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I.
Fräulein Boltwood aus Brooklyn bleibt im Kot stecken

War der Windschutz geschlossen, so blieben die Regentropfen daran haften und Claire meinte, einen versunkenen Wagen durch düstere Tiefen unter dem Meeresspiegel dahinzusteuern. War der Windschutz offen, so schlugen ihr die Regentropfen in die Augen und machten ihre Wangen erstarren. Sie war aufgeregt und gründlich unglücklich. Es wurde ihr klar, daß diese Landstraßen in Minnesota keinerlei Respekt hatten vor den sittsamen Erfahrungen, die sie auf den Alleen von Long Island gesammelt hatte. Sie fühlte deutlich, daß sie eine Frau war und kein Fahrer.

Aber der Gomez-Dep.-Zweisitzer hatte siebzig Pferdekräfte und sang surrend sein Lied. Seitdem sie Minneapolis verlassen hatte, war ihr niemand vorgefahren. Dort hinten wollte ihr ein Schwerfuhrwerk den Weg versperren; da war sie einen Graben hinuntergesaust, eine Böschung hinaufgeklettert, war wieder auf die Straße zurückgekommen – und von einem Fuhrwerk war nichts mehr zu sehen. Jetzt erstreckte sich vor ihr eine Aussicht, herrlicher als die schönste Berglandschaft hinter Gärten am Meer: ein Stück gute Straße. Dem Fahrgast, ihrem Vater, rief Claire frohlockend zu:

»Himmlisch! Es ist aufgeschottert Jetzt können wir Zeit gewinnen. Wir rattern bis zur nächsten Stadt weiter und trocknen uns dort.«

»Ja. Aber kümmre dich nicht um mich. Es geht ohnehin sehr gut«, seufzte der Vater.

Im selben Augenblick – von jähem Schreck ergriffen – sah sie, daß es mit dem Schotterfleck wieder zu Ende war. Die Straße vor ihr war eine nasse, schwarze Schmiere, von tiefen Furchen kreuz und quer durchschnitten. Der Wagen sauste in einen Morast von Prairie-Gumbo – das ist Kot, gemischt mit Teer, Fliegenpapier, Fischleim und wohlgekauten, schokoladeübergossenen Karamelen. Gerät das Vieh in solchen Gumbo, so holen die Bauern Baumstumpf-Dynamit und versuchen es mit dem Sprengen.

Es war ihr erstes Stück wirklich schlechte Straße. Sie hatte Angst. Und doch wieder war sie zu sehr in Atem gehalten, um Angst zu haben, oder um Fräulein Claire Boltwood zu sein, oder um ihren ängstlich gewordenen Vater zu beruhigen. Sie mußte lenken. Ihre zarten, hübschen Arme griffen mit einer wütenden Kraft zu, die genial war.

Sowie die Räder mit dem Schlamm in Berührung kamen, gerieten sie ins Gleiten und drehten sich leer im Kot. Der Wagen begann zu schleudern. Er war in grauenhafter Weise ihrer Herrschaft entglitten. Er fing an, sich majestätisch dem Straßengraben zuzuwenden. Sie kämpfte am Volant wie gegen einen unsichtbaren Feind, doch der Wagen beharrte verächtlich in seinem Taumeln und Schwanken, bis er seitwärts quer zur Straße stand. Irgendwie bekam sie ihn dann wieder herum, er fraß sich in eine Furche und lief geradeaus. Sie wußte nicht, wie sie es gemacht hatte, aber sie hatte ihn zurückgebracht. Sie hätte sich gar zu gerne Zeit genommen, um ihre Lenkkunst zu analysieren. Sie tat es nicht. Sie fuhr weiter. Der Wagen begann zu schießen und ging langsamer. Sie schaltete von der Dritten auf die Erste. Sie gab Gas. Der Motor lief wie ein vor Schrecken pochendes Herz, während der Wagen Zoll für Zoll weiterkroch durch den zähen Kot, der sich endlos vor ihr erstreckte.

Sie arbeitete, um den Wagen in der führenden Spur zu halten. Sie riß den Windschutz auf und konzentrierte sich auf diese eine linke Spur. Sie fühlte, daß sie das Rad nur mit Mühe davon abhielt, die Längswand der Furche hinaufzufahren, diese sechs Zoll hohe Kotmauer, die vor winzigen Steinchen funkelte. Ihr Verstand murrte verführerisch gegen ihren Arm: »Überlaß den Furchen die Steuerung. Du arbeitest ihnen ja nur entgegen.« Es ging. Sobald sie die Räder in Ruhe ließ, folgten sie gemächlich den Furchen und drei Sekunden lang hatte sie dieses wunderbare Gefühl jedes Motorfahrers nach jeder Kalamität: »Jetzt, da diese eine Unannehmlichkeit vorüber ist, werde ich nie mehr, nie mehr irgendwelche Schwierigkeiten haben!«

Aber angenommen, dem überhitzten Motor ginge das Wasser aus? Die Angst zerrte an ihren Nerven. Und die tiefen, deutlich zu unterscheidenden Furchen verwandelten sich nun in ein verworrenes Muster, wie die Gleise an einer Großstadt-Kreuzungsstelle. Sie suchte die Spur des einen Automobils heraus, das kürzlich hier gefahren war. Diese Spur war an dem Gleitschutzmuster der Hinterräder erkennbar; sie war ihr Freund. Claire kannte und liebte den Führer eines Wagens, den sie nie in ihrem Leben gesehen hatte.

Sie war sehr müde. Sie überlegte, ob sie nicht einen Augenblick lang anhalten sollte. Dann kam sie zu einer Steigung. Der Wagen fing an zu bocken. Sie fühlte, wie er unentschlossen unter ihr schwankte. Sie trat auf den Akzelerator. Ihre Hände drückten und schoben am Volant, als ob sie den Wagen selbst schieben würde. Der Motor raffte sich wieder auf und ging mürrisch weiter. In dem wellenförmigen Terrain kam nun wieder eine leichte Steigung – für das Auge eben nur eine kleine Bodenerhebung, aber für ihre Angst war es ein Berg, auf den sie – nicht der Motor, sondern sie selbst – diese klobige Masse hinaufzerren mußte, bis sie die Höhe erreicht hatte und sich wieder sicher fühlte – eine Sekunde lang. Doch es war immer noch kein Ende zu sehen in diesen Kotmassen.

Voll Schrecken dachte sie: »Wie lange wird das noch dauern; ich kann nicht mehr. Ich – oh!«

Die führende Spur des vorangegangenen Wagens verlor sich plötzlich in einer Masse schwellenden, blasenbildenden Kotes, gleich einem Meer von schwarzem Teig. Sie packte den Wagen irgendwie zusammen, schleuderte ihn hinein in dieses Gewoge, mitten durch und wieder zurück in die wieder auftauchende Spur, mit dem wohlbekannten Gleitschutzmuster.

Ihr Vater sagte: »Du zerbeißt ja deine Lippen. Sie werden noch bluten, wenn du nicht aufpaßt. Halt lieber an und ruh dich ein wenig aus.«

»Kann nicht! In diesem bodenlosen Kot. Bleib ich erst einmal stehen und verlier den Schwung – so bleib ich ganz hängen!«

So ging es noch zehn Minuten weiter, ehe sie eine Kombination von einer Art Brücke und überdecktem Abzugskanal erreichte – die hölzerne Überdachung einer großen Rinne für Entwässerungsröhren. Auf diesem festen Plankenboden konnte sie anhalten. Dröhnend senkte sich die Stille herab, als sie den Motor abstellte. Das kochende Wasser im Kühler dampfte über die Haube. Claire wurde sich einer Steifheit ihrer Halsmuskeln bewußt; eines Schmerzes im Hinterkopf. Ihr Vater blickte sie so merkwürdig von der Seite an.

»Ich muß ganz zerschlagen aussehen. Sicherlich ist auch mein Haar zerrauft«, dachte sie, doch vergaß sie es gleich wieder, als sie ihn anschaute. Sein Gesicht war ungewöhnlich blaß. In dem Tumult der Ereignisse hatte sich der alte, mutlose Ausdruck wieder eingeschlichen, der seine Augen trüb und seinen Mund schlaff machte. »Muß weiterfahren«, entschied sie.

Claire war eine elegante Erscheinung. Sie haßte unordentliches Haar, zerrissene Handschuhe und kotige Schuhe. Zögernd, wie eine Katze an einer Pfütze, stieg sie auf die Brücke hinunter. Sogar auf diesen Brettern war der Kot drei Zoll tief. Er quatschte um ihre ausgeschnittenen Schuhe mit Gamaschen. »Eeh!«, quietschte sie.

Sie trippelte auf den Zehenspitzen bis zum Werkzeugkasten und nahm einen zusammenlegbaren Segeltuch-Eimer heraus. Vorsichtig stieg sie zu dem rieselnden Wasser hinab. Das Ufer unten am Bach war so schlüpfrig, daß sie zwei Fuß weit abrutschte und beinahe hingefallen wäre. Sie berührte mit dem Knie den Boden, so daß der Rock ihres grauen Sportkostümes einen gelben Erdfleck davontrug.

In weniger als zwei Meilen hatte der rasend laufende Motor so viel Wasser verbraucht, daß sie viermal zum Bach hinunterwandern mußte, ehe sie den Kühler wieder gefüllt hatte. Als sie dann auf das Trittbrett kletterte, blickte sie auf ihre Gamaschen und Schuhe, die zu einer festen grauen Masse geworden waren. Ihr war nicht weinerlich zu Mute. Sie war wütend.

»Idiot! Ich hätte Galoschen anziehen sollen. Na – jetzt ist's zu spät«, bemerkte sie, als sie den Motor anließ. Wieder folgte sie der Spur des Gleitschutzmusters. Um ein Loch vor der Straße zu vermeiden, hatte der unbekannte Fahrer den Wagen auf die Straßenseite herumgerissen und sich an die tiefschwarze Erde am Rande eines uneingezäunten Kornfeldes gehalten. Wie der Blitz tauchte vor Claire der Anblick eines tiefen, mit Wasser gefüllten Loches auf – verstreut herumliegendes Stroh und Buschwerk – Trümmer eines Schlachtfeldes, die ihr die atemraubende Erkenntnis vermittelten, daß ihr Gleitschutzmuster-Führer festgefahren war und …

Und im selben Augenblick war sie selber festgefahren. Es war gar nicht anders möglich, als den Wagen in das Loch hineinzufahren.

Er fiel hinein, tief hinunter und blieb unten. Der Motor starb ab. Sie ließ ihn wieder an, aber die Hinterräder drehten sich lustig ohne zu greifen. Sie kam keinen Zoll vorwärts. Als sie den ratternden Motor abgestellt hatte, ließ sie ihn tot liegen. Sie schielte nach ihrem Vater hinüber.

Er war jetzt eben kein Vater sondern ein Fahrgast, der sich bemühte, den Fahrer nicht zu irritieren. Er lächelte ein wenig wächsern und sagte: »Schwierige Sache! Na, du hast dein Bestes getan. Das andere Loch dort drüben auf der Straße wäre ebenso schlimm gewesen. Bist ein guter Fahrer, Mädi.«

Sie lächelte warm und herzlich. »Nein. Ich bin ein Narr. Du hast mir gesagt, ich soll Ketten nehmen. Ich hab's nicht getan. Es geschieht mir recht.«

»Na, jedenfalls würden die meisten Männer jetzt fluchen. Schon, daß du mich nicht schlägst, verdient eine Belobung. Ich glaube, das passiert in derlei Augenblicken. Wenn du willst, steige ich aus und kriech hinaus in den Kot und …«

»Nein. Ich fühl mich jetzt ganz wohl. Ich tat schrecklich sachlich, solang es irgendwie notwendig war. Es hielt mich aufrecht. Aber jetzt kann ich ebensogut vergnügt sein, weil wir doch festgefahren sind und wahrscheinlich für den Rest dieses sorgenfreien Sommertages festgefahren bleiben.«

Dann überkam sie plötzlich die Müdigkeit der langen Anspannung, sie ließ sich auf ihrem Platz etwas vorgleiten, saß zusammengesunken da, die übereinandergeschlagenen Knie bis dicht unterm Rand des Volants. Die Hände ließ sie schlaff neben sich herabhängen, wobei die eine im Abgleiten ein schwaches Geräusch hervorrief, als wäre eine Bürste über die Polsterung gestrichen. Ihre Augen schlossen sich; als der Kopf tiefer herabsank glaubte sie, ihr Rückgrat in den straff gespannten Nacken einschnappen zu hören.

Ihr Vater saß schweigend, eine undeutlich erkennbare Gestalt in einer Reisedecke. Der Regen zeichnete Streifen an die Cellonfenster der Seitenteile. Ein ferner Eisenbahnzug pfiff trostlos über die durchweichten Felder. Im Wageninnern roch es muffig. Die Stille legte sich wie eine Decke um die Ohren. Claire war in einem nebeligen Halbschlaf befangen. Sie fühlte, daß sie niemals wieder werde fahren können.


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