Fanny Lewald
Jenny
Fanny Lewald

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»Heute ist ein wahrer Glückstag«, sagte Jenny zu Frau von Meining, als dieselbe an einem heitern Morgen in Walters Begleitung zum ersten Male Jenny besuchte und mit ihr unter dem Schatten der Bäume saß. »Du scheinst den letzten Rest von Schwäche von dir geworfen zu haben, und auch meine arme Kranke ist heute so wohl, daß ich es wagen konnte, sie gehörig um ihre Verhältnisse zu fragen.«

»Und was haben Sie erfahren?« fragte Walter, den die Frau interessierte, weil Jenny Teil an ihr nahm.

»Eigentlich nicht viel mehr als mein Vater schon durch die Behörde wußte. Es ist eine von den traurigen Geschichten, die sich leider täglich wiederholen. Sie ist die Tochter eines Handwerkers aus Gernsbach und kam gewöhnlich während des Sommers nach Baden, um in einem Hause auszuhelfen, in dem man Wohnungen vermietet. Hier hat sie einen armen Jägerburschen kennengelernt und ihn gegen den Willen ihres Vaters geheiratet, der sie einem wohlhabenden, aber sehr alten Bürger in Gernsbach bestimmt hatte. Ein unglücklicher Fall auf der Jagd, infolgedessen das Gewehr losging, raubte ihrem Mann im Herbst das Leben, lange ehe ihr Kind geboren wurde. Im Winter gab es keinen Verdienst für sie und in die bitterste Armut gesunken, aus Mangel erkrankt, ist sie nun schwach und elend nach Gernsbach gegangen, um dort das Mitleid ihres Vaters anzuflehen. Der aber hat sie und ihr Kind mit Verwünschungen von sich gestoßen, sie hat hierher zurückkommen und Arbeit suchen wollen, als sie auf dem Wege zusammenbrach, wo ich sie fand. Sie sagte mir, daß ihr Vater kein anderes Kind hätte als sie und wohl die Mittel, für sie zu sorgen. Aber er hätte gehofft, mit dem Gelde des reichen Schwiegersohnes sein Gewerbe zu vergrößern und selbst ein reicher Mann zu werden, und daß sie ihn um diese Hoffnung betrogen, werde er ihr nicht vergessen und verzeihen.«

»So muß man hier für sie sorgen!« meinte Frau von Meining.

»Sie selbst verlangt nichts mehr als die Mittel, sich durch einige Pflege Kräfte zu erwerben, um wieder arbeiten zu können«, sagte Jenny. »Wie sie mir erzählt, hätte ihr Vater sie ohne das Kind wohl zu sich genommen, weil er hoffte, jener Bürger würde sie auch jetzt noch heiraten, wenn sie sich von ihrem Kinde trenne. Das aber will und soll sie natürlich nicht, und so meint mein Vater, man müsse einen der nächsten Tage dazu benutzen, nach Gernsbach zu fahren und zu versuchen, ob man nicht durch ein Jahrgeld, das man an das Leben des Kindes knüpft, den Vater vermögen könne, Tochter und Enkel bei sich aufzunehmen, wo sie am Ende doch am besten untergebracht sein würden.«

Walter stimmte dieser Ansicht bei, und man verabredete eben einen Tag für diese Fahrt, als ein Mann von etwa vierzig Jahren mit einer jungen Frau am Arm sich dem Platze näherte, auf dem die Gesellschaft vor dem Hause saß. Ein Diener trug ihnen, trotz des schönen Wetters, einen Männerüberrock und einen kleinen Teppich nach.

»Steinheim!« rief Jenny, als sie ihn erkannte, und stand auf, ihn und seine Begleiterin zu begrüßen: »Vielmals willkommen!«

»Erneute Huldigung gestatte mir!« sagte Steinheim, ihr mit steifer Galanterie die Hände küssend, »und vergönnen Sie mir zugleich, Ihnen meine Frau vorzustellen und sie Ihrer Freundschaft zu empfehlen.«

Madame Steinheim war ein sehr hübsches, siebzehnjähriges, höchst schüchternes Wesen, das zu ihrem Manne wie zu einer Gottheit emporsah und sich nicht der Ehre wert zu fühlen schien, ihm anzugehören. Steinheim war sehr stark geworden und pflegte sein Äußeres und seine Gesundheit noch mit der alten übertriebenen Vorsicht. Die junge Frau, welche diese seine alte Schwäche noch nicht zu kennen schien, stand ihm darin mit ängstlicher Sorgfalt bei.

Nachdem Jenny die Angekommenen mit ihren Freunden bekanntgemacht hatte, fragte sie Steinheim, was ihn, den abgesagten Feind alles Reisens, zu dem Entschluß gebracht habe, sich dennoch auf den Weg zu machen und eine Häuslichkeit zu verlassen, die jetzt erst wahren Reiz für ihn haben müsse.

»Ich bin mir selbst ein Rätsel«, antwortete er, »und mir scheint, daß mit dem Liebesfrühling, der so urplötzlich in meiner Brust erwachte, ein ganz neues, junges Leben für mich begonnen hat. ›Ein unbeschreiblich holdes Sehnen trieb mich, durch Wald und Wiesen hinzugehn.‹ Ich wünschte meiner Frau zu zeigen, wie schön die Welt sei und konnte mich der Gefahr, die das Reisen für meine Gesundheit hat, jetzt leichter aussetzen, da Hannchen« – er wies auf seine Frau – »mit dankenswerter Sorgfalt über mir wacht. Aber findest du nicht«, sagte er, sich unterbrechend, »daß der Fußboden hier feucht ist, mein lieb' Schätzchen?«

Das liebe Schätzchen bejahte es, und nach einer leichten Entschuldigung gegen die Damen ließ Steinheim den Teppich unter seine Füße breiten und zog den Überrock an, wobei der Diener und seine Frau ihm behilflich waren. Dann fragte er nach William und Clara, von deren Anwesenheit in Baden er durch Eduard gehört hatte, während ihre Abreise ihm fremd war, denn auch er war schon längere Zeit auf der Reise und vom Hause entfernt. Er erkundigte sich, wem die Kinder gehörten, die seitwärts unter Obhut der Wärterinnen sichtbar waren. Man rief Richard herbei, ließ Lucy bringen und auch das hübsche, nun sauber gehaltene Kind der armen Frau, wobei die Verhältnisse derselben nochmals flüchtig besprochen wurden.

»Da sieht man«, sagte Steinheim, »wie tief das Gefühl für Standesunterschiede im Menschen begründet ist, das man einen leeren Wahn schilt. ›Doch dieser Wahn ist uns ins Herz gelegt, wer mag sich gern davon befreien‹, besonders wenn es darauf ankommt, eine Ehe zu schließen, in der vollkommene Gleichheit der Verhältnisse die erste Bedingung zum Glücke ist?«

Hätte Steinheim absichtlich eine Äußerung machen wollen, die für alle Anwesende gleich verletzend wäre, er hätte keine bessere finden können. Seine Frau und Frau von Meining waren beide wohl um zwanzig Jahre jünger als ihre Männer, und welch unangenehmen Eindruck Jenny und Walter durch die Behauptung empfingen, bedarf keiner Erwähnung. Steinheim fühlte aber davon nichts, da er die Verhältnisse der einzelnen Personen nicht kannte, und fuhr, immer nur mit sich beschäftigt, fort: »Es hat eine Zeit gegeben, in der ich auch an ein Verschmelzen der Stände, womöglich gar an eine gleichmäßige Verteilung der Güter dachte und, von Eduards Überspanntheit angesteckt, nur von Reformen und von Weltverbesserungen träumte. Der Traum war kindisch, aber göttlich schön; ich gestehe es, obgleich ich mich freue, daraus erwacht zu sein.«

»Und was hat denn plötzlich Ihre Sinnesänderung bewirkt?« fragte Walter.

»Herr Graf! ›Die Zeit kommt auch heran, wo wir was Gut's in Ruhe schmausen mögen‹«, antwortete der Gefragte, sich selbst Beifall lächelnd. »Dies Reformieren, Politisieren und dergleichen schickt sich nur für die Jugend, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hat. Zudem trieb der ewige Ärger, in dem solch ein Parteikampf uns hält, mir die Galle ins Blut, raubte mir den Schlaf und hätte mich zuletzt noch um Gesundheit und Leben gebracht, wenn mir nicht endlich die Erkenntnis gekommen wäre, daß es für mich Zeit sei, den Liberalismus andern zu überlassen und fortan nur mir, der Literatur, die Ansprüche an mich hat, und meiner kleinen Frau zu leben, die mit meinem Entschlusse sehr zufrieden ist. Gestehen Sie, Herr Graf! Das ist das Vernünftigste, was man tun kann. Sie, ein Edelmann aus altem Hause, werden es begreiflich finden, daß ich, ein nicht unbemittelter Bürger, das Haupt einer Familie, mich aus Grundsatz zur äußersten Rechten halte und entschieden gegen alles eifre, was gegen das Bestehende läuft. Der Unterschied der Stände ist ein heiliger und muß aufrechterhalten werden wie der des Besitzes und des Glaubens; und nur wenn das geschieht, kehrt sie wieder: die goldne Zeit, womit der Dichter uns zu schmeicheln pflegt.«

Steinheim glaubte, als er das Schweigen der Gesellschaft, das entzückt aufhorchende Gesichtchen seiner Frau bemerkte, des allgemeinen Beifalls sicher zu sein und warf sich mit der Bravour einer Sängerin, die eine große Arie glücklich beendet hat und nun des Bravo harrt, in seinem Stuhl zurück. Umsonst! Niemand rief ihm Beifall zu, die Frauen warfen einzelne Worte hin, und nur Walter sagte kurz: »Ich bekenne Ihnen, daß ich nicht Ihrer Meinung bin!« als ob er es nicht der Mühe wert hielt, sich in irgendeine nähere Erörterung einzulassen. Dann ging er schnell zu andern Dingen über, fragte Steinheim nach seinen Reisen, und bald war dieser auf ein neues Steckenpferd gebracht. Er sprach von den Theatern, die er besucht, von der Art, in welcher der berühmte Seidelmann, den alle kannten, den Nathan dargestellt hatte, und erklärte dieselbe für die vollendetste Schöpfung der Schauspielkunst.

»Der Kunst«, bemerkte Walter, »insofern sie der Natur entgegensieht, denn diese fehlt den Schöpfungen von Seidelmann mehr oder weniger fast immer.«

»›Wo fehlt's nicht irgendwo auf dieser Welt? Dem dies, dem das‹«, rezitierte Steinheim, »und Sie müssen doch eingestehen, daß Lessings Nathan ein Meisterwerk ist und daß jener Schauspieler die Absicht des Dichters immer vollkommen begreift und versinnlicht.«

»In diesem Fall bestimmt nicht«, sagte der Graf. »Mir scheint, was die Dichtung anbetrifft, Nathan der Weise überhaupt mehr eine großartige Allegorie, ein didaktisches Gedicht, als ein darstellbares Schauspiel zu sein. In dem Bestreben, die positiven Religionsunterschiede als unwesentlich darzustellen, sobald die innere, wahre Religion vorhanden, hat Lessing den einzelnen Repräsentanten der verschiedenen Konfessionen ihren nationalen und durch den Glauben bedingten Typus genommen, so daß Saladin, der Templer und Nathan, drei so ganz abweichende Charaktere, eine Art von protestantischer Familienähnlichkeit bekommen. Das tut dem Interesse Abbruch, welches man an ihnen nähme, wenn die Gegensätze schärfer gezeichnet wären. Dazu kommt noch, daß die Ruhe, mit der der Templer, der strenggläubige Christ, sich als den Abkömmling eines Muselmannes, den Bruder einer Jüdin erblickt, etwas Unwahres hat, wie der ganze Schluß, der nicht befriedigt – wenigstens auf der Bühne nicht. Das Schauspiel unterhält den Zuschauer nicht, so herrlich das Gedicht ist, und wird durch den Darsteller noch langweiliger.«

Madame Steinheim, die bis dahin fast kein Wort gesprochen, sondern sich mit den Kindern beschäftigt hatte, stimmte dem Grafen schüchtern bei.

»›Brutus! Auch du?‹« rief ihr Mann und drohte ihr mit dem Finger in einer Weise, die er für schalkhaft zu halten schien.

»Madame Steinheim hat recht!« bekräftigte Walter. »Gerade da liegt jenes Schauspielers Fehler in dieser Rolle. Er ist nicht der schlichte, klare Mann, der aus eigener Anschauung Gott, die Welt und den Menschen begriffen hat; nicht der anspruchslose Weise, der sich seiner hohen Weisheit kaum bewußt ist und sie für die natürlichste Erkenntnis hält – sondern ein selbstbewußter Gelehrter, der seine Sentenzen im Kathedertone vorträgt, weil er ihre wichtige Bedeutung fühlt. Deshalb stellt er sich jedesmal in Position, ehe er eine seiner moralischen Behauptungen spricht, und der Schein von Demut, von Schlichtheit, mit dem er sich umgibt, täuscht uns keinen Augenblick. Lessing dachte sich einen Erzvater in heiliger, erhabener Einfalt, und jener stellt uns einen Professor des neunzehnten Jahrhunderts vor, der wohl fühlt, daß er tausendmal gescheiter sei als sein Auditorium, sich aber hütet, es zu zeigen, weil er weltklug genug ist, niemand beleidigen zu wollen. Er erscheint feig und arrogant zugleich.«

Frau von Meining lächelte und stimmte dem Grafen bei, auch Jenny schien seine Ansicht zu teilen.

»Dergleichen Reden hören sich gut an, doch hat es allerlei Bedenkliches damit!« sagte Steinheim. »Vor allem vergessen Sie nicht, daß Nathan, der unterdrückte, der verachtete Jude, zu seinem Herrn und Unterdrücker spricht. Das mag die bescheidene, fast furchtsam Weise seines Auftretens bei aller seiner Selbstschätzung entschuldigen.«

»Im Gegenteil!« rief Jenny. »Wenn er es fühlt, daß er ein freier Mensch ist vor den Augen des Schöpfers, wenn er die Qual empfindet, unterdrückt, verachtet zu sein, so muß ihn das nur stolzer gegen seinen Unterdrücker machen. Was kann ein Mann wie Nathan fürchten? – Ketten und Gefängnis? Darüber erhebt ihn sein Selbstgefühl; – den Tod? Er hat sein Weib und seine Söhne sterben sehen und Gott getraut, er kann den Tod für sich nicht fürchten. Feigheit ist nur die Schwäche kleiner Seelen; wer sich wie Nathan frei empfindet, fürchtet niemand und fühlt sich selbst als verachteter Jude den Besten gleich!«

Sei es, daß Jenny durch Steinheims frühere Behauptung über die notwendige Gleichheit in der Ehe verstimmt worden war, oder daß der Ausdruck »verachteter Jude«, den er jetzt gebraucht, ihr in Walters Anwesenheit unangenehm gewesen, genug, sie fühlte einen Unmut in sich, der ihr fast Tränen erpreßte. Mit ungewohnter Heftigkeit hatte sie die letzten Worte gesprochen und stand dann schnell auf, um ihrem Vater entgegenzusehen. Sie fiel ihm um den Hals und küßte seine Hände: »Du weiser Mann, du armer verachteter Jude!«, sagte sie so leise, daß selbst ihr Vater die Worte nicht vernahm, der sich begrüßend zu Steinheim wandte, heiter nach Nachrichten aus der Heimat fragte und alle in die Unterhaltung verwickelte. Nur Jenny war in tiefes Nachdenken versunken. Walter bemerkte es und versuchte vergebens, in ihrer Seele zu lesen, als ein leichter Windstoß durch die Luft fuhr und Madame Steinheim unruhig auf ihren Gatten blickte. Er schlug den Kragen seines Überziehers in die Höhe und rief: »›Wie rast die Windsbraut durch die Luft! Mit welchen Schlägen trifft sie meinen Nacken!‹ Weißt du, Hannchen, ich fühle ein Schnupfenfieber im Anzuge, und wenn wir dies Baden-Baden nicht bald verlassen, stehe ich für nichts. Indes, wenn es dir hier gefällt...«

»Um Gottes willen, nein!«, sagte die kleine Frau ängstlich, und dann zu den Damen gewandt: »Es ist ganz prächtig in Baden, und ich hatte gehofft, hier das Badeleben kennenzulernen, von dem man mir immer erzählt; aber mein Mann hat so erstaunlich reizbare Nerven und meinte gleich, die Luft in diesem engen Tale würde ihm nicht zusagen. Darum wollte ich nur, wir wären schon heraus und in Ems, wo mein lieber Steinheim eine Kur zu brauchen denkt.«

Während dieser Rede war Steinheim aufgebrochen, hatte sich fest in seinen Rock geknöpft, seine kleine Frau an den Arm genommen und empfahl sich, Goethes Worte parodierend, also: »Wir aber, die wir hier nur Fremde sind und hier nur wenig Augenblicke weilten, wir kehren freudig und entzückt zurück, wenn wir euch in der Vaterstadt begrüßen. Ihr zählt uns zu den Euren und wir fühlen, welch einen Vorzug uns dies Los gewährt.«

Bald war das ungleiche Paar den Blicken entschwunden. Der Diener mit dem zusammengerollten Teppich folgte ihm in gemessener Entfernung auf dem Fuße nach.

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