Fanny Lewald
Jenny
Fanny Lewald

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Wie man verabredet hatte, sollte Jennys Taufe nun in wenig Tagen vollzogen werden, und die Abfassung des nötigen Glaubensbekenntnisses führte sie zu ernstlichem, erneuertem Nachdenken über diesen Punkt. Menschen von besonders lebhafter Phantasie ist es möglich und eigen, sich allmählich in einen bestimmten Ideenkreis hineinzudenken, ihn nach allen Richtungen hin mit Gründen auszustatten und sich so ein Gebäude zu errichten, das den Schein der Festigkeit und Vollendung an sich trägt, ohne irgendeine wirkliche Basis in der Überzeugung desjenigen zu haben, der es aufgeführt. Wie der Dichter, namentlich in seiner Jugend, die Geschöpfe seines Geistes kaum von den um ihn her lebenden Menschen zu unterscheiden vermag; wie Kinder sich spielend so fest in die erfundenen Verhältnisse ihrer Puppen hineindenken, daß sie unwillkürlich Erfundenes und Wirkliches vermischen und nicht mehr trennen können, so ging es in gewisser Art Jenny mit ihrer religiösen Erkenntnis. Nachdem sie vergebens versucht, die Symbole des Christentums mit dem Verstande zu erfassen, bemächtigte sich einst plötzlich ihre Einbildungskraft derselben, und sie wurde mit Überraschung gewahr, daß sie vieles sich denken und in seinen Folgen und in seiner Veranlassung ausmalen, ja es bis zu einer deutlichen Vorstellung in sich ausbilden könne, woran ihr der Glaube fehlte. Christus, der eingeborene, gekreuzigte und wiederauferstandene Sohn Gottes, wurde für sie zu einer so festen Gestalt in seinen Wundern, wie es ihr früher irgendein Gott des Olymps gewesen, wie es ihr noch jetzt Goethes göttlicher Mahadö war, der die sich opfernde Geliebte mit sich verklärt aus den Flammen emporhebt. So wie sie, trotz der historischen Kenntnis des mittelaltrigen Johann Faust, diesen gänzlich in der unsterblichen Gestalt des Goetheschen Faust verloren hatte, weil der letztere allein ihr durch die poetische Schönheit des Gedankens als wirklich erschien, so bildete sie aus dem Menschen Jesus, den die Apostel beschrieben, jenen mystischen Christus in sich aus, wie ihn die spätern christlichen Philosophen als Teil der Dreieinigkeit dachten. Sie wähnte, als diese Erscheinung in einer bestimmten Form in ihr lebte, endlich an Christus und seine Wunder zu glauben, in dem Sinne, den Reinhard verlangte, so daß sie mit vollem Vertrauen von sich zu behaupten wagte, jetzt sei ihr nicht bloß die christliche Moral, sondern die Menschwerdung Christi zu einer vollkommenen Wahrheit geworden. Wie bei allen Trugschlüssen stimmte plötzlich alles zu ihren Ideen, nachdem sie willkürlich einen Anfangspunkt für ihr System gefunden hatte, den sie als richtig annahm, obgleich er es in der Tat nicht war. Die sichere Ruhe, mit der sie sich hinterging, täuschte auch Reinhard und den sie unterrichtenden Pastor, obgleich der letztere über eine so unerwartete Veränderung der Ansichten bei seiner Schülerin sehr überrascht zu sein schien.

Dazu kam, daß seit einigen Wochen Clara und Eduard ihre Teilnahme in Anspruch nahmen, während zugleich die Entdeckung von Theresens Liebe für Reinhard und Erlaus unerwartetes Geständnis sie vielfach beschäftigt und ihre Gedanken von den Forschungen über das Christentum abgezogen hatten, bis der für die Taufe festgesetzte Termin herannahte und sie wieder darauf hinlenkte. Als sie nun jenes Glaubensbekenntnis niederschreiben wollte, das sich eigentlich streng an die im »Glauben« enthaltenen Dogmen binden mußte; als sie ihr Nachdenken fest auf den Punkt richtete, fing das Luftgebäude ihrer künstlichen Überzeugung zu schwanken an, und die Schöpfung einer regen Phantasie zerfloß vor dem festen Blick ihres Verstandes in ein Nichts. Sie bemerkte das mit Schrecken. Sie hatte Ruhe und Heiterkeit gewonnen durch die Täuschung, der sie sich unbewußt hingegeben; was frommte ihr eine Einsicht, die ihr beides schonungslos raubte, die sie in das alte Chaos des Zweifels stürzte und, wenn sie wahr sein sollte, sie von Reinhard trennte, weil ihr Übertritt zum Christentum bei diesen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Vergebens wollte sie die Vorstellungen in sich zurückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig und klar gewesen waren; es gelang ihr nicht. Ebenso wie es dem Erwachsenen nicht gelingt, jene Empfindung in sich hervorzuzaubern, die wir als Kinder alle haben, wenn wir im Wagen dahinfahrend wähnen, Bäume und Häuser an uns vorüberfliegen zu sehen, während wir stillestehn. Wenn uns erst einmal das Gegenteil unumstößlich bewiesen worden, kann selbst unser fester Wille das Trugbild nicht mehr erzeugen. Einen Moment lang mag man noch hoffen, sich gegen die Wahrheit zu verblenden, eine liebgewonnene Täuschung in sich festhalten zu können – die Wahrheit siegt doch immer. Es ist ihr Prüfstein, daß sie siegen muß, und auch Jenny sträubte sich jetzt vergebens gegen die Gewalt der Wahrheit.

Die Überzeugung, daß der Geist des Christentums die Hauptsache in demselben sei, war es allein, die ihr einen Ausweg für ihre Besorgnisse zeigte, einen Ausweg, vor dem ihre Redlichkeit sich scheute. Was aber sollte sie tun? Jetzt, nachdem sie unaufhörlich ihren Glauben an die christlichen Dogmen behauptet hatte, plötzlich erklären, sie habe sich getäuscht und sie könne nichts davon glauben? Das hätte sie eigentlich am liebsten getan, aber würde man nicht an der Unfreiwilligkeit dieser Täuschung zweifeln und annehmen, sie habe bis jetzt gegen ihre Ansicht etwas behauptet, um ihren Zweck zu erreichen, was zu beschwören ihr der Mut fehle? Vor Reinhard und ihrem Vater, vor Eduard in diesem Lichte zu erscheinen brachte sie zur Verzweiflung, abgesehen selbst von der Trennung von dem Geliebten, die unvermeidlich wurde, wenn sie sich weigerte, Christin zu werden. Sie schauderte vor der Wahl zwischen der Wahrheit und der Liebe; sie fühlte, daß alle sie bedauern, alle mit ihr leiden würden, falls sie sich wirklich entschließen müßte, den Geliebten ihrer Überzeugung zu opfern. Alle würden es beklagen, selbst Joseph, der sie ungern Christin werden sah, und Erlau, der sie liebte – alle – nur Therese nicht. Therese allein konnte sich darüber freuen, und wie sie dieselbe jetzt zu kennen glaubte, würde Therese eigensüchtig genug sein, auf den Trümmern von Jennys Liebesglück sich eifrig ihr bürgerliches Wohnhaus zu begründen. Das sollte und durfte aber nicht geschehen; Therese sollte nicht ernten, wo Jenny mit ihrem Herzblute gesät hatte, und wieder und wieder ging sie daran, alles durchzudenken, was ihr je von religiösen Ansichten bekannt geworden war, bis sie entschieden zu der Überzeugung gelangte, die Dogmen als eine Nebensache zu betrachten, und, um Reinhards Meinung zu schonen, endlich ein Glaubensbekenntnis zustandebrachte, das in Spitzfindigkeit dem ältesten Jesuiten Ehre gemacht hätte. Mit großem Geschick hatte sie vermieden, jener Lehren von der Kindschaft Christi, der Erlösung durch seinen Tod und der damit gegebenen Genugtuung zu erwähnen, ohne irgend Zweifel an ihrem Glauben bei Reinhard dadurch zu veranlassen, der sich ganz einverstanden mit dem Glaubensbekenntnisse erklärte, als Jenny es mit innerster Beschämung vorlegte. Des Geliebten Beifall, seine Freude über ihre Erkenntnis demütigten sie und machten sie vor sich selbst erröten. Er liebte sie, er freute sich über sie, während sie ihn in dem betrog, was ihm das Heiligste war. Sie sagte sich, daß sie Reinhards Vertrauen unwürdig hintergehe; sie hätte ihm gern die Wahrheit gestanden, wenn er nur gleich ihr dem Gedanken Raum gegeben hätte, daß man an Christus auf verschiedene Weise glauben und doch einander lieben und glücklich miteinander sein könne. Sie begriff es nicht, wie der sonst so freisinnige Mann nur in diesem einen Punkte von so unerbittlicher Strenge sein konnte. Was tat es ihrer Liebe oder ihrem häuslichen Glücke, wenn Jenny den Gekreuzigten für den ersten unter den Menschen statt für Gott hielt, solange sie nur seine Lehren befolgte? Indessen führten alle diese Gedanken sie doch nur immer auf den einen Punkt zurück, daß Reinhard es nimmer zugeben würde, sie Christin werden zu lassen, wenn sie ihm die Wahrheit bekenne: daß sie ihn verliere, wenn sie es nicht werde. Das machte sie verzagt, und diese Kämpfe ermüdeten sie so sehr, daß sie aus Schwäche Mut zu einer Trennung von dem Geliebten fühlte, wie Feiglinge zu Selbstmördern werden würden, wenn im Moment der Entscheidung nicht eben ihre Feigheit sie von der Tat zurückhielte.

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