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X.
Das seltsame Abenteuer auf der Straße am Hang

So unerwartet, so fröhlich klang es, daß Claire im Unklaren darüber war, ob er wußte, was hier vorging; Milt rief dem am Trittbrett hängenden Mann freundlich zu: »Wohin geht die Reise, Freund?«

Der unwillkommene Gast sah etwas verdutzt drein. Zum ersten Mal verschwand das verschmitzte Zwinkern aus seinen Chinesenaugen und er antwortete unsicher: »Bin ein Stückchen Wegs mitgenommen worden.« Er stellte den Handgashebel auf rasche Fahrt. Milt beschleunigte gleichfalls.

Claire erhob sich, sie wollte schreien. Sie hatte irrsinnige Angst, daß Milt sie verlassen könnte. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, war es ihr als Erleichterung erschienen, daß er sie verließ.

Ihr Gast brummte ihr zu – wobei die Worte knurrend wie durch einen Spalt aus einem Winkel seines gemein aussehenden Mundes kamen: »Bleiben Sie sitzen oder ich schmeiß den Wagen hinunter.«

Milt plauderte unschuldig weiter: »Kommen Sie lieber herüber und fahren Sie bei mir mit. Es ist mehr Platz in meinem netten kleinen Wägelchen.«

Da fühlte sich der fremde Fahrgast in seinem scheuen, zarten, kleinen Herzen erleichtert und befreit und seine Augen funkelten wieder, als er, ohne sich nach Milt umzusehen, zurückrief: »Danke, mein Herr, ich bleib meinen Freunden treu.«

»Aber nein; kann das Vergnügen Ihrer Gesellschaft nicht entbehren. Sie gefallen mir so gut. Sie sind wie eine blühende kleine Insel weit drüben im matten Silberschein des Horizontes.« Claire runzelte die Stirne. Sie hatte Milt's Rhetorikbuch nicht gesehen. »Sie sind eine Insel der Hesprydn oder Hesperiden. Oh ja, du Mondenzauber, ich glaub, du kommst lieber herüber. Bin noch nicht entschlossen« – Milts Stimme klang einschmeichelnd – »ob ich dich umbringen oder bloß einsperren lassen soll. Fräulein Boltwood! Nehmen Sie das Gas weg.«

»Wenn Sie's tut,« rief der Fremde: »so schmeiß ich sie den Abhang hinunter.«

»Nein, das wirst du nicht tun, mein süßes Herz, und warum? wegen dem, was ich sonst nachher mit dir tun werde.«

»Du wirst gar nichts tun, Freundchen, weil ich dir sonst mit den Händen die Augen herausquetsche.«

»Aber Schätzchen, glaubst du denn, daß ich so kampflustig zu einem großen, starken Mann, wie du bist, sprechen würde, wenn ich nicht ein Gewehr bei der Hand hätte?«

»Ja, das glaub ich schon, mein Sonnenschein. Aber bevor du schießen könntest, würde ich deinen Blechkasten an den Hang drängen und hineindrücken! Ich könnt dabei selbst ums Leben kommen, aber von dir blieb nicht einmal ein Fettfleck übrig!«

Er drehte den Gomez aus seiner geraden Richtung und drängte Milt gegen die hohe Erdmauer des Hanges, welche die Straße auf der linken Seite abgrenzte.

Claire war ganz krank vor Angst, bald aber noch mehr vor Verachtung, als sie Milt winseln hörte: »Hast gewonnen!« Und er zurückgeblieben war. Der Gomez fuhr allein weiter.

Jetzt blieb Claire nur noch eines übrig – abzuspringen. Und das bedeutete den sicheren Tod.

Der Mann am Trittbrett tobte: »Ihr Freund ist ein wunderbarer Schütze – mit dem Maul!«

Das dünne pit – pit – pit kam wieder. Claire blickte sich um. Sie sah Milts Wagen schnappend vorwärtsjagen, so schnell, daß bei einem Straßenbuckel die leichten Räder in der Luft standen. Sie sah Milt auf der rechten Seite seines Karrens stehen, eine Hand am Volant und die andere Hand – eine feste, grimmige breitknochige Hand – ausgestreckt nach dem fremden Mann, und dann nach seinem Kragen fassen.

Die Hände des Mannes wurden vom Volant weggerissen. Er selbst wurde vom Trittbrett heruntergezerrt und schlug auf den Boden auf.

Claire griff nach dem Volant. Sie fuhr sechzig Meilen pro Stunde. Sie war mindestens eine Meile weit gefahren, ehe sie Herr ihrer Angst wurde und anhielt. Sie sah, wie Milt seinen kleinen Wagen herumriß wie einen sich bäumenden Mustang. Er schien mit seinen Vorderrädern auszuschlagen. Dann jagte Milt in Verfolgung des einstigen Gastes zurück. Der Mann lief hurtig hüpfend über die Straße. Auf diese Entfernung war er nicht mehr angsteinflößend, sondern eine komische, sich ruckweise fortbewegende, kaninchenähnliche Gestalt, die sich hinkend auf den Rückzug machte.

Als der Karren auf ihn lossauste, konnte man ihn mit hochgehobenen Händen über den Hang springen sehen. Milt drehte wieder um und kam langsam zu ihnen zurück; und als er sie erreicht und den Motor abgestellt hatte, riß er die imposante karrierte Kappe vom Kopf und sah aus, als wollte er sich entschuldigen,

»'s tut mir leid, daß ich ihn mit Scherzreden täuschen mußte. Ich hatte Angst, daß er Sie wirklich den Hang hinunterfährt. Er war ein schlechter Schauspieler. Und er hatte recht: er hätte mich unterkriegen können. Zuerst dacht ich, daß ich ihn verleiten könnte abzusteigen, um ihn in der nächsten Stadt einsperren zu lassen.«

»Aber Sie hatten doch eine Flinte – einen Revolver – nicht, junger Mann?« keuchte Herr Boltwood.

»Na jaaa – ich hab eine Schrotflinte. Es hätte mich kaum mehr als fünf oder zehn Minuten Zeit gekostet, sie auszugraben und zusammenzustellen. Es mögen auch irgendwo ein paar Patronen da sein. Vielleicht sind sie ganz in Ordnung. Hab sie nicht mehr angeschaut seit dem vergangenen Herbst. Damals waren sie nicht einmal gar so feucht.«

»Aber denken Sie nur, wenn er selbst einen Revolver gehabt hätte?« lamentierte Claire.

»Herrjeh! Wissen Sie, ich habe geglaubt, daß er bestimmt einen bei sich hat. Ich war grau vor Angst. Und doch hatte ich das unwiderstehliche Verlangen, ihn herunterzuwerfen«, gestand Milt.

»Woher wußten Sie, daß wir Sie brauchten?«

»Nun, dort hinten, ein paar Meilen weiter zurück, kam's mir vor, als sähe ich Ihren Vater aufstehen und versuchen, mit dem Mann zu raufen; da fürchtete ich gleich, daß irgendetwas nicht in Ordnung sei. Hören Sie, Fräulein Boltwood, wissen Sie, wie Sie mir dort gesagt haben – früher einmal, weiter zurück auf der Strecke – ich wollte mich wirklich nicht aufdrängen. Auf Ehre. Ich hab gedacht, vielleicht, weil wir doch denselben –«

»Oh, ich weiß!«

»– Weg haben, hätten Sie nichts dagegen, daß ich hinten nachfahre, wenn ich nur nicht zu oft zu Ihnen herankomme; und ich hab auch gedacht, daß ich Ihnen vielleicht helfen könnte, wenn –«

»Oh, ich weiß! Ich schäm mich ja so! Schäm mich so schrecklich! Ich wollte nur – bitte verzeihen Sie mir. Es war so lieb von Ihnen, daß Sie sich unser angenommen haben –«

»Ach, schon gut, schon gut!«

»Ich glaube, Sie können sich vorstellen, wie dankbar Vater und ich sind, daß Sie diesmal hinter uns waren. War das nicht ein Glück, daß wir irgendwo zufällig an Ihnen vorbeigeschlüpft sind?«

»Ja«, sehr trocken, »glücklicher Zufall. Nun, ich werd wieder voransegeln. Vielleicht stoß ich wieder auf Sie, bevor wir nach Seattle kommen. Nehmen Sie die Strecke durch den Yellowstone-Park?«

»Ja, aber –« fing Claire an. Ihr Vater unterbrach sie:

»Eh – Herr – eh – Daggett, nicht wahr? – Ich meine, ob Sie jetzt nicht ein bißchen näher bei uns bleiben wollen? Die Reise war für mich bisher eine angenehme Abwechslung, aber ich fürchte, daß sie jetzt – Ich möchte Ihnen – ohne Sie beleidigen zu wollen – den Vorschlag machen, gegen irgendeine Entschädigung – eh – verstehen Sie, oder eine Vergütung, bei uns zu bleiben, wenn Sie könnten –«

»Danke vielmals – eh – ich danke Ihnen, mein Herr, aber ich könnte es nicht tun. Es ist so eine Art Ferienurlaub, wissen Sie. Wenn ich etwas für Sie tun konnte, fühl ich mich nur geschmeichelt –«

»Aber vielleicht,« bat nun Herr Boltwood dringend den erst kürzlich abgrundtief unbedeutenden jungen Mann, »vielleicht würden Sie einwilligen, mein Gast zu sein, wenn es Ihnen paßt etwa – in den Hotels im Park sagen wir«.

»Tut mir leid, aber ich bin so ein allein laufender Wolf.«

»Bitte! bitte sehr schön!« bettelte Claire. Ihr Lächeln war flehend, ihr Blick hing an seinen Augen.

Milt biß sich in die Handknöchel. Er sah unglücklich aus. Aber er blieb standhaft: »Nein, Sie werden schon über dieses kleine Malheur mit unserem Freund hinwegkommen. Übrigens werde ich den Bürgermeister in der nächsten Stadt auf ihn hetzen. Er wird nicht mehr aus dem Bezirk herauskommen. Wenn Sie ihn erst einmal vergessen haben – Ach nein, Sie kommen wunderbar allein weiter. Sie fahren gut und sicher, und die Straße ist nicht ein bißchen gefährlich – Sie müssen sich die Leute nur zuerst einmal anschaun, bevor Sie sie aufsteigen lassen. Das war in New-York ebenso gefährlich wie hier. Tatsache ist, daß es in den Städten weit mehr solches Gesindel gibt als in den wildesten Landstrichen. Ich glaube nicht, daß es so besonders geschmackvoll wäre, den ›Schrecklichen Tim‹ geradewegs in den Salon zu bitten. Herrjeh! bitte tun Sie es nicht wieder! Bitte!«

»Nein,« ganz demütig: »Ich war ein Narr. Ich werde es nicht mehr tun, das nächste Mal. Aber wollen Sie nicht irgendwo in unserer Nähe bleiben?«

»Ich möchte gerne, aber ich muß weiterjagen. Bedaure, daß ich mich gleich wieder verabschieden muß, aber ich muß zu bestimmter Zeit in Seattle sein und – sagen Sie, Fräulein Boltwood.« Er sprang aus dem Karren heraus, kurbelte an, kletterte zurück und setzte ungeschickt fort: »Ich hab die Bücher gelesen, die Sie mir gegeben haben. Sie sind fein – ich wollt sagen, sehr interessant. Wie dieser junge Bursch in den ›Jugendbegegnungen‹ Bischof und Soldat und alles mögliche werden wollte – Genau so wie ich, außer, daß Schoenstrom in mancher Beziehung anders ist als London! Ich wollte immer ein Straßenräuber oder ein Buschmann werden. Aber ich habe für keines von beiden getaugt. Und dann bin ich eben nur ein Garagemann geworden. Und ich – Eines Tages werd ich auch aufhören, Dialekt zu sprechen. Aber es wird ein hartes Stück Arbeit sein!« Schnell fuhr er die Straße hinunter und Claire schluchzte.

»Oh, dieser gute, liebe Mensch! Kränkt sich, weil er Dialekt spricht, nachdem er sich von dieser entsetzlichen Nachtmahr gar nicht gefürchtet hat. Wenn wir nur irgendetwas für ihn tun könnten!«

»Brauchst dir um ihn keine Sorgen zu machen, Mausi. Das ist ein sehr energischer Bursche. Und – eh – Sollten wir nicht vielleicht ein Stückchen weiter fahren? Ich will gestehen, daß der Gedanke an unseren Gast von vorhin, der noch irgendwo in der Nähe –«

»Ja, und – Oh, ich schäm mich nicht. Wenn Mohammed Milton nicht bei unserem Wagen Berg bleiben will, so werden wir ihm eben nachlaufen.«

Doch als sie die Höhe des nächsten Hügels erreichte, von der aus man nach allen Seiten in die Ferne sehen konnte – da war weder Milt noch Teal-Karren auf der weiten Straße zu erspähen.


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