, diese Büros für gelehrte Advokaten und Ärzte, diese von Verachtung erfüllten Trambahnen, diese sorglosen Leute in schönen Kleidern. Es war zu viel für ihn. Verzweifelt stieß er es zurück – zurück – nach Atem ringend. Und sie gehörte dazu. Er schickte ihr die Lagermarke des Wagens per Post mit ein paar Zeilen – die er stehend vor einem an der Wand hängenden Schreibpult in einem Postamt schrieb – und in denen nur stand: »Hier ist die Marke für den Wagen. Hab nicht gewußt, ob Sie ihn im Haus unterbringen würden. Hab versucht, Sie telephonisch zu erreichen und werde nochmals anrufen, sobald ich ein Zimmer etc. gefunden habe, hoffe, daß es Ihnen gut geht. M. D.«

Er ging auf die Universität. In der Trambahn ließ seine Spannung etwas nach. Aber er hatte nicht das berauschende Gefühl, daß er nun endlich den Pazifischen Ozean erreicht hatte; er konnte Seattle jetzt nicht mehr als eine Zauberstadt ansehen, das Bagdad moderner Karawanen, mit Alaska und dem Orient auf einer Seite, den Wäldern im Norden und westlich das weit umfassende Innere des Reiches, das Land des Weizens. Er sah darin nur noch einen Ort, an dem man hart arbeiten mußte, um leben zu können; wo geschäftige Polizeileute einen verachteten, weil man nicht wußte, welchen Wagen man nehmen mußte, um an ein bestimmtes Ziel zu gelangen; wo es unglaublich schwer war, sich auch nur die Namen der nie endenwollenden Straßen zu merken; wo der Kondukteur sagte: »Schnell einsteigen!« und wo es keinen Ort gab, um pfeifen zu können, keine Zeit, um mit einem Bill McGolwey an einem Büffet des alten Heimes Geschichten auszutauschen.

Er fand die Universität; er sprach mit dem Dekan über seine Aufnahme in die technische Fakultät; man gab ihm eine Zimmerliste; und weil es billig war, mietete er ein Loch in einer möblierten Wohnung über einer Zuckerbäckerei – ein niedriges Zimmer, in dem man wahrscheinlich vor Regen geschützt sein dürfte, das aber sonst keinerlei Tugenden besaß. Es stand ein Bett darin, ein Tisch, ein arg mitgenommener Schreibtisch, zwei gerade, nackte Stühle und eine schätzungswürdige Lithographie, die ein gelocktes Mädchen darstellte, das mit dem Zeigefinger eine ehrbare Katze neckte.

Die Hausfrau willigte ein, daß Milt einen Petroleumofen zum Kochen mitbrächte. Er kaufte den Ofen und eine Schachtel Hafermehl, eine Dose Speck und ein halbes Dutzend Eier. Er kaufte ein einfaches und gutes Geometrie-Lehrbuch und eine Algebra. Während des Essens legte er die Algebra neben seinen Teller mit dem etwas bleichsüchtigen Speck und den ausgelaufenen Eiern. Die Eier wurden kalt. Er rührte sich nicht. Er frischte seine Algebrakenntnisse aus der Mittelschule auf. Er ging die Seiten durch, Wort um Wort, schnell, gleichmäßig, vollständig konzentriert – ebenso konzentriert, wie er vor Kurzem noch an ein neues Problem einer verdorbenen Transmission gegangen wäre. Nicht ein einziges Mal hörte er auf, um zu überlegen, wie herrlich es wäre, Claire zu heiraten – oder wie entsetzlich es wäre, Fräulein Boltwood zu heiraten.

Drei Stunden vergingen, ehe er innehielt, ganz verwirrt seine Augen rieb, an dem eiskalten Speck und den widerlichen Eiern herumstocherte und auf die Straße hinausstürzte.

Wieder riskierte er es, sich die Verachtung von Kondukteuren und Omnibuschauffeuren zuzuziehen. Er fand Queen Anne Hill, fand die Residenz von Herrn Eugene Gilson. Er schlich um sie her, schlüpfte zum Eingang hinein und schlenderte auf das Haus zu. Ermattet von der Anstrengung des intensiven Studierens, sehnte er sich nach Claires aufmunterndem Lächeln. Doch als er zu den großen Vierecken der blanken Fenster hinaufstarrte, nach den weißen Säulen, die im Schein der Portallampen schimmerten, schien dieses Lächeln unerreichbar weit. Er fühlte sich wie ein Bauer bei Hofe. Aus dem Schatten der stacheligen Stechpalmen hervor beobachtete er das Haus. Es gab dort »eine Art Gesellschaft – oder wie würden solche Leute eine Gesellschaft nennen?« Limousinen kamen an; er sah flüchtig seidene Fußknöchel, hauchartige Unterröcke; hörte fröhliches Lachen, sah Leute sich in einem großen blauen und silberigen Raume bewegen; fing einige vorüberziehende Klänge der Musik auf.

Schließlich erblickte er Claire. Sie tanzte mit einem jungen Mann, der beinahe ebenso dekorativ aussah wie jener »verfluchte Saxton-Mensch«, dem er in Flathead-Lake begegnet war, aber der jünger war als Saxton, ein lachender junger Mann mit schwarzem, lockigen Haar. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte Milt einen Mord begehen. Er brummte: »Verdammt – verdammt – verdammt!« als er sah, wie der junge Mann Claire sorglos mit den Armen umschlang.

Es zuckte ihm in den Fingern, durch seinen ganzen Körper ging ein schmerzliches Sehnen, bis jeder Nerv nur mehr einem pochenden Hammer glich; Milt verzehrte sich in dem Verlangen, nur ein einziges Mal seine Hand um Claires Taille zu legen wie dieser Mann dort. Er vermeinte, die Schmiegsamkeit und Wärme ihres Körpers fühlen zu können.

Dann wieder schien es ihm, als Claire abermals am Fenster vorbeitanzte, daß er sie gar nicht kenne. Er hatte einst mit einem Mädchen gesprochen, das ihr ähnlich sah, aber das war schon lange her. Er konnte einen Gomez-Dep. verstehen und wußte ein gutes Sportkostüm zu schätzen; aber dieses Mädchen gehörte einer ihm gänzlich unverständlichen Welt an. Auch ihr Haar, dieses schwere, vielgewundene Haar, war ihm ein Rätsel. »Wie konnte sie es nur so aufstecken?« Ihr dekolletiertes Abendkleid – »aus was war es gemacht – irgendein weißer Stoff, aber war es Seide oder Musselin oder was?« Ihre Schultern waren überraschend in ihrer entblößten, puderigen Feinheit – »wie konnte dieser junge Mann es nur wagen, mit ihr zu tanzen?« Und ihr Gesicht, das so vergnügt und freundlich ausgesehen hatte, glitt am Fenster vorbei, so blaß und illusorisch wie ein Nebelstreif. Sein banges Sehnen nach ihr wurde zu plumper Angst. Er erinnerte sich ohne Zorn, daß sie ihm einst, auf der Spitze eines Hügels in Dakota, kühl verboten hatte, ihr weiter zu folgen.

Mit aller Freude am Martyrium – um nur ganz sicher zu sein, daß er voll erkannt hatte, was für ein Riesennarr er gewesen war, sich Fräulein Boltwood aufdrängen zu wollen – studierte er die übrigen Gäste. Er umgab sie mit einem Glorienschein, der ihnen vielleicht nicht zukam. Da waren Mädchen, so fein wie Elfenbein. Da war ein schmächtiger, etwas gebeugter Mann, so unendlich vornehm. Da war ein kräftiger Mann im Frack mit einem halbkreisförmigen Schnurrbart und Augen, die sogar auf diese Entfernung hin ungeduldige Befehle zu erteilen schienen. Er war wohl ein großer Bankier oder Sägewerksbesitzer.

Doch vor allem war es die ungezwungene, leichte Freundlichkeit von all den Leuten, die Milt das Gefühl gab, ein Außenstehender zu sein. Wenn ein Diener herausgekommen wäre und ihn weggeschickt hätte, so wäre er bescheiden fortgeschlichen – bildete er sich ein.

Er entfernte sich, zu ehrlich unglücklich, als daß er darüber nachgedacht hätte, wie unglücklich er war. In seinem feuchtkalten Zimmer nahm er wieder das Algebrabuch zur Hand; eine Viertelstunde lang fand er nicht die Kraft, es zu öffnen. In seiner Erschöpfung fühlten sich seine Ellenbogen schwach an, seine Finger bereit, herabzufallen. Langsam schlug er das Buch auf –

Um ein Uhr nachts saß er und las in der Algebra, sein Gesicht war ruhig und streng. Aber schon schien es von seiner gesunden, ziegelroten Farbe eingebüßt zu haben. In der Früh telephonierte er Claire in unbekümmertem, gleichgültigem Ton.

»Halloh? Oh! Fräulein Boltwood? Hier Milt Daggett.«

»Oh! Oh, wie geht es Ihnen?«

»Ja, ja, ich – ich hab schon alle meine Angelegenheiten hier geordnet. Ich kann gleich auf die technische Hochschule gehen.«

»Das freut mich.«

»Eh – gefällt es Ihnen in Seattle?«

»Oh! Oh ja. Die Berge – gefallen sie Ihnen?«

»Oh! Oh ja. Das Meer und alles – Große Stadt.«

»Eh – w–wann werden wir Sie sehen? Vater mußte wieder nach dem Osten zurück, er hat Grüße für Sie hinterlassen. W–wann –?«

»Ja – ja, ich nehme an, daß Sie schrecklich – schrecklich in Anspruch genommen sind von so vielen Leuten und allem möglichen –«

»Ja, das ist schon wahr, aber –« ihr unsicherer, zurückhaltender Ton schlug plötzlich in einen Schrei der Verzweiflung um. »Milt! Ich muß Sie sprechen. Kommen Sie heute um vier Uhr Nachmittag!«

»Ja!«

Er rannte in einen kleinen Schneiderladen für Schnellreparaturen. Er keuchte: »Bügeln Sie, bitte, meinen Anzug. Kann ich warten?« Man lieh ihm für die Wartezeit ein Paar Hosen, eine nicht sehr wünschenswerte Hose, die einem kleinen, dicken Mann mit nicht sehr gutem Geschmack zu gehören schien; und während sie um seine schlanken Beine schlotterte, saß er hinter einem Kattunvorhang und las »Der Kriegsschrei« und sah ein Modebild an, auf dem neun Herren in Yachtanzug, jeder neun Fuß groß, zu sehen waren, während der dienstmachende Jugoslave gefühllos seinen Anzug einspritzte und bügelte und preßte.

Er verbrachte zehn Minuten in seinem Zimmer damit, seine Schuhe zu putzen – und zwanzig Minuten damit, die Schuhpaste wieder von seinen Händen herunterzubekommen.

Eine Minute vor vier schritt er durch das Tor in der Hecke bei Gilsons.

Aber er war schon um drei am Queen Anne Hill angelangt gewesen. Eine Stunde lang war er oben auf der Straße herumgewandert, hatte auf die Dampfschiffe hinuntergestarrt, hatte abwechselnd im Verlangen nach Claire die Hände verkrampft und abwechselnd wieder sich endgültig entschlossen, nicht zu ihr hinzugehen – wollte sie nie wieder sehen.

Er trat zitternd in die Halle ein, in der Erwartung irgend eines großen Ereignisses, einer herzzerbrechenden Szene, doch Claire begegnete ihm mit einem kühlen: »Oh, das ist nett. Eva hat uns ein paar gute, weiße Kuchen machen lassen«. Er hatte die Empfindung eines Mannes, der um einen Trunk frischen, kalten Wassers gebeten hatte und ein warmes, abgestandenes vorfand.

»Wie – feines Haus«, murmelte er und schüttelte schlaff ihre schlaffe Hand.

»Ja, nicht wahr, es ist reizend. Man wohnt hier wunderbar schön. Ich fürchte, Ihre vielgepriesenen einfachen, demokratisch gesinnten Leute des Westens sind ein Schwindel. Ich höre hier viel mehr von der ›Gesellschaft‹ reden als jemals im Osten. Die Kreise scheinen schrecklich verwickelt zu sein und in komplizierten Beziehungen zueinander zu stehen«. Sie steuerte auf den Salon zu und nahm in einem Fauteuil Platz, während Milt ungeschickt und würdevoll in einem Sessel mit breiten Armlehnen saß. Claire machte Konversation. Ein Mädchen kam mit einem merkwürdigen Gegenstand herein: einem kleinen, roten Etagerentischchen auf Rädern, beladen mit Silbergeschirr, Kuchen und Sandwiches, die erstaunlich klein und dünn waren.

Das Mädchen war so gestärkt, daß es knarrte. Es warf einen flüchtigen Blick auf Milt – Claire hatte ihn nicht so sehr nervös gemacht, daß er an seine Kleidung denken mußte, aber das Mädchen tat es. Er war vollkommen überzeugt davon, daß es wußte, er habe seine Schuhe selbst geputzt, wußte, wie alt sein Anzug war. Er drängte in Gedanken selbst: »Muß mir morgen neue Kleider kaufen.« Er hatte das Bedürfnis, sich bei dem Mädchen für seine Existenz zu entschuldigen … Und er hätte den Mann umgebracht, der zu sagen gewagt hätte, er wäre Narr genug gewesen, sich in Fräulein Boltwood zu verlieben.

Er schlürfte seinen Tee und ließ Sandwich-Krümchen zu Boden fallen und stöhnte und keuchte und guckte auf die erdrückende Menge von Bildern und Leuchtern und Tischchen und Stühlen im Zimmer und wunderte sich, wozu sie dies alles hätten, während Claire weiterplauderte:

»Ja, wir beide waren nicht ›exklusiv‹, draußen auf der großen Landstraße. Und sind wir nicht drolligen Leuten begegnet? Oh, irgendwie klingt ›drollige Leute‹ so wohlbekannt. Aber – war das nicht drollig an jenem Morgen in Pellago, nicht? Himmel, ich vergesse schon diese dummen, kleinen Städtenamen – dieser Ort, an dem wir die arme Wirtin zerpflückten, die mich übervorteilen wollte?«

»Ja.« Er überlegte, wieviel Claire jetzt noch vergessen würde. »Ja. Wir haben es ihr jedenfalls ordentlich heimgezahlt. Eh – haben Sie die Lagermarke Ihres Wagens bekommen?«

»Oh ja, danke. Es war so lieb von Ihnen, sich darum zu kümmern.«

»Oh bitte, es war ja gar nichts – gar nichts. Eh – sind Sie gerne in Seattle?«

»Oh ja. Die herrliche Aussicht – die Berge – gefällt es Ihnen?«

»Oh ja. Wollte ja immer schon einmal das Meer sehen.«

»Ja, und – die Stadt ist so hübsch gebaut.«

»Ja, und – die Leute müssen hier eine Menge Geld verdienen.«

»Ja, sie – oh ja, mir gefällt Seattle sehr gut.«

Er war von seinem Stuhl aufgesprungen, fuhr an dem Teewagen vorbei, ignorierte dessen Geratter und das gefährlich klingende Geklirre der Teetassen. Er legte seine Hand auf Claires Schulter und rief: »Schauen Sie. Wir reden beide leeres Zeug, um die Zeit tot zu schlagen. Schluß damit. Es – es ist schon gut, Claire. Ich möchte ja gewiß, daß Sie mich gern haben – aber – Gott, ich weiß so genau, wie Sie denken! Sie denken, daß ich nicht auf der Höhe der Leute bin, mit denen Sie in den letzten Tagen beisammen waren – jedesfalls, jetzt noch nicht auf der Höhe. Gut also – gut, wir wollen Freunde bleiben.«

Mutig, jetzt, da seine Angst in Zärtlichkeit übergegangen war, hob er sachte ihr Kinn empor, sah ihr gerade in die Augen und lächelte. Aber sein Mut schwand dahin. Er hatte Lust davonzulaufen und sich zu verstecken.

Er wendete sich unvermittelt ab und murmelte: »Na, werd wohl jetzt lieber an meine Arbeit zurückgehen, denk ich.«

Ihr Schrei klang hungrig: »Oh, bitte, gehen Sie nicht.« Sie stand an seiner Seite und zupfte scheu an seinem Ärmel. »Ich weiß schon, was Sie meinen. Ich bin froh und dankbar für Ihr Verständnis und Ihre Einsicht. Aber – ich hab Sie gern. Sie waren der beste Kamerad. Wollen wir – oh, gehen wir zusammen spazieren – und versuchen wir, wieder miteinander zu lachen wie ehedem.«

Er wollte entschieden nicht bleiben. In diesem Augenblick liebte er sie nicht. Er sah in ihr eine ehrenwerte junge Dame, die, für eine so idiotisch auferzogene Person, draußen auf der Landstraße wirklich viel Mut und Geschick bewiesen hatte – und er wäre gerne draußen gewesen auf der großen Landstraße. Er stand in der Halle und haßte seine alte Mütze, während sie hinauflief, um einen Mantel anzuziehen.

Stumm und gleichgültig schritten sie zusammen aus dem Haus und den Hügel hinunter in den Bereich schäbiger, brauner Häuser, die wie Blasen auf dem Abhang des Hügels aussahen. Sie wußten einander wenig zu sagen und dieses Wenige waren höfliche Erinnerungen kleiner Ereignisse, die keinen von Beiden interessierten.

Als sie wieder an der Hecke der Gilsons angelangt waren, blieb er vor dem Eingang stehen und nahm mit erschreckend respektvoller Gebärde seine Mütze ab.

»Gute Nacht«, sagte sie munter. »Rufen Sie mich bald wieder an, bitte.«

Er antwortete nicht: »Gute Nacht.« Er sagte »Adieu« und er meinte, es wäre sein letztes Lebewohl. Er ergriff ihre Hand, ließ sie schnell wieder fahren und floh den Hügel hinunter.

Er wollte, wie er sich selbst sagte, noch am selben Abend Seattle verlassen.

Dies war zweifellos der Grund, weshalb er zur Trambahn lief, um noch vor Geschäftsschluß ein Modegeschäft zu erreichen und weshalb er sich auf einen erschreckten Commis stürzte, einen neuen blauen Kammgarn-Anzug kaufte, ein Paar neue Stiefel (erstaunlich ähnlich einem anderen Paar, das er am selben Tag auf der Universität gesehen hatte) und einen neuen Hut, der so grau und konservativ und filzig war, daß er ebensogut von Woodrow Wilson hätte getragen werden können.

Er verbrachte den Abend mit seiner Algebra und Geometrie und damit, daß er sich einredete, wie ganz und gar nicht er an Claire denke.

Mitten in dieser Beschäftigung ertappte er sich plötzlich selbst und lachte: »Was du da tust, mein Freund, ist ein leeres Vorgeben, daß du Claire nicht liebst, damit du vor deinem dummen Ich die Tatsache verbergen kannst, daß du bei der ersten Gelegenheit, die sich dir bieten wird, zu ihr zurückschleichen wirst – sobald der Wachthund nur schläft. Ernstlich nun, mein Junge, Claire ist für dich unerreichbar. Kann man nichts machen. Jetzt, da du einmal so ungeschickt warst, von zu Hause fortzugehen – Oh Gott, ich wollt, ich hätte das Zimmer nicht für den ganzen Winter genommen. Ich wollt, ich hätt nicht auf der U. inskribiert. Aber jetzt bin ich nun einmal hier und ich werde mich durchfressen. Ich werde jedesfalls ein Jahr lang hierbleiben und dann nach Hause zurückgehen. Oh! Und zu – Herrgott! Sie hat mich doch gern gehabt!«

Er dachte an die Heckenrosen-Lehrerin, die er hinten in Dakota ein Stück Wegs im Wagen mitgenommen hatte. Er erinnerte sich ihrer Zartheit und ihrer Bewunderung.

»Nun, das ist doch jemand, um dessentwillen ich mich bemühen werde, in die Höhe zu kommen. Wenn ich im nächsten Frühjahr zurückfahren muß, könnte ich sie wohl finden und aufsuchen –«


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