Fanny Lewald
Jenny
Fanny Lewald

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An einem der Abende, welche Jennys Unterredung mit ihrer Mutter folgten, saßen Madame Meier, die Pfarrerin und Jenny in der Loge, welche ihr Vater für immer gemietet hatte, um die berühmte Giovanolla zum ersten Male als Susanna im Figaro auftreten zu sehen. Der erste Akt war vorüber, als Eduard mit Joseph und Hughes in der Loge erschien, den letztern seiner Familie vorzustellen. Nach den ersten Worten flüchtiger Begrüßung fing man von der Oper, von der heutigen Aufführung, von der Sängerin, von dem Texte des Figaro und endlich von Musik im allgemeinen zu sprechen an. Eduard tadelte das abwechselnde Sprechen und Singen in den Opern. »Es muß alles gesungen werden«, sagte er, »wenn es nicht einen sonderbaren Effekt machen soll, daß jemand im Momente höchster Aufregung sich plötzlich in der Rede unterbricht, ruhig ein paar Minuten wartet, bis die Einleitungstakte vorüber sind, und dann in demselben Affekte zu singen anfängt.«

»Du hast recht«, fiel Joseph ein, »erst lehre aber unsere Sänger so deutlich singen, daß man sie verstehen kann! Denn in hundert Fällen sind es die eingeschalteten Reden allein, aus denen man einigermaßen entnimmt, weshalb die Leute auf der Bühne sich eigentlich ereifern.«

»Dabei werden diese Zwischengespräche auch so unverzeihlich leicht behandelt, daß man sie nur mit Widerwillen hört«, fügte Hughes hinzu. »Ich muß dabei an einen der ersten Tenoristen Deutschlands denken, den ich einst in einer Residenz Ihres Vaterlandes hörte, und der, als er den Fra Diavolo in ganz erträglichem Deutsch gesungen hatte, beim Sprechen in ein so reines Schwäbisch verfiel, daß es den possenhaftesten Eindruck machte.«

»Mich dünkt«, wandte die Pfarrerin ein, »als sei in der Tat bei der Musik das Wort die Nebensache, da Instrumentalmusik und namentlich die Töne der Orgel denselben Eindruck auf das Gefühl zu machen vermögen als der Gesang.«

»Das möchte ich nicht behaupten«, meinte Joseph, »mich langweilt jedes Instrumentalkonzert, und zu einer Kirchenmusik zu gehen, würde mich keine Macht der Welt bewegen.«

»Weil du ein Verstandesmensch bist«, rief Jenny aus, immer bereit, die Ansicht der Pfarrerin zu teilen und Joseph zu widersprechen, »weil du die Empfindung anderer nicht kennst.«

»Oh! Deine Empfindungen und Gefühle zum Beispiel kenne ich am Ende doch«, warf Joseph neckend hin, aber mit einem Blick und einem Tone, der ihr das Blut zu Kopfe trieb.

Einen Augenblick schwieg sie bestürzt, dann nahm sie sich zusammen und sagte zu Hughes: »Glauben Sie nicht auch, daß die Musik der Worte entbehren könne?«

»Insofern bestimmt, als man gewiß sang, ehe man daran dachte, den Gesang mit der Sprache zu verbinden. Mir scheint es aber, als ob Musik und Dichtung so nahe zueinander gehören, daß man kaum sagen darf, die Dichtung könne der Musik oder diese der Dichtung entbehren. So vollkommen jede Kunst für sich allein zu bestehen und zu entzücken vermag, so gibt es doch gar viele Fälle, in denen erst beide zusammen, sich ergänzend, zu dem vollen Ganzen werden, das uns begeistert.«

»Ich will doch lieber den Tasso ohne Musik hören als den Figaro ohne Worte«, lachte Joseph.

»Was das nur wieder für ein Streit ist«, sagte Eduard, der bis dahin mit seiner Mutter gesprochen und an der Unterhaltung nicht teilgenommen hatte. »Wie oft hast du, Joseph, mit großem Vergnügen der Aufführung der Ouvertüre gerade des Figaro zweimal hintereinander zugehört. Merken Sie es sich aber, lieber Hughes, daß meine Schwester und mein Vetter es sich zur Aufgabe gemacht zu haben scheinen, einander zu widersprechen, wenn es irgend angeht.«

»Jenny fürchtet, wir könnten sonst Mangel an Unterhaltung haben, und der Stoff würde ihr fehlen«, unterbrach ihn Joseph, »übrigens bin ich in der Tat nicht sehr empfänglich für Musik, obgleich ich sie recht gern habe.«

»Du brauchst dich dessen nicht zu rühmen«, flüsterte Jenny dem Cousin ins Ohr, als in dem Augenblick die Introduction zum zweiten Akte begann: ›Who is not moved with rapture on sweet sounds, is fit for treason, stratagem and spoil, let him not be trusted.‹ –

Joseph war verletzt. Er verließ die Loge, die übrigen rückten leise die Stühle zurecht, um von dem Gesange der Sängerin nichts zu verlieren, und mit reinem, schönem Tone stimmte sie das ›heilige Quelle meiner Triebe‹ an. Jenny bog sich einen Moment über die Brüstung der Loge hinaus, um sich nach ihren Bekannten umzusehen, und ihr erster Blick fiel auf Reinhard, dessen Augen sehnsüchtig an ihr hingen.

Seit der letzten Stunde, seit einigen Tagen hatte sie ihn nicht gesehen, der es schwer genug über sich gewonnen hatte, sie zu meiden. Sie mußte wenigstens von ihm hören, von ihm sprechen, darum hatte seine Mutter die Einladung zum Theater erhalten. Als Madame Meier und Jenny vor der Türe der Pfarrerin vorfuhren, hatte Jenny das Herz vor Freude bei dem Gedanken gebebt, nun werde Reinhard, wie er pflegte, die Mutter hinuntergeleiten – aber er kam nicht. Nur das Dienstmädchen leuchtete vor, und der Meiersche Diener half der Matrone in den Wagen. Auf die Frage von Madame Meier, ob Herr Reinhard heute das Theater nicht auch besuche, hatte seine Mutter erwidert, ihr Sohn sei von dringenden Arbeiten so sehr in Anspruch genommen, daß er durchaus zu Hause bleiben müsse, und ihre Bitte, sich heute einmal Ruhe zu gönnen und den Figaro zu hören, habe er entschieden abgelehnt.

Damit war Jenny jede Hoffnung für den heutigen Abend genommen worden; sie hatte sich aber schwer genug in den Gedanken gefunden und konnte nun kaum einen Schrei freudiger Überraschung zurückhalten, als sie den Geliebten plötzlich vor sich sah, als das Bewußtsein in ihr auftauchte, er, der so unverwandt zu ihr emporblickte, könne nur ihretwegen gekommen sein.

Und so war es in der Tat. Er hatte zu arbeiten versucht, aber das Bild der Geliebten war zwischen ihn und die Arbeit getreten. Er sah sie in glänzender Toilette, die sie liebte und in der sie so schön war. Er sah, wie das bleiche, feine Köpfchen, von langen dunkeln Locken beschattet, alle Blicke auf sich zog. – Es litt ihn nicht am Schreibtische. Unruhig schritt er im Zimmer umher, er überlegte, daß Erlau, der Bewunderer der Giovanolla, daß Steinheim gewiß im Theater sein, daß Erlau vermutlich jetzt in der Loge neben Jenny sitzen würde. Was die Liebe allein nicht vermocht hatte, das errang die Eifersucht: er griff rasch nach Hut und Mantel und war eine Viertelstunde später im Theater.

Erleichtert atmete er auf, als er die Männer nicht in ihrer Nähe bemerkte. Heute, nachdem er sie zwei Tage nicht gesehen, in denen er unaufhörlich an sie gedacht und die heißeste Sehnsucht empfunden hatte, heute schien sie ihm schöner und begehrenswerter als je! Aber alles lag trennend zwischen ihm und ihr: Religion und Verhältnisse, und vor allem ihre Kälte. Ja, wenn er ihr mehr als nur ein Lehrer wäre, den sie hochhielt, wenn sie ein anderes Interesse für ihn hätte, wenn sie ihn liebte! Mit diesen Gedanken hingen seine Augen an ihr, als ihr Blick ihn traf, und das selige Entzücken in ihren Zügen, die glühende Röte, die ihr Gesicht urplötzlich überflogen, gaben ihm eine Antwort, die ihm das Herz aufwallen machte. Hunderte von Menschen waren jetzt zwischen ihm und der Geliebten, und das Geständnis, das er im Alleinsein ihr nie zu machen gewagt hatte, jetzt war es seinem Herzen entschlüpft; die Zuversicht zu Jennys Liebe, auf die er bisher nie gehofft, jetzt vor hundert Zeugen war sie ihm geworden.

Das ist das Geheimnis der Liebe, daß sie zwei Herzen verbindet zu einem und diese absondert unter Tausenden; daß das Gefühl der erwiderten Liebe nicht der Worte, kaum des Blickes bedarf, um sich deutlich zu machen. Es ist, als ob die Liebe wie ein flüchtiger Äther dem einen Herzen entströme, um das andere zu erfüllen und zu beleben. Aber nur das geliebte, geöffnete Herz empfindet das Lebenswehen, das für es ausgeströmt wird. Die übrigen berührt der Strom von jenseits nicht, und sie atmen ruhig die kalte Erdenluft, ohne zu ahnen, wie schnell und leicht und freudig zwei Herzen in ihrer Nähe klopfen.

Reinhard und Jenny waren allein miteinander, mitten in dem menschenvollen Raume. Nur für sie allein sang die Gräfin, nur um ihren stillen Gefühlen Worte zu geben, und wie zum Schwure blickten sie sich ernst und heilig in die Augen und wiederholten innerlich: ›Laß mich sterben, Gott der Liebe, oder lindre meinen Schmerz.‹

Jenny, dem Kindesalter noch sehr nahe, wurde froh wie ein Kind, nachdem die Gewalt des ersten Eindrucks sich etwas vermindert hatte. Sie war glücklich in dem Bewußtsein, geliebt zu werden; sie hätte es dem ganzen Publikum zurufen mögen: meinetwegen ist er in das Theater gekommen, und er liebt mich! Und doch hatte sie nicht den Mut, seiner Mutter zu sagen, daß er da sei und daß sie ihn sähe. Ihr ganzes Gesicht lächelte schelmisch, als Cherubin kläglich fragte: ›Sprecht, ist das Liebe, was hier so brennt?‹ Reinhard wandte kein Auge von der Geliebten, und ein ganzer Frühling von Glück und Wonne blühte in seinem Herzen auf, als Jenny bei der wiederholten Frage: ›Sprecht, ist das Liebe, was hier so brennt?‹ ihn mutwillig ansah und, ganz unmerklich für jeden andern, ihm ein freundliches ›ja‹ mit den schönen Augen zunickte.

Bald war das Finale des zweiten Aktes mit seinem rauschenden Prestissimo vorüber. Reinhard verließ seinen Platz und eilte, in die Nähe der Geliebten zu kommen. Es war ihm, als müsse er nun in einem Worte alles Leiden und Hoffen der letzten Monate vor ihr enthüllen, als müsse er sie an seine Brust schließen und ihr danken für das Glück, das sie ihm in dieser Stunde gegeben. Er hätte das zarte Mädchen auf seinem Arm forttragen mögen, sich durchkämpfend durch eine Welt von Hindernissen, um das süße Kleinod ganz allein zu besitzen, um es an einen Ort zu bringen, wo kein begehrender Blick diejenige träfe, die sein ein und alles war.

Und als er die Tür der Loge geöffnet hatte, als Jenny sich umwendete und er das Rauschen ihres seidenen Kleides hörte, da wußte er kein Wort zu sagen. Er sprach einige gleichgültige Dinge mit ihrer Mutter, hörte, wie seine Mutter sich freute, daß er noch so spät gekommen sei, und setzte sich schweigend neben Jenny nieder.

Sie fühlte das Peinliche seiner Lage, und auch sie war befangener als jemals. Endlich brachte sie stockend die Worte hervor: »Ich habe Herrn Reinhard schon beim Beginn des zweiten Aktes gesehen.«

»Und warum sagtest du das nicht gleich?« fragte die Mutter.

»Ich dachte – ich wußte nicht...« stotterte Jenny ganz verwirrt, bog sich zur Pfarrerin nieder, küßte ihr die Hand und bat, als ob sie ein Unrecht gutzumachen hätte: »Ach, sein Sie nicht böse!«

Beide Frauen nahmen das lächelnd für eine von Jennys Launen und gaben nicht weiter auf sie acht, als abermals der Vorhang emporrollte und das Duett zwischen Susanna und dem Grafen ertönte.

Für Reinhard sang der Graf nicht vergebens: ›So lang' hab' ich geschmachtet, ohn' Hoffnung Dich geliebt‹; er fühlte dabei die Trostlosigkeit der verflossenen Tage aufs neue, und Jenny konnte sie in dem beredten Ausdruck seines Auges lesen, ohne daß sie ein Wort miteinander zu sprechen brauchten. Sie fühlte mit Reinhard, als die Musik aufjubelte bei der Stelle: ›So atm' ich denn in vollen Zügen der Liebe, der Liebe süßes Glück‹, und beide versanken mit dem Gefühle seliger Gewißheit in jene Träumereien, die wohl jeder von uns gefühlt hat, wenn ein großes, heißersehntes Glück endlich von uns erreicht worden ist.

Die Oper war zu Ende, ehe das junge Paar es vermutete. Reinhard bot Madame Meier den Arm, während Jenny mit seiner Mutter ging. In der Vorhalle traf man Eduard mit Hughes und Erlau und verabredete, daß er die beiden Herren zum Tee mitbringen solle, zu dem Madame Meier auch die Pfarrerin und Reinhard einlud. Der letztere geleitete die Damen zu ihrem Wagen, stieg mit ihnen hinein, und als sie wenige Augenblicke darauf in das Portal des Meierschen Hauses einfuhren, als er Jenny die Hand zum Aussteigen bot und diese Hand in der seinen bebte, konnte er es sich nicht versagen, sie leise zu drücken und zu halten, während sie die ersten Stufen der Treppe hinaufstiegen. So hält man ein Vögelchen fest, das man eben gefangen hat, weil man sich des Besitzes bewußt werden will, weil man fürchtet, es könne uns entfliehen; aber scheu und leicht wie ein kleiner Vogel machte Jenny ihre Hand frei, ging eilig die Treppe hinauf und in das Tee-Zimmer, wohin Reinhard ihr folgte.

Der Vater brachte den Abend außer dem Hause zu; die Damen setzten sich also gleich an den Teetisch, und wenig Augenblicke später erschienen die erwarteten Herren.

»Nun, was sagen Sie heute zur Giovanolla?« fragte Erlau, sobald er Platz genommen hatte. »Sie müssen gestehen, reizender, anmutiger kann man nicht sein. Ich hätte nie geglaubt, daß es möglich sei, bei so großartiger Schönheit diesen Eindruck soubrettenhafter Koketterie zu machen, und sie hat sich heute in der Susanna als eine große Künstlerin gezeigt.«

»Ich denke«, erwiderte Madame Meier, »so gar viel Kunst bedarf sie nicht, um sich so darzustellen, als sie ist.«

»Im Gegenteil! Das ist ja die schwerste Aufgabe, sich selbst zu spielen; aber diese hat sie nicht zu lösen gehabt, denn kokett ist die Giovanolla nicht. Wahrhaftig nicht!« rief er, als die andern zu lachen anfingen. »Sie weiß, daß sie ein Ideal von Schönheit ist, und besitzt Großmut genug, sich den Augen der staunenden Mitwelt in all der Vollendung zeigen zu wollen, deren sie fähig ist. Ich mußte heute bei jeder ihrer Bewegungen meine Freude zurückhalten, um nicht fortwährend den Leuten zuzurufen, daß sie ein klassisches Modell vor Augen hätten. Oh! Ich habe im Geiste die wundervollsten Studien gemacht, und die Nachwelt soll sich noch am Bilde dieses Weibes erfreuen, wenn mein Talent mit meinem Willen gleichen Schritt hält.«

»Während du an die Nachwelt dachtest«, sagte Eduard, »überlegte ich, daß es wohl keine größere Torheit gibt, als die Jugend an solchen Darstellungen teilnehmen zu lassen, in denen die Sitten einer sittenlosen, verderbten Vorzeit so anmutig und so einschmeichelnd dargestellt werden.«

»Der Meinung bin ich auch«, bekräftigte Reinhard. »Ich will nicht leugnen, daß dieser Abend zu den schönsten meines Lebens gehört, so viel Freude hat er mir gebracht, und doch peinigte es mich, die Logen voll von jungen Damen zu sehen.«

»Damit tadeln Sie mich, lieber Reinhard!« unterbrach ihn Jennys Mutter. »Sie wollen mir sagen, was Eduard schon mitunter äußerte, daß wir Mütter mit der Erziehung unserer Töchter nicht sorgfältig genug zu Werke gehen. Ich glaube aber, daß es dem reinen Sinn eines unverdorbenen Mädchens eigen ist, an einem schönen Bilde nur die Schönheit und nicht gleich die Flecken und Fehler zu sehen, die es entstellen. Darum haben mein Mann und ich nie Bedenken getragen, unserer Tochter manches Buch in die Hände zu geben, sie an manchen Dingen teilnehmen zu lassen, die man ihrem Alter sonst vorenthält.«


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